Von Matthias Bosenick (21.06.2023)
Da denkt man gerade noch, man habe ja lang nichts von Daniel Bressanutti gehört, dessen letztes Album „Shades“ als Daniel.B.Prothese im Jahr 2021 erschien, nachdem er davor im gefühlten Wochentakt unter diversen Aliassen neue Musik herauswarf, NothingButNoise, 99.9, Daniel.B., db2, Prothèse, und ja, sogar Front 242 waren einmal wieder dabei. Und dann so lang Pause, das kennt man gar nicht. Kaum fertig gedacht, ereilt einen die Information, der nun 69-Jährige habe in dieser Off-Zeit unter dem Alias MotherXaoc gleich sechs Alben erstellt, die jetzt nach und nach auf dem Label db2fluctuation erscheinen, das er mit seinem Front-242-Mitgründer Dirk Bergen betreibt. „Alles und Nichts“ legt den Verdacht nahe, Bressanutti habe sich auf eine Zeitreise begeben und die Gegend zwischen Düsseldorf und Berlin Ende der Siebziger erkundet: Krautrock, Ambient nach Berliner Schule, progressive Musik zwischen Elektronik und analogen Instrumenten, nachempfunden mit den Mitteln der Gegenwart. Mehr alles als nichts, und trotz seiner Retroseligkeit durchaus Neu!
Judith Parts – Meadowsweet – Judith Parts 2023
Von Matthias Bosenick (20.06.2023)
Eine Musik wie diese kann nur aus Skandinavien kommen. Von Kopenhagen aus produziert die Estin Judith Parts dieser Tage ihre fragilen Stücke, mit einem elfengleichen klaren Gesang und zurückhaltenden Electro-Experimenten. Erinnerungen an Under Byen, Jomi Massage, Stina Nordenstam und Björk winken aus der Nähe. Nicht nur karge Elektronik und Field Recordings, auch klassische Instrumente wie Cello und Trompete setzt Parts, Ex-Sängerin der estnischen Band Nebula Flowers, ein – nicht alles spielt sie selbst, sie hat Freunde – und generiert daraus ein Debüt-Album, das vordergründig zerbrechlich wirkt, teilweise Anflüge von Soundtracks zu nordischen Filmdramen trägt und in seiner Tiefe sehr experimentierfreudig und minimalistisch vielschichtig ist.
Afsky – Om hundrede år – Vendetta 2023
Von Matthias Bosenick (19.06.2023)
Ole Luk hat keine Angst davor, Akustikgitarren in den Black Metal einzubauen. Schön auf die Zwölf gibt’s natürlich trotzdem, auch wenn er sich unter dem Ein-Personen-Solo-Alias Afsky mit einem Bein in den postmodernen Post-Black-Metal-Gefilden herumtreibt; das andere hat er in der Tradition verankert. Heißt, dass er sehr wohl die Blastbeats und das Gekeife beherrscht, aber das Tempo insgesamt gedrosselt hält und mit den elektrifizierten Gitarren atmosphärische Flächen generiert und damit untermauert, dass seine Variante von Black Metal ausgesprochen emotional behaftet ist. Dazu trägt bei, dass Luk ein versiertes Händchen für Harmonien hat, die er in seinen Lärm kleidet, den er wiederum mit komplett zurückgenommenen Sequenzen unterbricht. „Om hundrede år“ ist tiefdunkel und in seiner heavy Verzweiflung wunderschön. Der Vorgänger „Ofte jeg drømmer mig død“ legte die Qualitätsmarke für grenzüberschreitenden Black Metal ja sehr hoch, Afskys drittes Album reißt sie gottlob nicht ein.
