The Cult – Under The Midnight Sun – Black Hill Records 2022

Von Guido Dörheide (15.10.2022)

Mochte ich The Cult hören, griff ich meistens zu der Singles-Zusammenstellung „Pure Cult“ aus dem Jahr 2000, die die Schaffensperiode von 1985 bis 1995 abdeckt. Und auf der kann man prima nachhören, wie sich The Cult ab „Sonic Temple“ (1989) vom anfänglichen Gothic Rock mit den wundervollen Melodien, von Ian Astbury immer mit einer Bandbreite von melancholisch-düster bis hin zu ekstatisch-hysterisch vorgetragen, mehr in Richtung düsterem Hardrock bis hin zu immer noch tollen, aber doch sehr stadionkompatiblem Rock entwickelt hat. Den Höhepunkt davon markiert für mich das 2013er-Album „Electric Peace“. Bereits mit der 2016er-Veröffentlichung „Hidden City“ bewegten sich The Cult wieder mehr in Richtung Gothic Rock, und heuer geht es mit „Under The Midnight Sun“ noch ein weiteres Stück zurück in die Anfangstage.

Und wer hätte das gedacht? Ian Astburys Gesang war über die Jahrzehnte immer umwerfend und der Nicht-Wiedererkennung unverdächtig, aber lange nicht The Cults einziges Alleinstellungsmerkmal. Um sich dessen zu vergegenwärtigen, muss man nur mal „She Sells Sanctuary“ abspielen, vorzugsweise in der „Long Version“: Ian Astbury singt sich die Seele aus dem Leib und Billy Duffy quetscht dazu quietschend alles aus der Gitarre heraus, was vorher nicht mal drin war.

Und dann? Astbury kreischte weniger, Duffy hängte die Gitarre tiefer, am Ende (auf „Electric Peace“, sehense oben) so sehr auf Kniehöhe, dass sie sich nur noch sehr breitbeinig spielen ließ. Und ich – und mit mir vermutlich der Rest der Menschheit – heulte: The Cult haben der Welt so viele Welthits beschert: „She Sells Sanctuary“, „Love Removal Machine“ (Welch 1 Titel! Welch 1 Text!), „Fire Woman“, „Spiritwalker“, „Sweet Soul Sister“ und nicht zuletzt, sondern zuallererst „Edie (Ciao Baby)“ – DER Heulsong aller Zeiten überhaupt. Und jetzt nur noch Stadionrock mit Bratzgitarre? Hallo? Und The Cult erhörten unser Heulen: „Hidden City“ von 2016 war schon mal eine Abkehr vom bisher eingeschlagenen Kurs, der Sound wurde wieder düsterer. Die Lichter im Stadion wurden sozusagen gedimmt. Der FC (welchen, dürfen Sie sich aussuchen) oder 1860 statt Bayern München oder BVB.

Mit „Under The Midnight Sun“ sind The Cult jetzt also wieder – wie ich hoffe – endgültig zum Gothic Rock zurückgekehrt – und wie: Das Album ist nur 35 Minuten lang und enthält exakt Null Minuten an Füllmaterial. Ich habe nachgezählt, zweimal.

Und das ist das Geheimrezept bei „Under The Midnight Sun“: Einmal hören, und es klingt sehr schön, zweimal hören, und es haut einen um. Über Ian Astbury hatte ich mich ja schon lobend ausgelassen, er liefert auch hier begeisternd ab, aber vor allem Billy Duffy ist wieder der Billy Duffy, wie wir ihn hören wollen! Was er auf der Gitarre abliefert, jault schön cultig vor sich hin wie früher – ganz früher –, und unterstützt Astburys Gesang auf das Vortrefflichste. Dazu sichern Charlie Jones am Bass und Ian Matthews am Schlagzeug nach unten ab und sorgen dafür, dass sämtliche Songs mit äußerster Vehemenz nach vorne treiben. Es war übrigens für mich eine Überraschung, dass nicht der ehemalige Testament-Drummer John Tempesta, sondern Ian Matthews von Kasabian auf dem aktuellen Album das Schlagzeug bedient, aber das passt wunderbar.

„Mirror“ stimmt sehr schön auf das Album ein, Duffy lässt seine Gitarre gently jodeln, dann nehmen sich alle Instrumente zurück und überlassen Astbury die Bühne und dieser macht deutlich, dass sein Gesang immer noch einzigartig ist, und sobald die Instrumente lauter werden, tut es auch Astbury und begeistert dabei. „A Cut Inside“ beginnt dann schon ein wenig härter als der Opener, lässt sich aber auch Zeit, sich vollends zu entwickeln. Und sobald der Song das getan hat, ballert es richtig schön los – aber melodisch, kurz vor Ende wird es ruhiger, dann ein Gitarrensolo und etwas Gesang, und dann brettern The Cult auf einmal richtig vorwärts, nach wenigen Sekunden ist das Stück zuende und „Pure Cult“ rückt einen Platz weiter nach hinten in der Playlist auf dem mp3-Player im kleinen roten Auto.

„Vendetta X“ ist nett und hörenswert und gibt vor allem Ian Astbury nochmal die Gelegenheit, seine Stimme so richtig bis zum Anschlag zu drehen. Und bevor ich es vergesse – die Produktion des Albums ist Wahnsinn: Jedes Instrument kommt so zur Geltung, wie es besser nicht ginge, und die Stimmung der Songs könnte nicht besser rüberkommen. Mit „Give Me Mercy“ gönnen The Cult dann zunächst der/dem Hörenden etwas Ruhe und lassen dann nochmal alles raus, was The Cult immer ausgemacht hat. Genauso geht es weiter auf „Outer Heaven“, und anschließend wird mit „Knife Through Butterfly Heart“ die erste Ballade auf dem Album erreicht. Akustikgitarre und sanfter Gesang leiten das Stück ein und ab Minute 2 wird es lauter, aber nicht schneller. Sehr stimmungsvoll und sehr schön. Und auch hier wird es gitarrenmäßig niemals breitbeinigrockig, sondern es bleibt immer weiter sehr schön stimmungsvoll düster. Danach folgt „Impermanence“ – was wieder mal toll an die 80er-Jahre-Gothic-Rock-Zeit von The Cult erinnert, und dann folgt der Titelsong. Er baut sich langsam auf, wird von wirklich guten Synthies getragen, Astbury singt unglaublich stimmungsvoll, der Song gewinnt nach und nach an Schmackes, Astbury muss gegen immer mehr Instrumente ansingen und behält letztlich die Oberhand. Fürwahr ein tolles Finale.

The Cult waren zunächst umwerfend, wurden dann größer und größer, wurden langweilig, berappelten sich und sind jetzt wieder relevant. Und Hammer, es gibt sie schon etwa 40 Jahre. Also auf die nächsten 40! Ach ja – inzwischen greife ich nicht mehr immer zu „Pure Cult“, sondern immer öfter auch zu „Under The Midnight Sun“, wenn ich The Cult hören möchte.