Das Buch „plus minus acht. DJ Tage, DJ Nächte“ (Kiepenheuer & Witsch, 2003) des grundsympathischen Oberlippenbarträgers Hans Nieswandt aus Mannheim ist ein Standardwerk der DJ-Techno/House/Disco-Culture der 80er/90er Jahre. Darin gibt es ein Kapitel zum Thema Hörerwünsche, welches ich als genreübergreifender Plattenaufleger auch hätte so schreiben können. Dieser Text ist 20 Jahre später eine Aktualisierung mit meinen Erfahrungen. Ein Remix sozusagen.
Letztes Wochenende war Papa-Tochter-Wochenende. Also bin ich am Sonnabend mit meiner Jüngsten mit dem Fahrzeug in die Schlossattrappe gefahren – die Tochter sollte nicht zu weit zu Fuß gehen müssen, immerhin wollten wir am Nachmittag noch das Magnifest besuchen.
Wir stellten also den Wagen ins zweite Parkdeck (das mit dem gegenüber dem ersten Parkdeck spiegelverkehrten Einbahnstraßen) und gingen erstmal zu Thalia. Töchterchen sollte sich dort eine DVD aussuchen, aber so weit kamen wir nicht: Vor dem Regal mit den Braunschweig-Krimis gab es Tumult. Augenscheinlich waren sich zwei Herren im fortgeschrittenen Alter in die Haare geraten, herrschten sich an, alsbald ergab sich ein Handgemenge.
Das wollten wir uns aus der Nähe ansehen, also pirschten die Tochter und ich uns vorsichtig an den Ort des Geschehens heran. Da stand, mit wirrem Haar und den Revolver im Anschlag, ein Autor und knurrte: „Gib mir mein Buuuuuuch zurrrück!!!“
Der Klappentext von Jürgen H. Mochs „Fantasyhommage an Deutschlands mystisches und uraltes Mittelgebirge“ (so steht es auf Seite 3 des Romans) beginnt mit „Die 15jährige Elisabeth ist von ganz besonderem Blut“; auf dem Titelbild sind drei Kinder abgebildet, die mit dem Rücken zu einem Gewässer stehend den Vollmond über dem Brocken ansehen. Also ein Buch für Kinder und Jugendliche? Für Erstere ganz klar nein, für Jugendliche im Alter der Protagonisten schon, und in erster Linie richtet sich der Roman an Erwachsene.
Hammer. Ende Juli 2023 legte Helmut Exner den bereits 20. Kriminalroman über die eigenwilligen Ermittlungleistungen der pensionierten Lehrerin Lilly Höschen aus Lautenthal vor. 90 Jahre ist die Gute inzwischen alt und über die zahlreichen Romane hat sie sich zur vielzitierten Miss Marple des Harzes entwickelt. Fräulein Höschen (Aussprache übrigens nicht wie Schlübber, sondern so, dass es sich auf „löschen“ reimt) legt Wert auf ebendiese Anrede und beeindruckt ihre Mitmenschen nicht nur durch Scharfsinn und Vehemenz, wenn es um das Aushecken und Umsetzen mitunter gefährlicher Ideen geht, sondern hat zudem eine riesengroße Klappe, mit der sie immerfort Redewendungen raushaut wie „Am Arsch vorbei führt auch ein Weg“ oder „Sind Sie eigentlich naturdoof oder muss man das studieren?“ Ein weiteres Markenzeichen der Lilly-Höschen-Serie ist die liebevolle Einbeziehung zahlreicher Schauplätze des Harzes in die Handlung. Beim Lesen wünsche ich jedes Mal, ich wäre gerade dort, insbesondere, wenn mein Lieblingsort Clausthal-Zellerfeld mal wieder Ort der Handlung ist ist.
Text und Fotos von Guido Dörheide und Matthias Bosenick (März/April 2023)
Ein Novum hier: Zwei zusammenhängende Ereignisse – die Veröffentlichung eines Buches sowie die Premierenlesung desselben – dargereicht von zwei zusammenhängenden Rezensenten, hier Guido Dörheide und Matthias Bosenick. Corpus Delicti ist „Der Flussmann“, der neue Thriller von Hardy Crueger, dem in Braunschweig ansässigen Schriftsteller, der seinen Psychokrimi der Einfachheit halber in seiner Wahlheimat stattfinden lässt. Zur Premiere in der Buchhandlung Benno Goeritz wählt der Autor appetitanregende Ausschnitte aus, die den Einblick erlauben in das Leben einer Frau, deren Mann nach einem Betriebsfest verschwindet und der später nur noch als Leiche gefunden wird. Keiner glaubt ihr, dass das kein Suizid oder Unfall war. Hat sie Recht? Ist sie irre? Oder am Ende gar selbst die Mörderin?
„Jetzt ist schon wieder was passiert“, möchte man meinen, doch verwendet der österreichische Autor Wolf Haas diesen klassischen Brenner-Einstieg in „Müll“ zum dritten Mal in Folge nicht mehr, also seit dem Comeback nach dem überraschenden Tod des namenlosen Icherzählers. Also: Simon Brenner ist wieder da, zum neunten Mal und acht Jahre nach seinem letzten Fall, und Haas dichtet dem lakonischen Schwarzseher nicht nur einen beachtlich ausgearbeiteten Fall an, sondern erzählt ihn auch wie gewohnt in der ihm typischen und einzigartigen Sprechweise, die längst „Haasisch“ genannt wird. Krimi kann sehr wohl gleichzeitig (schwarz-)humorvoll und spannend sein, auch wenn Haas sich hier im Grunde selbst recyclet. Aber das passt ja bestens zum Thema.