The Wedding Present – 24 Songs – Scopitones 2023
Von Matthias Bosenick (15.06.2023)
Man wird nicht jünger, aber man bleibt Jünger von The Wedding Present: Die Schrammel-Indierock-Könige griffen 2022 ein Konzept von dreißig Jahren zuvor auf und veröffentlichten jeden Monat eine Single mit je zwei neuen Songs, die sie nun, wie weiland auf „Hitparade“, als „24 Songs“ zusammenfassen. Diese Doppel-CD – in der Deluxe-Buch-Version mit DVD – birgt nun sogar 29 Songs in über zwei Stunden, die das Portfolio der heutigen, in dieser Form keine fünf Jahre alten The Wedding Present abdecken, also immer noch mal schnellen, mal entschleunigten Indierock mit dröhnenden Gitarren, angedeutetem Geschrammel und catchy Melodien, aber auch zarte Abwandlungen davon. Und einen Remix von den Utah Saints. Anders als bei „Hitparade 1“ und „Hitparade 2“ ist hier allerdings die Reihenfolge der Singles sowie deren A- und B-Seiten komplett durcheinander, Weihnachten ist jetzt mitten im Jahr, die sehr wenigen Coversongs sind nicht gebündelt. Macht nix. Es gibt gute neue The-Wedding-Present-Musik!
Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Wahrer Glaube
Von Onkel Rosebud / Axel Mewes
Eine Freundin hat mir mal von ihrer Beobachtung erzählt, dass Männer – anders als Frauen – diese eine große Liebe hätten. Die sie bis zum Ende ihrer Tage im Herzen tragen, ganz gleich, was in ihrem Leben passiert. Sie hat recht. Wobei es bei mir und der Musik ein bisschen komplizierter ist.
Das erste Kribbeln in den Trommelfellen spürte ich im Alter von 10 Jahren. Meine große Schwester besaß einen Kassettenrekorder; irgendwann öffnete sich ihre Zimmertür, hinter der „Equinoxe“ von Jean-Michel Jarre lief. Ein andermal nuschelte Udo Lindenberg durchs Sternholzimitat, „Live Rust“ von Neil Young war gerade erschienen, Mark Knopfler zupfte die „Sultans Of Swing“. Anfänge des musikalischen Jugendlebens, während samstags nach der Schule Mutter die Fenster zu Lord Knuds „Evergreens à Go Go“ vom RIAS Berlin putzte. Was auch irgendwie fetzte, weil die Frau, der ich für den Rest meines Lebens den Satz „Fürs Tanzen hätte ich das Vaterland verraten!“ zuschreiben werde, die Gassenhauer lauthals fröhlich mitsang und in meiner Erinnerung samstags IMMER die Sonne schien. Wochenend‘ und Sonnenschein. Und Musik.
WeiterlesenPhillip Boa And The Voodooclub – Boaphenia 30 – Capitol/Universal 2023
Von Matthias Bosenick (14.06.2023)
Schon wieder versteckt Phillip Boa ein neues Album hinter alter Musik, schon wieder veröffentlicht er „Boaphenia“ mit Bonus, schon wieder fühlt man sich als Allessammler abgezockt. Zehn neue Songs spielte Boa mit seinem gegenwärtigen Voodooclub ein, nennt das so entstandene Album „The Porcelain Files“ und verkauft es ausschließlich an die Leute, die die erweiterte Neuauflage seines 30 Jahre alten Indiepoprock-Hit-Albums „Boaphenia“ erwerben. Heißt: Man gibt zwischen 20 und fast 70 Euro dafür aus, je nach Format, Doppel-CD oder dicke Box mit noch mehr Bonus. Im Geiste von und auf Basis verworfener „Boaphenia“-Songs sei das neue Material entstanden, inklusive Pias gesampelter Stimme, und diesen Hinweis hätte es eigentlich nicht gebraucht, es ist Phillip-Boa-Musik, sie ist großartig – aber längst nicht mehr so räudig wie die seines halb so alten Alter Egos. Abermals reichen sich bei Boa frech und grandios die Hand. Man möchte einen anderen Ruhrpottmusiker zitieren: Was soll das?
