Von Matthias Bosenick (17.07.2023)
Das ist Pech, wenn noch vor dem Beginn der Karriere gleich das erste auf Tape aufgenommene Album verschwindet und man erst mit dem zweiten Album debütieren kann. So wiederfuhr es Octopus, der Progrockband aus Frankfurt am Main, im Jahre 1974, knappe zwei Jahre nach Bandgründung. Immerhin wurde das Label Sky Records durch eine Kopie der Mondial-C60-Kassette auf die Band aufmerksam und nahm sie für drei ihrer vier Alben unter Vertrag. Sängerin Jennifer Kowa, damals Hensel, entdeckte das Tape 2022 unter einem Gewühl von Kassetten ihrer späteren Band The Radio wieder und überließ es Tom „The Perc“ Redecker zur Überarbeitung. Der veröffentlicht es nun als als Epilog nachgeschobenen Prolog der vier offiziellen Alben auf seinem Label Sireena, eben als „The Lost Tape“, und macht diese Mittsiebziger-BRD-Kraut-Prog-Perle fast 50 Jahre später wieder zugänglich.
Es ist heiß. So heiß. Irre heiß…
Von Onkel Rosebud (16.07.2023)
… und im Radio flötet die Moderatorin: „37 Grad. Das ist ein Supersommer!“ Und ich frage mich: Kann man das gute Wetter ernsthaft hassen?
Es ist früh am Morgen, die sogenannte tropische Nacht ist vorbei, es wird nicht regnen heute und es ist heiß. Schon jetzt. Schon wieder. So heiß. So irre heiß. Es ist die Hölle. Man steht also im Bad, hundsmüde, weil man sich in der Nacht hin und her gewälzt hat in einem feinen Film aus Schweiß und delirierenden Vorstellungen von einem besseren Leben in Grönland, und dann flötet eine Stimme aus dem Radio: „Guten Morgen, ach was, es ist ein perfekter Morgen, schon jetzt sind 29 Grad und bis zum Abend freuen wir uns auf 38 Grad. Das ist ein Supersommer!“
WeiterlesenSwans – The Beggar – Mute/Young God Records 2023
Von Matthias Bosenick (13.07.2023)
Steile These: Die Swans sind die einzige Band der Erde, die jemals nach einer Reunion künstlerisch relevante Musik veröffentlichte. Und das, ohne sich an Zeitgeiste anzubiedern oder billig die Erwartungen der Altfans zu erfüllen (okay, so ganz ohne Selbstzitat kommt auch „The Beggar“ nicht aus). Für das neue – nun: Industrial-Indie-Rock-Drone? – Album mit zwei Stunden Spielzeit reduziert die um Bandkopf Michael Gira teilweise neu zusammengetrommelte Truppe den Lärm, aber nicht die Gewalt: Brutalität schwingt immer mit, und sei es nur durch Giras nachdrücklichen, fordernden Gesang oder enervierende fragmentarische Wiederholungen. Und bei jeder neu sich windenden Drehung denkt man nur: Geil, weiter so, nochmal, und bitte die nächste Runde rückwärts! Und die Swans erfüllen den Wunsch. Und ergänzen ihn durch: Schönheit.
Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Meine Plattensammlung
Von Onkel Rosebud / Sascha Greinke
„Alle Künste streben die Musik an …“, habe ich neulich irgendwo gelesen. Muss ein kluger Mensch gewesen sein, der diese bedeutungsschweren Worte verfasst hat. Dieser Satz trifft für mich nur bedingt zu, da ich mir aus meinem kleinen Horizont gar keine abschließende Beurteilung zutraue. Film und Musik sind die Künste, die mich ansprechen, vereinnahmen, mir mehr geben, als vielleicht gesund ist. Da Film sehr abstrakt und dazu noch schwerer zu archivieren ist, bleibt die heimische Plattensammlung, um Reisen anzutreten. Reisen in fremde Länder, unbekannte und ach so bekannte Welten, oder, vielleicht am häufigsten, in die eigene Vergangenheit.
Car Crash Weather – Terra Nostra – Car Crash Weather 2023
Von Matthias Bosenick (12.07.2023)
Die Schweizer Car Crash Weather haben etwas mitzuteilen, und das, obwohl ihr zweites Album „Terra Nostra“ instrumental gehalten ist: Die nur noch vier Musiker aus Zürich greifen das Thema ihres 2018er Konzept-Debüts „Secondary Drowning“ zunächst auf, nämlich Migration und Flucht, und leiten es über in ein weiteres – und hörbar besser produziertes – Konzeptalbum rund um das Zusammenleben der Menschen miteinander und mit der Natur. Konzeptalbum, das deutet schon in die musikalische Richtung, und richtig, Car Crash Weather machen Progrock, aber nicht nur, sie bündeln alles, was ihnen gefällt und was dazu in der Lage ist, musikalisch Emotionen und Bilder auszudrücken, Postrock, Waverock, Postmetal, und versetzen es mit Synthies und Samples. Bei dem Thema ereilt die Hörenden nicht selten der Eindruck, die Musik sei nicht nur klagend, sondern auch anklagend.
Les Longs Adieux – Piccolo Dizionario Di Parole Fraintese – Ver.So Productions 2023
Von Matthias Bosenick (11.07.2023)
Tief in den Achtzigern verwurzelt ist das Quartett Les Longs Adieux aus Rom, das auf seinem Debütalbum „Piccolo Dizionario Di Parole Fraintese“ Goth Rock, New Wave und Post Punk zu einem tanzbaren Gruft-Retro-Album zusammenträgt. Kennt man alles schon, nur nicht auf Italienisch und mit einem Gesang, der so kraftvoll ist wie der von Keyboarderin Federica Garenna. Da dringt mehr Antonella Ruggiero von Matia Bazar durch als Siouxsie Sioux, so mit Vibrato und Nachdruck. Die Musik ihrer drei Mitspieler bedient elektronisch und analog die genannten Genres, eben mit einem italienischen Einschlag: Die mediterrane Sonne scheint, ja, nur scheint sie eher in Grautönen mit diversen irisierenden Effekten darin. Und der Gesang ist einfach mal der Knaller, der beraubt die Gruftmucke bei allen Stereotypen jeglicher Weinerlichkeit.
