Von Matthias Bosenick (17.08.2023)
Wer auf „In Circle“ dem zur Band herangereiften Ein-Mann-Projekt Dor ein konkretes Genre zuweisen zu können meint, fliegt raus. Auf Francesco Fiorettis dritter Veröffentlichung als Dor klingt seine Heimat Italien zwar an, aber nicht über das hedonistisch-sonnige, sondern vielmehr über das komplex-klassische, versetzt mit dunkler Melancholie, gruftiger Folklore, sakralen Melodien, rituellen Gesängen, fettem Jazz und mittelalterlichem Drama. Fioretti und seinem Ensemble gelingt es, diese ganzen Ingredienzen überaus stimmig zusammenzuführen und daraus eine einzigartige Musik zu generieren. Ohne gute Laune, und auch das ist genau richtig.
Archiv der Kategorie: Album
Dead Mammals – II – Trepanation/Forbidden Place/P.O.G.O. 2023
Von Matthias Bosenick (16.08.2023)
Man fühlt sich sofort in die sich bei den Achtzigern bedienenden Neunziger zurückversetzt, als es noch möglich war, mit Lärm, Aggressionen und ungewöhnlichen Songstrukturen für positive Aufmerksamkeit und eine nicht geringe Gefolgschaft zu sorgen: Die Dead Mammals aus dem Vereinigten Königreich beherrschen auch auf ihrem Album „II“ (könnte das zweite sein, hm?) das Laut-Leise-Schema, kombinieren monotone Rhythmen mit zerschredderten Gitarren und brüllen dazu herum. Und das als Duo!
Neil Young – Chrome Dreams – Reprise Records 2023
Von Guido Dörheide (12.08.2023)
Aurora Borealis. The icy sky at night. Ohne Scheiß: Erst durch Neil Young weiß ich, dass Marlon Brandos Nachname sich nicht „Brandow“ (gelegen in Brandenburg?) ausspricht, sondern „Brändoh“. Und durch ihn – und nicht durch den 1995er Diseney-Film oder durch das Ikke-Hüftgold-Remake von AnnenMayKantereits eigentlich nicht zu beanstandenden Song aus [dem Jahr] 2016, den ich auf zahlreichen Silberhochzeiten meiner Jahrgangsgenossen über mich ergehen lassen musste (und ich verstehe immer noch nicht, warum auch immer „Kling Klang“ von Keimzeit in diesem Zusammenhang gespielt wird, eigentlich doch auch ein tolles Lied – scheißegal, ich lasse das Lasso drinne und schreibe einfach mal weiter, was mir so einfällt.) Also Wurscht: Marlon Brando, Pocahontas and me. So soll es sein für alle Zeit. Und dieser Song war für mich immer verknüpft mit Neil Youngs 1979er Album „Rust Never Sleeps“. Und das war für mich DAS bahnbrechende Young-Album: Die erste Hälfte akustisch mit „My My, Hey Hey“ und die zweite Seite elektrisch mit „Hey Hey, My My“ – jawiegeiel, und die restlichen Songs waren auch Weltklasse.
WeiterlesenSalaman Isku – Le voyage nucturne – Bitume Prod. 2023
Von Matthias Bosenick (14.08.2023)
„Le voyage nocturne“, das der 35jährige französische Metal-Musiker Julien J. Neuville aka Adunakhor Z. bereits 2017 unter dem Pseudonym Salaman Isku im Eigenverlag herausbrachte, ist ein Bisschen wie „Fear And Loathing In Las Vegas“ als Musik: Er sei von der mexikanischen Kaktusdroge Mescalito dazu befeuert gewesen, in einer Sommernacht spazieren zu gehen. Die Eindrücke, die Neuville dabei erhielt, sind nicht zwingend chillig verdrogt, sondern aufwühlend, brutal, anstrengend – Werbung für Mescalito ist dieses halbstündige Album jedenfalls nicht. Das ist auch gut so, wer braucht schon im Rock’n’Roll die Empfehlung, Drogen zu nehmen, auch wenn manche drogeninduzierten Kulturgüter so ungewöhnlich sind wie dieses; zur Sommersonnenwende von Bitume auf CD neu herausgebracht.
Nuclear Power Trio – Wet Ass Plutonium – Metalblade Records 2023
Von Guido Dörheide (11.08.2023)
Alle Welt sucht nach nachhaltigen Energien, die zudem noch sexy sein sollten. Mit Donnie, Vlad und Kim, dem Nuclear Power Trio, gibt es das nun endlich. Auf dem Cover von „Wet Ass Plutonium“ (ja richtig – das spielt auf Cardi B’s „WAP“ aus 2020 an) sehen wir die drei Musikanten sehr hübsch vor, auf und in einem Lamborghini Countach aus den 80ern drapiert, und an Nuclear Power kann nun ja auch wirklich nichts verkehrt sein. Wer nun gespannt ist auf die Texte des Trios, der kann beruhigt aufatmen: „Wet Ass Plutonium“ ist, wie schon sein Vorgänger, die 2020er EP „A Clear And Present Rager“, ein reines Instrumentalwerk. Und was für eins!
