Polly Jean kann gut mit Vögeln – PJ Harvey – Live im Velký Sál, Lucerna Prag, 19. Oktober 2023

Von Onkel Rosebud (20.10.203)

Einer regelmäßigen Tradition folgend wird sich bei uns nach Schichtschluss zur Gruppe formiert, ins Auto gesetzt und dann geht es ab in die historische Hauptstadt Böhmens. Der erste Haltepunkt so eines Kurzausrittes ist immer ein Hostinec, um einheimische Spezialitäten einzunehmen. Dieses Mal wählten wir das Pivnice U Sadu in Vinohrady, Prag 3, ein Ort, der für sein Pissoir ähnlich legendär ist, wie die nächste Haltestelle, der Veranstaltungsort Lucerna-Palast. Das ist ein Vergnügungskomplex am Wenzelsplatz, der – wenn es nach dem Willen des Vaters von Václav Havel gegangen wäre – eigentlich ein Eishockey-Stadion geworden wäre. Nachdem sich zu Beginn der Bauarbeiten herausgestellt hatte, dass die Halle für diesen Zweck nicht geeignet war, wurde sie zu einem großen Ballsaal umgeplant. Und wir hatten uns in Schale geschmissen, um in eben dem Polly Jean Harvey aus der südwestenglischen Grafschaft Dorset darbieten zu sehen.

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Once a Banshee, always a Banshee! – Depeche Mode – Live im Olympiastadion Berlin, 9. Juli 2023

Von Onkel Rosebud (09.07.2023)

Während meiner Adoleszenz in der DDR gab es eigentlich nur zwei Entscheidungen zu fällen: Erstens, Mitglied der Jung- und Thälmannpioniere, der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, der Freien Deutschen Jugend und der Gesellschaft für Sport und Technik zu werden oder vorzugeben, an Gott zu glauben, um so um den Wehrdienst drum rumzukommen. Und zweitens, Depeche Mode oder The Cure. Die Antwort auf die erstere Frage lasse ich mal aus, aber letztere kann ich bis heute glockenklar beantworten: Songs wie „Play For Today“, „A Forest“ und „Blasphemous Rumours“ haben mein Leben verändert, aber unterm Strich hat Robert Smith einen Ein-Tor-Vorsprung vor Team Gore/Gahan/Fletcher.

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Husum verdammt – Turbostaat – Live im Tante Ju, Dresden, 2. Juni 2023

Von Onkel Rosebud (03.06.2023)

Die erste Regel des Konzertbesuches lautet: Ziehe nie das T-Shirt der Band an, auf deren Konzert Du gehst. Die zweite Regel des Konzertbesuches lautet: Ziehe – Husum verdammt noch mal – nie das T-Shirt der Band an, auf deren Konzert Du gehst… Fans der Formation Turbostaat scheinen diese Regel nicht zu kennen und gehören deshalb von Tyler Durden oder einem kommunistischen Känguru persönlich geboxt. Fast die Hälfte des Puplikums im Alter zwischen 3 bis 80 im sehr symphatischen Live-Club der sächsischen Landeshauptsadt tragen Obertrikotagen mit Devotionalien der Husumer Punkrock-Band. Das ist ein bisschen unheimlich, aber da sind ja noch meine beiden besten, stilsicheren Konzertfreunde, mit den ich unterwegs bin. Der eine mit Sleaford-Mods-Aufdruck und auf der Brust des anderen findet sich der Schriftzug von The Sebadoh. Bevor es losgeht, sitzen wir draußen, trinken Schorle und amüsieren uns vor allem über die Pärchen im bandeigenen Eulen-Motiv-Partner-Look.

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Danube – Live im Wohnzimmer von Maren & Arni in Fallersleben, 13. Mai 2023

Von Matthias Bosenick (14.05.2023)

Ihr allererstes Wohnzimmerkonzert überhaupt gab die junge Sängerin und Musikerin Stella Lindner unter ihrem ihrer Geburtsgegend Neuburg in Bayern entnommenen Alias Danube als Gewinn einer Instagram-Losaktion im Wohnzimmer von Maren und Arni in Fallersleben. Acht ausgewählte Gäste verfolgten die Darbietung, die Stella kurzerhand von ihrem mitgebrachten Keyboard aufs vorhandene Klavier verlegte, wenn sie nicht die Akustikgitarre bediente. In komplexen Melodien sang sie – nun, nicht nur von Flüssen, auch von Liebeskummer und Selfcare, und das Publikum lauschte ergriffen ihrer emotionalen Darbietung. Jedes Mal Stille, bis der letzte Ton auch wirklich verklang. Und kein Hauch von Fremdsein.