Frank Zappa – Funky Nothingness – Zappa Records 2023
Von Guido Dörheide (11.07.2023)
Mit Anfang 20 hatte ich mir vorgenommen, mich mit Jazz zu beschäftigen. Miles Davis war tot und ich hielt ihn für ein Arschloch, von Weather Report hatte ich noch nie gehört und – ganz ehrlich – von allen anderen Jazz-Musikern mit Ausnahme der Monday Evening Stompers, bei denen mein früherer Schulleiter spielte, auch noch nicht. Jazz war für mich Dixieland, und um meinen Horizont zu erweitern (und weil es mich irgendwie beeindruckt hatte, dass Robert Wyatt betrunken aus dem Fenster gefallen und seitdem querschnittsgelähmt ist, was ihn nicht davon abhielt, solo und mit Matching Mole diverse Klassiker rauszuhauen), begann ich mich mit Soft Machine zu beschäftigen, die mir erstmal knapp 30 Jahre lang zu sperrig erschienen, bis ich sie endlich ins Herz schloss.
Um Zappa (den meine Zeitgenossen konsequent „Zappa“ aussprechen) habe ich eh immer einen Bogen gemacht. Zu versponnen, der Typ, obwohl „Bobby Brown Goes Down“ schon immer toll war, bevor ich die 20 erreichte und mir später auch von der Aussage her den Zappa recht sympathisch machte.
WeiterlesenRaymond Macherot – Anatol gegen die schwarzen Ratten (Chlorophylle contre let rats verts/Chlorophylle et les conspirateurs) – Carlsen 2023
Von Matthias Bosenick (10.07.2023)
Nachdem die Comics von Raymond Macherot ohnehin erst verspätet und dann noch stiefmütterlich in Deutschland publiziert wurden, besinnt sich der Carlsen-Verlag jetzt des belgischen Comiczeichners mit der klaren Linie und bringt dessen Debütalbum inklusive Fortsetzung um den anthropomorphen Anti-Disney-Gartenschläfer (keine Brillenmaus!) Anatol (im Original Chlorophylle) neu getextet (der Hinweis darauf fehlt komplett, sieht man davon ab, dass mit Marcel Le Comte der gegenwärtige Carlsen-Standard-Übersetzer erwähnt ist und nicht Uta Benz-Lindenau), mit einigen Ergänzungen und als Hardcover abermals nach 1983 in den Handel, jetzt mit „gegen“ statt „und“ im Titel. Man spürt diesem Doppelband an, dass der Zweite Weltkrieg 1956 noch tief saß; nicht, dass es hier explizit gegen Nazis geht, aber der Überfall einer Rattenpopulation auf ein friedliches Tal voller lieblicher Kleintiere, die in den Widerstand gezwungen werden, legt gewisse Assoziationen nahe. Diese Neuauflage darf der Anlass sein, dieses Mal mehr als nur sieben Bände in fünf Büchern und auch nur mehr als diese Serie herauszubringen; „Sibylline“, „Mirliton“, „Isabelle“ und „Chaminou“ drängen sich noch auf, um „Percy Pickwick“ hingegen braucht man sich ja keine Sorgen zu machen.
Once a Banshee, always a Banshee! – Depeche Mode – Live im Olympiastadion Berlin, 9. Juli 2023
Von Onkel Rosebud (09.07.2023)
Während meiner Adoleszenz in der DDR gab es eigentlich nur zwei Entscheidungen zu fällen: Erstens, Mitglied der Jung- und Thälmannpioniere, der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, der Freien Deutschen Jugend und der Gesellschaft für Sport und Technik zu werden oder vorzugeben, an Gott zu glauben, um so um den Wehrdienst drum rumzukommen. Und zweitens, Depeche Mode oder The Cure. Die Antwort auf die erstere Frage lasse ich mal aus, aber letztere kann ich bis heute glockenklar beantworten: Songs wie „Play For Today“, „A Forest“ und „Blasphemous Rumours“ haben mein Leben verändert, aber unterm Strich hat Robert Smith einen Ein-Tor-Vorsprung vor Team Gore/Gahan/Fletcher.
WeiterlesenWas meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Stellen Sie sich vor …
Von Onkel Rosebud / Norman Sharp
Stellen Sie sich vor …
Also, im Sinne von: Führen Sie sich geistig vor Augen, meine ich. Versuchen Sie, sich vorzustellen, es sei November. Ein trüber Sonntagnachmittag tröpfelt träge dahin. Sie hängen mangels eines schickeren Planes bei irgendeinem Ihrer Kumpels herum. Nichts ist angesagt, und folglich tut sich auch nichts. Sie fühlen sich, als könnten Sie eher keine Bäume ausreißen. Nicht allzu schwer, sich das vorzustellen, oder?
Verlegen Sie die Szenerie aus Gründen größerer Abstraktion in eine andere Zeit, sagen wir, tief ins Ostdeutschland der Achtziger – das heißt, streichen Sie alle schrillen und die meisten bunten Farbtöne. Lassen Sie ein wenig Putz bröckeln und morsches Mauerwerk darunter hervorscheinen. Als Hintergrund ziehen Sie am besten einen fahlgrauen Packpapierhimmel auf, durchschnitten von kahlem, klammem Geäst.
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