Von Matthias Bosenick (30.08.2024)
Hier ist die Methode, wie der Film erstellt wurde, aufregender als der Film selbst, leider: Das Videospiele-Grafik-Tool Unreal Engine ist das Werkzeug, mit dem Regisseur Ishan Shukla seinen Animationsfilm „Schirkoa: In Lies We Trust“ produzierte. Das sparte Kosten und Team, wenn auch nicht Zeit. Dafür Drehbuch: Es fällt schwer, der Motivation der Hauptfigur in diesem – klar – dystopischen SciFi-Film zu folgen, oftmals springt die Darstellung der Geschehnisse abrupt und womöglich basiert alles auf irgendwelchen Indischen spirituellen Kulturbesonderheiten, die man als Nichtinder nicht erklärt bekommt, was das Verständnis nicht vereinfacht. Vielleicht ist das Drehbuch aber auch einfach nur sehr unausgegoren. Das machen die interessanten Bilder leider auch nicht wett.
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Versuch einer Rekonstruktion: Im titelgebenden düsteren Refugium Schirkoa sind alle Bewohner von der phantomartigen autokratischen Instanz Lord O‘ dazu gezwungen, mit Papiertüten über dem Kopf zu leben, auch im Privaten; niemand hat je sein eigenes Gesicht gesehen. Sie bekommen Nummern zugeteilt, die ihrer Wohnadresse entsprechen. 197A und 242B sind eine Art Paar. Er, 197A, ist offenbar Zeitungszusteller, vielleicht aber auch Politiker, oder beides, sie, 242B, lebt im Blue District, dem Vergnügungsviertel, möglicherweise eigentlich Rotlicht. Es geht das Gerücht von Konthaqa um, einer Gegend, in der nicht nur Menschen ohne Papiertüte leben, sondern auch solche mit Mutationen, Anomalien genannt. 242B will unbedingt mit dem freakigen Bus nach Konthaqa flüchten, 197A hingegen glaubt, im autoritär-diktatorisch geführten Schirkoa mit allen Annehmlichkeiten gesegnet zu sein und als Politiker Einfluss auf Erleichterungen nehmen zu können.
197A will sich von einem Hochhaus stürzen, warum auch immer und was man auch erst begreift, als auf dem Dach gegenüber eine Tütenlose mit dem selben Vorhaben ihn darauf anspricht. Sie vögeln auf dem Dach, weil Sex vor einem Suizid den Lebenswunsch um sechs Monate verlängern soll, und pennen danach bei ihm. Er nimmt am nächsten Morgen seinen Sitz im Parlament ein, während Robo-Cops die Frau aus seinem Bett entfernen und mit ihr auf dem Marktplatz eine Art Hexenverbrennung anzetteln wollen. Während man ihm auf Monitoren zeigt, wie man ihren Rucksack entfernt, woraufhin – und das ist der einzige überraschende Moment im Film, also: Spoiler – sich auf ihrem Rücken bunte Schmetterlingsflügel entfalten, sie also als Anomalie enttarnt wird. Daraufhin nimmt 197A seine Tüte ab, offenbart eine Art Widder-Hörner auf seiner Stirn, lässt auf seinem Rücken Fledermausflügel wachsen und eilt zu ihrer Rettung. Wache1, sein Vorgesetzter oder so, entzündet die Flügel der Frau, befiehlt, 197A abzuschießen, was nicht erfolgt, und er flattert davon.
Zufällig landet 197A vor dem Bus, mit dem 242B fliehen wollte, aber, nunmehr tütenlos, von einem Panzer aufgegriffen wurde. Nun steigt er eben in diesen Freak-Bus voller interessant aussehender Anomalien und gerät in das fantasievoll überbordend dargestellte Konthaqa. Dort sucht er nach Lies, der meerjungfräulichen Anführerin der Anomalien, von der die Sage geht, sie sei eigentlich Lord O‘. Plötzlich sitzt er umgestylt in ihrer Badewanne, wird auf einer Bühne als Gott verehrt, tötet Wesen, die ihn bitten, ihnen zu sagen, dass er sie liebt, damit, dass er diesem Wunsch Folge leistet, und der Rest der Bande feiert irgendwas. Bis Wache1 während einer Parade unmaskiert ein Attentat auf 197A verübt und in der folgenden Gefangenschaft Details über die noch lebende unmaskierte Schmetterlingsfrau verrät. Aus Gründen – möglicherweise hat er auf Konthaqa nach mehreren Jahren der gottgleichen Feierei auch keinen Bock mehr – sucht 197A Pilgrimage auf, ein drittes Refugium, in dem er die verbrannt geglaubte Frau findet. Sie erzählen einander irgendwas, woraufhin er betütet zurück nach Schirkoa kehrt und 242B im Blue District aufsucht, klassische Balkonszene inklusive. Fertig, womöglich.