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Ziehe Du endlich diesen Herbstpulli aus: Yo La Tengo – Live in Huxleys Neuer Welt, Berlin, 25. April 2023

Von Onkel Rosebud (25.04.2023)

Einer meiner besten Freunde und meine seit über 20 Jahren im Verkehr befindliche Tochter haben gemeinsam, dass sie eine Wollmütze mit „YLT“-Initialen besitzen. Als sie zu Hause auszog, hat sie heimlich drei Dinge von mir mitgehen lassen. Neben meiner gestrickten Yo-La-Tengo-Haupthaarbedeckung, die Schallplatte „To Bring You My Love“ von PJ Harvey und ein schweres Schraubdings aus Edelstahl, wo man kleine, sehr persönliche Dinge reintun oder einem Einbrecher eine schwere Kopfverletzung zufügen kann. Ich toleriere das, weil keiner der über 30 Tonträger, die ich von der Formation aus Hoboken besitze, dabei war. Die sind mir heilig. Ich halte die Band für die Quintessenz des Indierocks und gönne ihnen, dass der kommerzielle Erfolg mit ihrer Musik seit fast 40 Jahren ausbleibt, weil nur ausgewählte, kaltherzige, geschmackssichere Dödel wie ich ihre Gassenhauer mitsummen sollen und nicht jeder Dorsch.

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De Staat – Live in der 60er-Jahre-Halle im Faust, Hannover, am 14. April 2023

Text und Fotos von Guido Dörheide und Matthias Bosenick (15.04.2023)

Was für eine Präsenz! Sobald Torre Florim als letzter des Quintetts De Staat aus Nijmegen die Bühne betritt, kniet die Gemeinde nieder. Ihm würde man alles abnehmen, sich unterordnen, sich leiten lassen. Und so geschieht es auch im Faust in Hannover. Da ist es auch egal, ob man die Musik wirklich letztgültig feiert oder nicht, der Mann im mattsilbrig glänzenden Anzug, mit dem todernsten, furchteinflößenden und fordernden Gesichtsausdruck und den suggestiven Bewegungen fordert alle Aufmerksamkeit ein. Und kann sich doch auch mal, sobald die Band keinen synthetischen White-Man’s-Funk spielt, sondern ins Psychedelische abtaucht, hinter den Songs zurücktreten. Eine Naturgewalt! Und sympathisch.

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Im Rhythmus bleiben“ – Front 242 und Nitzer Ebb Live in der Columbiahalle Berlin, 7. Januar 2023

Von Onkel Rosebud (08.01.20223)

Front 242 haben an einem gewissen Zeitpunkt sprichwörtlich mein Leben gerettet. Das ist schon über 35 Jahre her und die Geschichte dazu soll nicht Bestandteil dieses Konzertberichtes sein. Sie ist aber definitiv der Grund, warum sich an diesem trüben 7. Januar mit Einbruch der Dunkelheit eine kleine, aber feine Reisegruppe, bestehend aus drei Vätern und einem Sohn, in die Bundeshauptstadt aufmacht.

Die Erfinder der EBM, Electronic Body Music, haben sich zu einer „Join The Forces“-Tour angesagt. Der Anfang der 1980er-Jahre entstandene Musikstil, der durch repetitive Sequenzerläufe, tanzbetonte Rhythmen sowie zumeist klare, parolenähnliche Shouts gekennzeichnet ist, gilt als zufallsbedingte Verschmelzung britischer Industrial- (Nitzer Ebb) und kontinentaleuropäischer Minimal-Electro-Musik (Front 242) und nahm bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung von unter anderem Techno. Soweit zu meinem halbseidigen Wiki-Wissen. Ob die Welt ohne Techno vielleicht sogar besser dran gewesen wäre… wer weiß?