Fiesta Alba – Fiesta Alba EP – Neontoaster Multimedia Dept. 2023
Von Matthias Bosenick (13.06.2023)
Ein wahres Feuerwerk an Stilen vermengt das anonym maskierte italienische Quartett mit dem spanischen Namen Fiesta Alba auf seiner selbstbetitelten Debüt-EP. Die fünf Tracks in 19 Minuten sind grenzenlos und explosiv, dabei erstaunlich kohärent – und das hochenergetische Zappeln fördernd. Die „Fiesta Alba EP“ ist die beste Lösung für die Problematik, dass es im Jahre 2023 einfach schon alles gibt: Crossover, alles zusammenrühren, was da ist, und daraus etwas Neues, Originäres kreieren. Und das gelingt hier, trotz dezent wiedererkennbarer Quellen, auf der Höhe der Zeit, und nicht als Retro-Aufguss. Was sicherlich auch an den vielen Gästen liegt, die diese EP mitgestalten. Ein Fest der Morgendämmerung – so geht das!
WeiterlesenThe Sun Or The Moon – Andromeda – Tonzonen Records 2023
Von Matthias Bosenick (09.06.2023)
Die Frage, ob The Sun Or The Moon das Ziel sein sollen, beantwortet das gleichnamige Quartett ausweichend weiterführend mit „Andromeda“. Wer jetzt nicht sofort an Spacerock und psychedelische Musik denkt, kennt die Chiffres nicht, und die vier Musikerinnen und Musiker aus der Gegend um Mainz kennen sie alle – und noch viel mehr, da wird der Trip nämlich spannend: Zwar denken die vier den Krautrock weiter und unternehmen Ausflüge ins Psychedelische und Spacige, doch kennen sie noch einige hörenswerte Umwege, die sie auf ihrer unendlichen Reise mitnehmen, ins Elektronisch-Tanzbare etwa, in rockigere Gefilde, gern auch progressiv ausgerichtet, oder in den Ambient. Nicht so offensichtlich jedoch in den Gothic Rock, das waren The Sun And The Moon, die Mark Burgess nach dem ersten Aus seiner Band The Chameleons Ende der Achtziger kurzzeitig ins Leben rief. Man darf sich „Andromeda“ jedenfalls als Reiseziel setzen, der Trip ist die Reise wert!
The Upland Band – Living In Paradise – Kapitän Platte 2023
Von Matthias Bosenick (08.06.2023)
The Upland Band ist keine, sondern besteht ausschließlich aus Michael Beckett aus Hillentrup in Ostwestfalen-Lippe. Sein Debütalbum unter diesem Alias ist ein kurzes Vergnügen, aber es ist ein Vergnügen: Eine knappe halbe Stunde angepsychter Indiepoprock, aus dem Spiritualized, Yo La Tengo und die Beatles hervorschimmern. Entsprechend vielseitig gestaltet Beckett dieses Album, das in neun Stücken viele Stimmungen abbildet, sanft instrumentiert und gesungen zumeist, gern mit nachdrücklich fuzzender Gitarre drin, und das auch noch dargeboten wie von einer ganzen Band, der Mann muss Universen im Kopf haben.
Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Die Beschriftung der Menschen
Von Onkel Rosebud / Jörg Mewes
Mit Essen spielt man nicht. Mit Feuer auch nicht, denn es bestünde die Möglichkeit, sich nicht nur die Finger zu verbrennen. Solcherlei Küchen- und Lebensratschläge dürften jeden Heranwachsenden in den frühen Jahren seines idealerweise unbeschwert bewerkstelligten Daseins begleitet haben. Kürzlich war es wieder so weit. Eine Band, deren Name nicht genannt werden darf, gastierte in unserer Stadt, um ungestraft der akustischen Umweltverschmutzung zu frönen. Wohnortsbedingt war es mir nicht vergönnt, um den Auftrittsort einen angemessen großen Bogen zu machen. Das zuströmende Publikum versprühte den Charme der sonst zweiwöchig zu ebendiesem Veranstaltungsort Pilgernden, denen ihre fragwürdige Auffassung von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit im Sinne von Vereinheitlichung erstrebenswert erscheint. Der urinfarbende Anteil der visuellen Peinigung entfiel jedoch – die Meute floss als schwarze Brühe daher.
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