Schwer zu sagen, ob das Nicht-Verständnis der Vorgehensweisen von 197A daher rührt, dass der zumeist englischsprachige Film auch auf Englisch untertitelt ist und die Sprechenden irgendwann in ein hochsprachiges Vokabular verfallen, das man im Unterricht seinerzeit nicht vermittelt bekam, oder daher, dass die Figur irgendwelchen indisch-mythologischen Pfaden folgt, die man als Europäer nicht kennt, oder schlichtweg daran, dass das Drehbuch mies ist. Für letztere Option spricht, dass der Film, obschon zumeist eher schleppend erzählt, an vielen Stellen abrupt die Blickwinkel und die Szenerien wechselt, was ihm etwas Amateurhaftes verleiht. So haben wir das damals mit unseren ersten VHS-Filmen auch gemacht, weil wir es nicht besser wussten und keine besseren Möglichkeiten hatten. Die hat Shukla aber, nämlich eine weiße Leinwand und ein Unreal Engine, mit dem er alles erschaffen kann, was er will. Stattdessen stolpert er durch seinen Film. Warum etwa leisten die Robo-Cops dem Befehl, 197A abzuschießen, nicht Folge, sondern lassen ihn entkommen? War die fluchtermöglichende Verzögerung schlechtes Timing, die Action mies oder der Animator zu faul? Warum zündet 197A die Politiker im Parlament überhaupt an und warum haben sie später sofort ihre Papiertüten wieder auf? Was macht der Typ als androgyner Gott in einer Badewanne? Warum flitzt er zuletzt wieder betütet zu seiner ersten Frau? Warum vögelt er die andere überhaupt? Wenn man sich nie ohne Papiertüte gesehen hat, warum hat man dann darunter attraktive Frisuren und sogar Brillen?
Die Geschichte hat so viele spannende Ansätze. Zu dem Gerücht, es gebe das Refugium der Anomalien, gegen das Schirkoa einen Krieg anzetteln will, gibt es das Gegengerücht, das Gerücht sei lediglich von der Regierung in die Welt gesetzt worden, um die Bewohner in Angst zu versetzen und gefügig zu machen. Die Idee, ausgerechnet den Skeptiker gezwungenermaßen ins gelobte Land aufbrechen zu lassen, ist eigentlich ein schöner Twist. Ansonsten verpufft die Story sehr schnell und man verliert Bezug zu und Interesse an den Figuren.
Visuell ist diese Quasi-Pioniertat wiederum bemerkenswert. Mit der Mischung aus scharfen und verwaschenen Konturen erinnert er an „Der Herr der Ringe“ von Ralph Bakshi, der seinen mit realen Menschen gefilmten Zeichentrickfilm einfach überpinselte. Die Stadtansichten aus der Vogelperspektive hat Shukla von Gaspar Noé, der hier eine Sprechrolle übernimmt. Konthaqa sieht aus wie ein psychedelischer Trip in einem Videospiel, mit rotierenden Zahnrädern und den wilden Wesen und so. Dazu setzt unerwartete Musik ein, die sämtliche Kulturgrenzen sprengt, von dumpfem Techno bis Afrobeat.
„Schirkoa“ basiert auf einer eigenen Graphic Novel, aus der Shukla bereits vor über zehn Jahren einen preisgekrönten Kurzfilm machte, auf dem nun dieser Unreal-Engine-Langfilm basiert. Vielleicht hätte er ihn kürzer belassen sollen, denn die 103 Minuten der Kinofassung haben so ihre Längen. Hier gewinnt die Form über den Inhalt, was enttäuschend ist, denn damit reiht sich Shukla in die Schlange der unzählbaren Hollywood-Macher ein, die aus einer technischen Idee einen schlechten Film machen müssen, Hauptsache, er verkauft sich irgendwie. Dazu kommt, dass heutzutage viele Spiele schon besser aussehen als „Schirkoa“, das vermeintlich verkaufsfördernde Stilmittel also nicht zieht, aber sei’s drum, das kann ja auch gewollt sein.