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The Twang live auf dem Lammer Open Air – 13. August 2022

Von Guido Dörheide (16.08.2022)

Wieder einmal mehr begann alles ganz harm- und arglos. Die Töchter sind im Urlaub, ich habe nichts verplant, müsste mal wieder Leute sehen und frage deshalb Frank, ob er mal in den nächsten Tagen Bock auf ein Bier hätte. Und er schlägt das Lammer Open Air als Treffpunkt vor. Ich hatte schon überall in der Stadt die „Extrabreit“-Plakate gesehen und dachte, oh Hammer, dachte ich, da spielen solche Hochkaräter schon seit Jahren und ich war noch niemals da. Sowas gehört geändert. Wobei – ich habe zwar gut ein Fünftel meines bisherigen Lebens virtuell an der FernUni in Hagen verbracht, kann aber mit den dortigen Musikschaffenden (Nena, Extrabreit) oft nur wenig anfangen. Dann sah ich, dass The Twang ebenfalls dort auftreten und Lamme war gesetzt. Ich habe dann also am Vortag beim – sehr sympathisch anmutenden und wunderschön eingerichteten – Friseursalon neben dem Festivalgelände zwei Tickets erstanden und bin dann am Samstag mit meinem 9-EUR-Ticket per Bus (von Haustür zu Haustür in weniger als 9 Parsecs – ohne Umsteigen!) gen Lamme gereist. Zivile Getränkepreise, supernette freiwillige Helfer/-innen, gastrologische Versorgung dank Bratwurst-und-Backschinken-Stand aufs Beste gesichert, dazu ein aufgeräumtes, übersichtliches und mit einer wahrhaft professionellen Bühne bestücktes Festivalgelände – möge der Spaß nun beginnen!

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The Mission – Live auf dem M‘era Luna, Hildesheim, am 06.08.2022

Von Guido Dörheide (06.08.2022)

M‘era Luna? Das neben dem WGT in Leipzig größte Wave-Gotik-Treffen, auf dem Hildesheimer Flugplatz? Da ich zu zeitgenössischem Wave/Gothic/etc. sowie zur Neuen Deutschen Härte keinen Zugang finde, dachte ich immer: „M‘era Luna? Hömma bloß auf!“ – „Hömma bloß auf Deinen Freund Daniel, den Gärtner“, sagte mir dann aber in der letzten Woche eine innere Stimme, als dieser mir ans Herz legte, da heuer mal für einen Tag hinzufahren, und sei es nur, um T-Shirts zu kaufen. Las im Internet das Line-up, entdeckte The Mission und Nitzer Ebb im Samstagabendprogramm und sagte begeistert zu. Also beluden wir das kleine rote Auto am Samstagmorgen mit Spezereien vom örtlichen Höker und fuhren durch ein babylonisches Labyrinth an Umleitungen gen HI-Drispenstedt. Dortselbst erleben wir eine perfekt organisierte Parkplatzlandschaft; die hochmotivierten und supernetten Einweiser:innen sorgen dafür, dass Tagesbesucher:innen nicht durch Zweitagesbesucher:innen zugeparkt werden können und jeder in Sekundenschnelle einen adäquaten Stellplatz für sein Vehikel findet. Der Zugang zum Gelände gelingt ebenfalls schnell und reibungslos, daher geht es hier nun los mit dem ersten Kapitel meiner Berichterstattung vom Mission-Konzert in Hildesheim (unter Auslassung der Bands, die ich nicht gesehen habe):

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Fly Cat Fly – Live in Harrys Bierhaus, Braunschweig, am 30. Juli 2022

Von Matthias Bosenick (31.07.2022)

Ein Abend voller Liebelingslieder, auch solcher, die man vorher noch gar nicht kennen konnte. Mit Schlagzeug aus der Konserve, diversen Saiteninstrumenten und Megaphon kredenzt das Duo Fly Cat Fly in Harrys Bierhaus eine Sorte Indierock, die viel breiter aufgestellt ist als nur durch das, was man sich unter dem Wort vorstellen mag. Epische Ausmaße nehmen die Songs an, transportieren Dunkelheit und Tanzbarkeit, Leben, Energie, Aufruhr, Widerstand, Resignation und Aufrappeln. Oft zweistimmiger Gesang, viele wavige Gitarrenflächen, sich steigernde Energie und einnehmende Melodien – Bassistin Sina Lempke und Gitarrist Cord Bühring überwältigen ihr Publikum mit eigenständiger, besonderer, großartiger Musik. Um es im Twitter-Deutsch zu fragen: Wann neues Album?

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