Primus – Conspiranoid – Prawn Songs 2022

Von Matthias Bosenick (24.10.2022)

Wenn intelligente Menschen sich mit der Pandemie auseinandersetzen und sich mit Verschwörungstheorien befassen, kommen auch intelligente Erkenntnisse zutage, die Verschwörungstheorien als das behandeln, was sie sind: durchgeknallte Paranoia. Entsprechend betiteln die drei ausschließlich musikalisch Durchgeknallten von Primus ihre themenbezogene EP mit dem treffenden Kofferwort „Conspiranoid“ und erfüllen damit gleich zwei wesentliche Aspekte: Sie positionieren sich in Zeiten des rechtsbefeuerten Dummheitswahns auf der Seite der Nichtdummen – und machen grandiose Musik. Die drei Songs auf „Conspiranoid“ sind so Primus, wie man sie vor über 30 Jahren zu lieben lernte: frickelig, progressiv, eigensinnig, trotzdem eingängig und natürlich basslastig.

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Fehlfarben – ?0?? – Tapete Records 2022

Von Guido Dörheide (19.10.2022)

Kaum einer E-Mail habe ich mit soviel Spannung entgegengefiebert wie der von heute (14.10.2022), 1104 UTC+2. Absender: Bandcamp. Betreff: „?0?? (2022) just released!“ Also gleich mal mein vor Wochen vorbestelltes Album gedownloaded und angehört.

Die letzte Atempause seit „Über Menschen“ währte sieben Jahre, dennoch wird von der Düsseldorfer Indie-Institution Fehlfarben weiterhin eifrig Geschichte gemacht. Im Vorfeld dieser ersten Fehlfarben-Veröffentlichung der 20er-Jahre hatte ich mir die Wartezeit mit dem Hören der „neuen“ Fehlfarben-Alben von 1991 bis 2015 vertrieben und zwischendurch auch immer mal wieder „Monarchie und Alltag“, das sensationelle Debüt aus dem Jahr 1980, sowie die beiden Werke seitdem bis zur vorläufigen Auflösung der Band 1984 aufgelegt.

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Was meine Freundin gerne sieht – die Serienkolumne: Rectify – Deutsch für „Etwas Korrigieren, Richtigstellen, Wiedergutmachen“

Von Onkel Rosebud

Seitdem ich die außergewöhnliche Serie vor circa fünf Jahren zum ersten Mal gesehen habe, wollte ich unbedingt, dass auch meine Freundin die Serie schaut. Damals begriff ich schnell, dass ich gern über „Rectify“ mit ihr reden möchte. Mit fortschreitendem Alter wird man immer mehr berührt von Menschen mit traurigen Schicksalen, die es offenkundig schlimmer getroffenen hat als man selbst. Das gilt physisch wie psychisch. „Rectify“ habe ich neulich noch einmal gesehen – ohne sie, weil ihr das Thema der Serie zu traurig ist. Aber mich hat es erneut emotional mitgerissen, so wie es kaum andere Familiengeschichten aus Film, Fernsehen, Literatur oder Musik je geschafft haben.

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The Young Gods – Play Terry Riley In C – Two Gentlemen Records 2022

Von Matthias Bosenick (18.10.2022)

Schon wieder locken uns The Young Gods auf das Feld der modernen Kunst, keine 31 Jahre nach „Play Kurt Weill“: Mit Terry Rileys „In C“ nehmen sich die Schweizer ein Standardwerk der Minimal Music vor, 1964 komponiert, seitdem mehrfach aufgeführt und aufgenommen, jetzt aber von einer Band, die den US-Industrial aus der Taufe hob, mit dem heavy Mix aus Gitarre und Keyboard, den sie selbst längst ablegten und hier auch kaum zur Anwendung bringen. Typisch für Minimal Music sind Wiederholung, Monotonie, scheinbar willkürliche Notentupfer, rudimentäre, bisweilen verspielte Melodien, tranceartige Passagen, und ja, all das bekommt man in den 53 von Riley „Phrasen“ genannten Sequenzen auch von den Young Gods, dazu nach gut der Hälfte einen knappen Einblick in den Krach, zu dem sie ebenfalls in der Lage sind. Erstaunlich genug, wie futuristisch ein 1964 komponiertes Stück Musik 2022 noch klingen kann. Live im Studio eingespielt, übrigens.

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зелёный дядя u сёрферы чёрной дыры – Восторг по октаве – Black Hole Surfers 2022

Von Matthias Bosenick (17.10.2022)

Die Black Holes Surfers und der Grüne Onkel haben „Freude an der Oktave“, zumindest bedeutet dies der Titel des Albums „Восторг по октаве“ von зелёный дядя u сёрферы чёрной дыры. Das mit dem Surfen meinen die drei bis fünf Musiker aus der russischen Millionenstadt Нижний Новгород (Nischni Nowgorod) tatsächlich ernst: Dem psychedelischen Potpourri alternativer Musikstile liegt der Geist des Sechziger-Surfrocks zugrunde. Die Musik mag so variantenreich wie die der Beach Boys sein, dafür ist sie schwerer: In Zeiten des Krieges lässt sich Unbeschwertheit nicht so einfach erhalten. Eine ungezügelte Kreativität indes sehr wohl: „Восторг по октаве“ plättet mit einer Vielzahl an Einfällen, mit denen die Band ihre Songs Haken schlagen lässt.

