René Seim – Einen Tisch in Falten schlagen – Windlustverlag 2022

Von Matthias Bosenick (07.10.2022)

Lyrik, auf ewig eine Literaturgattung, die sich dem Rezensenten nicht einmal ansatzweise umfassend erschließen wird. Ich kann mich also Lyrik nur distanziert und behutsam nähern, mit dem Blick des Uneingeweihten, und Dichter René Seim erweist mir trotzdem einmal mehr die Ehre, an seiner Lyrik teilhaben zu dürfen. „Einen Tisch in Falten schlagen“ heißt sein neues Buch, das er im eigenen Windlustverlag veröffentlicht; der vierte Gedichtband des umtriebigen Dresdners, der auch Schallplatten herausbringt, Radio macht, auflegt, Lesebühnen veranstaltet und wer weiß was noch. Es mag an der der Lektüre vorausgegangenen Begegnung mit dem Dichter in der Äußeren Neustadt liegen, dass ich zu diesem Buch einen besseren Zugang finde, sehr oft laut loslache, häufig mitfühlen nicke, hinter politischen Statements einen inneren Haken setze, an Seims Sprache meine Freude habe, also viel unmittelbarer ein Gefühl dafür bekomme, ihn zu verstehen, als zuvor, und doch bleibt ein Rest Unverständnis erhalten. Das wäre ja auch zu viel erwartet, wenn der Vorhang plötzlich komplett zur Seite geschoben wäre, oder? Meine Freude an diesem Buch ist ja trotzdem immens!

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Till Burgwächter & Hardy Crueger – Braunschweig‘sche Verbrechen – Verlag Andreas Reiffer 2022

Von Matthias Bosenick (20.09.2022)

Endlich! Endlich bringt das dreiköpfige Duo infernale die Fortsetzung auf den Markt! Nach dem Aufmerksamkeit garantierenden „Braunschweig‘sche Weihnacht“ aus dem Prä-Corona-Jahr 2019 widmen sich Till Burgwächter und Hardy Crueger nun einem zeitgemäßen Trendthema: True Crime, begangen an der Oker. Wer die Arbeiten der beiden Autoren kennt, weiß, dass sie an diese Aufgabe nicht im gewöhnlichen Stil herangehen: Burgwächter betrachtet seine Ganoven mit lakonischem Zynismus, Crueger seine Protagonisten mit empathischer Akkuratesse. Diese Mischung macht‘s, denn nach den emotional aufwühlenden Crueger-Beiträgen freut man sich jeweils auf einige Seiten fundierten Lachens mit Burgwächter. Und was die beiden alles rund um die Umflutgräben ausgraben: Neben schockierend absichtlichen und irritierend versehentlichen Bluttaten auch gravierende bis scheinbar banale Delikte aus Fußball, (Bruch-)Straßenverkehr und Telefonterror. Man hört die beiden erprobten Autoren bei der Lektüre schon selbst lesen und freut sich auf die Live-Umsetzung. Und die Fortsetzung: Packt den Illustratoren Karsten Weyershausen bitte ein drittes Mal mit ein und bringt ein weiteres Thema in eurem Sound als Buch heraus!

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Marc Halupczok & Sarah Quast – Lost & Dark Places Braunschweig – Bruckmann 2022

Von Matthias Bosenick (06.07.2022)

Braunschweig ist dark und lost? Ganz gewiss, und einen nicht geringen Anteil daran hat – wie an viel zu vielen Orten in Europa – die Nazizeit. Marc Halupczok findet dafür erfreulich deutliche Worte, wie er ohnehin zu Deutlichkeit stets neigt, obschon er sich in dieser Auflistung von 33 verwunschenen Flecken im Braunschweiger Land etwas diplomatischer zeigt, als wenn er als Till Burgwächter agiert. Herbstlich-düstere Fotos liefert Sarah Quast dazu; das Wort „kongenial“ möchte hier dennoch vermieden werden, weil es nervt. Halupczok nimmt den Lesenden enorme Recherchearbeit ab und schildert zusätzlich persönliches Erleben, wenn er sich an Kirchen, in Ruinen, auf Friedhöfen oder auch in Tiefgaragen mit Legenden, Spukgeschichten und realem Horror vom Mittelalter bis heute auseinandersetzt. Klassische „Lost Places“, also etwa überwucherte halbverfallene Villen im Wald oder so etwas, hat diese Gegend nur spärlich zu bieten, spannende Geschichten dafür umso mehr. Auch für Einheimische mehr als informativ – und dank Halupczoks lakonischen Schreibstils insbesondere unterhaltsam.

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Ben Aaronovitch – Die Silberkammer in der Chancery Lane (Amongst Our Weapons) – dtv 2022

Von Matthias Bosenick (27.06.2022)

Was macht man, wenn eine Buchreihe erfolgreich ist und man gesichert weiß, dass Neuerscheinungen von fanatischen Fantasy-Fans sofort erworben werden? Klar: die Bücher teurer. Heißt zum zweiten Mal in der „Die Flüsse von London“-Reihe von Ben Aaronovitch, dass der deutsche Verlag dtv das Format sinnlos aufbläht und dieses Mal dafür sogar satte sechs Euro mehr pro Buch einstreicht. Genau so sinnfrei ist der Versuch, die deutschen Titel einer Corporate Identity zu unterwerfen, die sie im Original nicht haben – offenbar traut man seiner Leserschaft nicht den popkulturellen Horizont zu, den der Autor hat, denn „Amongst Our Weapons“ spielt, wie so viele Stellen im Buch, allen voran die Zwischenüberschriften, auf Monty Pythons Flying Circus an: „Nobody expects the Spanish Inquisition!“, mit direktem Bezug zum Inhalt dieser neunten Geschichte der Urban-Fantasy-Reihe um Zauberpolizist Peter Grant. Aaronovitch schreibt hier wieder ausufernd, und doch konzentrierter, spannend, humorvoll, sprachlich gewandt und einfallsreich über einen Racheengel, der direkt aus der Epoche der Spanischen Inquisition stammt. Und im Buch werden Monty Python nicht einmal überhaupt erwähnt.