WeiterlesenChurch Of Misery – Born Under A Mad Sign – Rise Above Records 2023
Von Guido Dörheide (10.08.2023)
Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von „Herr Dörheide schließt seine Bildungslücken“. Ich frage mich, warum ich von Church Of Misery, einer seit über 30 Jahren aktiven Stoner/Doom-/Sludge-Metal-Band aus Tokio, die sich dem Thema „Serienmörder“ verschrieben hat, noch nie etwas gehört habe. Als ich erstmals des Cover-Artworks von „Born Under A Mad Sign“ angesichtig wurde, dämmerte mir bereits, dass ich es hier mit einer eventuell überaus schließenswerten Bildungslücke zu tun habe: Das Cover ist im Stil von Blue Note Records aufgebaut, ganz in Blau- und Schwarztönen gehalten (gibt es überhaupt unterschiedliche Schwarztöne? Oder einfach nur Schwarz?) und besteht außer Text aus dem Foto eines Mannes mit Hut, der den Betrachter nicht unfreundlich anblickt. War weiland bei Blue Note vorwiegend der auf dem Album spielende Musiker nebst Instrument zu sehen, ist es hier Fritz Haarmann aus Hannover, Niedersachsen, der den Betrachtenden anblickt. Auch der Titel machte mich neugierig, schließlich ist „Born Under A Bad Sign“ von Albert King (einem der drei Kings of the Blues Guitar) eines meiner liebsten Bluesalben. Und es unterscheidet sich ja nur in einem Buchstaben von dem hier vorliegenden Werk.
WeiterlesenPetrolio – Respira – Toten Schwan Records 2023
Von Matthias Bosenick (10.08.2023)
Wüsste man nicht, dass es sich bei „Respira“ um den Soundtrack zu einem Kurzfilm handelt, spränge beim Hören trotzdem sofort ein Kopfkino an. Der Film dazu wäre eher verstörend und bedrückend, und vermutlich ist er es in der Realität auch, der Trailer deutet an, was der Titel suggeriert: „Respira“, „Atme“, und dazu eine Person mit einer opaquen Plastiktüte über dem Kopf. Unter seinem Nom de Guerre Petrolio erstellt Enrico Cerrato aus Asti ein Mini-Album, das in seinen Grundzügen das klassische Industrial heranzieht, also harsche Sounds, metallisches Kreischen, monotone Rhythmen, doch wäre das allein für den Künstler viel zu plakativ, daher deutet er diese Ansätze lediglich an und bettet sie in einen elektronisch grundierten Score ein, der Dark Ambient, Drones und Atmosphären den Vortritt lässt. „Respira“ ist eine von sechs Episoden des Experimentalprojektes „Film Fantasma“, und jetzt will man den unbedingt sehen.
Thy Catafalque – Alföld – Season Of Mist 2023
Von Guido Dörheide (07.08.2023)
„Alföld“ klingt ja irgendwie nach „Wackööööön!!!“ Hier ist aber nicht Alfeld/Leine nebst seiner im Bauhaus-Stil errichteten Grillkohlefabrik, sondern die ungarische Tiefebene gemeint. Und aus eben diesem Ungarn kommt Thy Catafalque. Quasi als ein Ein-Mann-Projekt von Tamás Kátai wurde Thy Catafalque 1998 in Ungarn gegründet, mittlerweile lebt Kátai in einer Stadt, die ich jüngst im vergangenen Jahr trotz aller Sabotageversuche durch Deutsche Bahn bereiste, nämlich in Edinburgh. Und das hört man. Aber erstmal eins nach dem anderen – first things first.
WeiterlesenTangled Thoughts Of Leaving – Oscillating Forest – Bird’s Robe/Dunk! Records
Von Matthias Bosenick (08.08.2023)
Dieses Album lässt sich sowas von gar nicht in eine Kategorie einsperren, und das ist gut so: strukturell eher Klassik oder Jazz, von den Instrumenten her Klassik und Rock, musikalisch auch Ambient, Post Rock, Noise Rock oder Swans-Industrial. Man fühlt sich auf „Oscillating Forest“ eher in ein aufgewühltes Meer geworfen als im Wald ausgesetzt, dabei sind es gerade die rauhen Bedingungen im südwestlichen Australischen Busch, die die Band aus Perth zu diesem einstündigen Instrumental-Album inspirierten. Die Kombination aus Klavier und Rock-Instrumentarium mag an Ben Folds erinnern, doch kann „Oscillating Forest“ kaum weiter entfernt liegen von dessen Songs. Weil es hier keine gibt, sondern Stimmungen, Emotionen, Expressionen.
Man On Man – Provincetown – Polyvinyl Records Company 2023
Von Matthias Bosenick (04.08.2023)
Kaum in Kalifornien angekommen, um die sterbende Mutter des einen zu begleiten, zwang Corona das New Yorker Paar Roddy Bottum und Joey Holman in die Isolation – wie fast alle Menschen der Erde, klar. Aus der Not gebaren die beiden Musiker ein On-The-Road-Recording-Projekt, nannten es Man On Man und behandelten auf dem selbstbetitelten Debüt schwul-queere Themen zu süßen Melodien und gitarrenunterfüttertem Electro-Poprock. Zwei Jahre später gibt’s mit „Provincetown“ Nachschlag, im ähnlichen Sound, doch mit einer weniger hellen Stimmung. In der vermeintlichen Süßlichkeit mancher Arrangements und Melodien liegt etwas nicht immer nur unterschwellig Aggressives, etwas Melancholisches, etwas Genervtes. Gut so: Eine pure Hedonismusplatte wäre ja auch nicht zu ertragen gewesen. Auch wenn sie Babyblau ist.