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The Cult – Under The Midnight Sun – Black Hill Records 2022

Von Guido Dörheide (15.10.2022)

Mochte ich The Cult hören, griff ich meistens zu der Singles-Zusammenstellung „Pure Cult“ aus dem Jahr 2000, die die Schaffensperiode von 1985 bis 1995 abdeckt. Und auf der kann man prima nachhören, wie sich The Cult ab „Sonic Temple“ (1989) vom anfänglichen Gothic Rock mit den wundervollen Melodien, von Ian Astbury immer mit einer Bandbreite von melancholisch-düster bis hin zu ekstatisch-hysterisch vorgetragen, mehr in Richtung düsterem Hardrock bis hin zu immer noch tollen, aber doch sehr stadionkompatiblem Rock entwickelt hat. Den Höhepunkt davon markiert für mich das 2013er-Album „Electric Peace“. Bereits mit der 2016er-Veröffentlichung „Hidden City“ bewegten sich The Cult wieder mehr in Richtung Gothic Rock, und heuer geht es mit „Under The Midnight Sun“ noch ein weiteres Stück zurück in die Anfangstage.

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Triangle Of Sadness – Ruben Östlund – S/GB/USA/F/GR/TR 2022

Von Matthias Bosenick (14.10.2022)

Dem Kapitalismus mit Karl Marx begegnen – und mit Schadenfreude: Episodenhaft setzt sich Ruben Östlund in „Triangle Of Sadness“ mit Leuten auseinander, die Geld haben. Er lässt sie zwischenmenschlich scheitern, sich normal großkotzig schlecht benehmen und sich an ihrer Gier erbrechen. Östlunds Humor ist tiefschwarz und entlarvend, nur hat er es in Sachen Drehbuch nicht so: Im letzten Drittel verliert er den Faden und wird fade. Dafür behält man jede Menge grandios böser Szenen im Kopf – allen voran einen Woody Harrelson als Kapitän, der physisch besoffen und inhaltlich nüchtern des Kaisers neue Kleider benennt.

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Old Town Crier – You – Jim Lough 2022

Von Matthias Bosenick (13.10.2022)

Alt.-Country steht als eines von vielen Etiketten auf dem Minialbum „You“ von Old Town Crier, dem Solo-Projekt des Multiinstrumentalisten Jim Lough, der mit dieser EP drei demokratische US-Politiker bei den Mid-Term-Elections unterstützen will. In den fünf Pop-Perlen liegt noch viel mehr: Der unterschwellige Fuzz und die Rotzigkeit von 60s-Garage-Rock etwa, die balladeske Melodieseligkeit weit gefasster Gesten, der Galopp des Punkrock, 50s-Verve. Abgesehen davon, dass man es mit knapp einer Viertelstunde klasse Musik zu tun hat, ist es nicht nur derzeit überall notwendig, Demokraten zu unterstützen.

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Was meine Freundin gerne sieht – die Serienkolumne: Die Wege des Herrn – Beten ist besser als Sex

Von Onkel Rosebud

In der religiösen Pfarrer-Familiengeschichte aus Dänemark geht’s um Glaube und Gott sowie maskuline Konflikte. Damit die Nicht-Christen auch am Ball bleiben, wird auch viel gevögelt. Johannes, der dominierende, alkoholkranke Vater, treibt‘s mit seiner Frau und Ursula, der Geliebten aus der Pfarrei. Elisabeth, die spirituelle Mutter, entdeckt ihre Bisexualität und wird regelmäßig von der norwegischen Untermieterin Liv vernascht. Sohnemann Nummer eins, das schwarze Schaf Christian, pendelt aus Sicht der Penetration zwischen Amira und Nara. August, der hauptdarstellende Drama-Sohn und auch Pfarrer, missioniert in Stellung gerne mal Emilie, seine Frau, die dann später mit ihrem Arbeitskollegen …

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Goatwhore – Angels Hung From The Arches Of Heaven – Metal Blade Records 2022

Von Guido Dörheide (10.10.2022)

Was hatte ich jüngst noch über erste Songs auf Alben geschrieben? Entweder fast an Stille grenzendes Instrumentalintro oder gleich losballern? Goatwhore haben sich für Ersteres entschieden und das von mir überaus geschätzte laut.de hat dieses Intro a) als „komplett überflüssig“ und b) als „die letzte Chance zur Flucht“ bezeichnet. Zweiteres unterschreibe ich blind und lege gerne noch sowas wie „die Ruhe vor dem Sturm“ nach. Mit „Born Of Satans Flesh“ haut die wunderbare Kapelle aus New Orleans dann auch gleich so nachhaltig auf die 12 (und 12 ist mehr als 10, sogar mehr als 11!), dass man gar nicht mehr fragen mag, wo Bartel den Most herholt. Hauptsache, er holt ihn, und wenn nicht er, dann nehmen Goatwhore den sprichwörtlichen Korb in die Hand und rennen los. Egal wohin, Hauptsache, es tut weh.

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