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Marc Domin/Jonas Kolb – Kollision zweier Apostelschädel – Domin/Kolb 2021

Von Matthias Bosenick (15.03.2022)

Kein leichter Happen, den einem die beiden musizierenden Autoren oder schreibenden Musiker Marc Domin und Jonas Kolb da vorwerfen. Einmal formal: Reisebericht, Briefroman, Tagebuchroman, Gedicht und Collage bilden das Gesamtwerk „Kollision zweier Apostelschädel“. Und zweitens inhaltlich: Zwischen Horror, Blutbad und Porno siedeln sie die Geschichte von zwei Forschern an, die 1880 die titelgebenden Reliquien unschädlich (ha, ha) machen wollen – und nutzen dies selbstredend zur gepflegten Provokation. Letztlich ist klar: Mit der „Kollision zweier Apostelschädel“ ist das Buch selbst gemeint, das aus dem nämlichen Vorgang hervorging, denn bei diesen Dickköpfen handelt es sich natürlich um die der Autoren.

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Stefan Thoben – Ein Traum in bunt. Entdeckung Ruhrgebiet – Verlag Andreas Reiffer 2021

Von Matthias Bosenick (17.05.2021)

Wenn man als Außenstehender auch nur leicht zum Ruhrgebiet in Liebe entflammt ist, will man aus diesem Buch nie mehr auftauchen. Aus einer ausgedehnten Radtour machte Stefan Thoben, Journalist aus Hannover, dieses üppig bebilderte Erlebnis- und Sachbuch, in dem er einen Blick auf das Ruhrgebiet wirft, der weder touristisch-euphorisch noch stereotyp daherkommt, sondern vermittels dessen er mit einer persönlichen Wahrnehmung und fachkundiger Recherche seine Eindrücke analysiert. Vollständig kann diese Betrachtung nicht sein, das weiß der Autor auch, und als Leitfaden für oberflächliche Reisende ist das Buch wohl zu herausfordernd; allen anderen ist es wahlweise ein Ersatz für den überfälligen Besuch oder die willkommene Aufforderung zu einem solchen. Das Wort Liebeserklärung drängt sich bei der Betrachtung des Buches einfach auf.

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Tom Liwa – Der, den mein Freund kannte – Tom Liwa 2020

Von Matthias Bosenick (29.12.2020)

Auf Deutsch singen und Klischees umschiffen, das war mal möglich, in den Neunzigern, und von denen, die damals diese Wege einschlugen, ist Tom Liwa einer der Überlebenden, einer, der sich konstant entwickelte, vom Indierock über die Verwandtschaft zur Hamburger Schule zu Singer-Songwriter ohne Gejammer, esoterischer Kunstmusik, Heilungsmusik und – nun: Was macht Tom Liwa eigentlich heute? Er reflektiert über den Tod, musikalisch zurückgenommen und experimentell wie lang nicht, textlich enigmatisch wie immer. „Der, den mein Freund kannte“ ist eine Herbstplatte, die von Tod und Abschied handelt und also auch vom Leben, und der begleitend „Das Buch Tom“ mit Gedichten und Kunst zur Seite steht.

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Spezial: René Seim + Windlustverlag

Von Matthias Bosenick (17.12.2020)

Für den Rezensenten ist es ein schwieriges Terrain: Lyrik, Gedichte, Poesie, da fehlt ihm im allgemein und grundsätzlich der Zugang. Nun bildet dies jedoch den Schwerpunkt im Schaffen des Dresdener Autoren und Verlegers René Seim. Eine Betrachtung seines Oeuvres aus der Position des Unbeleckten kann daher nur viel zu weit am Wesen der Dinge vorbeigehen. Versucht sei eine Annäherung an drei Bücher des Multitalents, der nicht nur als Autor und Verleger (Windlustverlag), sondern auch als DJ Cramér („Wildblumenblues“, „Wildes Parfum“), Fotograf und Labelbetreiber (Head Perfume Records) tätig ist: „Bunte Hunde, wilde Vögel“, „Spielereien einer vielschrötigen Flöte“ und „Fliegende Fenster“, allesamt erschienen im eigenen Windlustverlag.

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Dan Yell – Hirnfick, Scheusal & ich – Dan Yell 2020

Von Matthias Bosenick (18.11.2020)

Nach der Lektüre dieses Büchleins hätte der Rezensent dem Autoren davon abgeraten, es zu veröffentlichen. In „Hirnfick, Scheusal & ich“ macht Dan Yell seine Sicht auf eine toxische Beziehung zu einem anderen Punkmusiker öffentlich und legt sein Inneres offen. Für ihn ist es Verarbeitung, für den Genannten womöglich Provokation sowie für den Leser eine Art Brief mit der Nacherzählung der Geschichte und einer von sehr vielen Varianten, mit so etwas umzugehen – jedoch nicht in aller Augen die beste. Als psychologisches Lehrstück für die subjektive Auseinandersetzung mit Mobbing ist es passabel, als Hilfestellung nur bedingt. Dem Büchlein liegt wahlweise eine CD oder ein Tape mit der Punk- und Wave-Musik bei, die im Text Erwähnung findet.

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