„Die Chemie stimmt“, schreibt Stefan Thoben – in einem Buch über Bitterfeld bekommt diese positive Einschätzung gleich mehrere bedeutungsvolle Ebenen. Wie schon in seinem Debüt „Ein Traum in bunt“ über das Ruhrgebiet berichtet der Journalist in „Ein Kessel B.“ von einer Radreise, hier im Rahmen eines Kulturfestivals zum ostdeutschen Komplementär. Dabei ist er dieses Mal vorbereitet und nimmt ein wenig die Rolle von Peter Lustig ein: Scheinbar unwissend nähert er sich den Menschen, die schon da sind, und stellt ihnen stellvertretend für alle Lesenden Fragen, die er offen und herzlich beantwortet bekommt. Gleichzeitig offenbart er eine immense Recherchetiefe, die alle denkbaren Themen abdeckt, Industrie, Umwelt, Politik, Geschichte, Kultur. Anders als bei seinem ersten Trip hat Thoben dieses Mal zudem eine Agenda: Er will ehemalige Bitterfelder Schulkinder finden, die seine lokale Zeitung Anfang der Neunziger zur Lungengenesung an die Nordsee schickte. Thoben weiß, wie man sym- und empathisch auf Menschen zugeht – und mit den so erlebten Geschichten einen mitreißenden Sog entwickelt.
Lyrik, auf ewig eine Literaturgattung, die sich dem Rezensenten nicht einmal ansatzweise umfassend erschließen wird. Ich kann mich also Lyrik nur distanziert und behutsam nähern, mit dem Blick des Uneingeweihten, und Dichter René Seim erweist mir trotzdem einmal mehr die Ehre, an seiner Lyrik teilhaben zu dürfen. „Einen Tisch in Falten schlagen“ heißt sein neues Buch, das er im eigenen Windlustverlag veröffentlicht; der vierte Gedichtband des umtriebigen Dresdners, der auch Schallplatten herausbringt, Radio macht, auflegt, Lesebühnen veranstaltet und wer weiß was noch. Es mag an der der Lektüre vorausgegangenen Begegnung mit dem Dichter in der Äußeren Neustadt liegen, dass ich zu diesem Buch einen besseren Zugang finde, sehr oft laut loslache, häufig mitfühlen nicke, hinter politischen Statements einen inneren Haken setze, an Seims Sprache meine Freude habe, also viel unmittelbarer ein Gefühl dafür bekomme, ihn zu verstehen, als zuvor, und doch bleibt ein Rest Unverständnis erhalten. Das wäre ja auch zu viel erwartet, wenn der Vorhang plötzlich komplett zur Seite geschoben wäre, oder? Meine Freude an diesem Buch ist ja trotzdem immens!
Endlich! Endlich bringt das dreiköpfige Duo infernale die Fortsetzung auf den Markt! Nach dem Aufmerksamkeit garantierenden „Braunschweig‘sche Weihnacht“ aus dem Prä-Corona-Jahr 2019 widmen sich Till Burgwächter und Hardy Crueger nun einem zeitgemäßen Trendthema: True Crime, begangen an der Oker. Wer die Arbeiten der beiden Autoren kennt, weiß, dass sie an diese Aufgabe nicht im gewöhnlichen Stil herangehen: Burgwächter betrachtet seine Ganoven mit lakonischem Zynismus, Crueger seine Protagonisten mit empathischer Akkuratesse. Diese Mischung macht‘s, denn nach den emotional aufwühlenden Crueger-Beiträgen freut man sich jeweils auf einige Seiten fundierten Lachens mit Burgwächter. Und was die beiden alles rund um die Umflutgräben ausgraben: Neben schockierend absichtlichen und irritierend versehentlichen Bluttaten auch gravierende bis scheinbar banale Delikte aus Fußball, (Bruch-)Straßenverkehr und Telefonterror. Man hört die beiden erprobten Autoren bei der Lektüre schon selbst lesen und freut sich auf die Live-Umsetzung. Und die Fortsetzung: Packt den Illustratoren Karsten Weyershausen bitte ein drittes Mal mit ein und bringt ein weiteres Thema in eurem Sound als Buch heraus!
Braunschweig ist dark und lost? Ganz gewiss, und einen nicht geringen Anteil daran hat – wie an viel zu vielen Orten in Europa – die Nazizeit. Marc Halupczok findet dafür erfreulich deutliche Worte, wie er ohnehin zu Deutlichkeit stets neigt, obschon er sich in dieser Auflistung von 33 verwunschenen Flecken im Braunschweiger Land etwas diplomatischer zeigt, als wenn er als Till Burgwächter agiert. Herbstlich-düstere Fotos liefert Sarah Quast dazu; das Wort „kongenial“ möchte hier dennoch vermieden werden, weil es nervt. Halupczok nimmt den Lesenden enorme Recherchearbeit ab und schildert zusätzlich persönliches Erleben, wenn er sich an Kirchen, in Ruinen, auf Friedhöfen oder auch in Tiefgaragen mit Legenden, Spukgeschichten und realem Horror vom Mittelalter bis heute auseinandersetzt. Klassische „Lost Places“, also etwa überwucherte halbverfallene Villen im Wald oder so etwas, hat diese Gegend nur spärlich zu bieten, spannende Geschichten dafür umso mehr. Auch für Einheimische mehr als informativ – und dank Halupczoks lakonischen Schreibstils insbesondere unterhaltsam.