Von Matthias Bosenick (09.05.2023)
Die Beatles, ganz klar, vom ersten Ton an, und zwar die späten Beatles, die mit den Diamanten im Himmel und den Walrössern und den Erbeerfeldern und dem Garten eines Kraken und den gelben U-Booten, sind nicht nur die Inspiration, sondern die Ausgangslage für ein Album, auf dem zwei Musiker den Sound der psychedelischen Fab Four mit den Pilzköpfen aus Liverpool (fehlt noch ein Synonym?) im Hier und Jetzt zu neuen Songs im Beatles-Sound generieren. Das kriegen Richard Kersten und Marcus Ghoreischian recht überzeugend hin, man hört die typischen Spielweisen von John Lennon, Paul McCartney, Ringo Starr und George Harrison heraus, neu zusammengesetzt, mit Sitar, gently weeping guitar und der Aussicht auf Wings am Firmament. Die beiden Protagonisten nahmen diesen Songreigen bereits in den Nullern für sich und Freunde auf, das Label Bear Family bringt ihn jetzt als LP unter die Beatles-Fans. Solche werden daran sicherlich ihre Freude haben, und wer mit den Beatles ohnehin nix anfangen kann – nun: Der erkennt immerhin an, dass Kersten und Ghoreischian ihre Sache gut machen.
22-Pistepirkko – Kind Hearts Have A Run Run – Bare Bone Business/Johanna 2022
Von Matthias Bosenick (08.05.2023)
Und plötzlich sind sie wieder da. Elf Jahre nach dem letzten Studioalbum klingt „Kind Hearts Have A Run Run“, als wären 22 Pistepirkko – jetzt mit Bindestrich, also 22-Pistepirkko – nie weg gewesen, als gäbe es gar keine Lücke in der Discographie, als wären gar keine Zeit vergangen. Das Trio aus Finnland setzt einfach da an, wo man es erwartet, erhofft gar, bei fluffigem Indierock, mal filigran geklimpert, mal elektronisch verfettet, mal ungestüm, mal introvertiert, immer mit der fast weiblich klingenden hohen Stimme von Hannu Keränen alias P.K., in die man sich so verliebt hat, weil sie einzigartig und ausdrucksstark ist, egal, welche Musik dahinter liegt. Das Album ist oberflächlich unspektakulär, die Verzerrer haben hier nämlich weitgehend Atempause, aber die Details sind wunderschön. Darauf wartet man gern eine Dekade lang.
Shakin‘ Stevens – Re-Set – BMG 2023
Von Guido Dörheide (05.05.2023)
Wer, wie ich, in den 80ern im Westen aufgewachsen ist, kennt Shakin‘ Stevens aus seiner Kindheit, als er (also Shakin‘ Stevens, nicht ich) mehr Platten verkaufte als die Beatles (was kaum Wunder nimmt, denn damals gab es die Beatles seit über zehn Jahren nicht mehr, Shakin‘ Stevens hingegen umso mehr) und hat ihn zehn Jahre später, als sein (also mein) Musikgeschmack gebildet wurde, nicht vermisst und ihn höchstens mal abschätzig als „Schüttel-Stefan“, ein vergessenes Relikt aus längst verblichenen Erinnerungen an die Kindertage, geschmäht. Inzwischen liebe ich es, guilty pleasures anzuhäufen und Leute wie Lindenberg, Collins und Sting gut zu finden. Und ja, verdammt, ich habe das Alter erreicht, in dem ich das nicht nur darf, sondern beinahe schon muss. Nun also auch (und jetzt wird es Zeit für die Nennung des bürgerlichen Namens) Michael Barrat, mit den elastischen Beinen. Barrat ist kein Brite und kein Engländer, sondern Waliser, was mir damals herzlich egal war – von Tom Jones hatte ich nie gehört –, geboren 1948, nur ein gutes Jahr nach meinem Vater, und zur Zeit seiner ersten Karriere alles andere als ein Jungspund: Als er das noch war, spielte er bei „Shakin‘ Stevens and the Sunsets“ und trat sogar im Vorprogramm von den Rolling Stones (bekannt & beliebt durch den bekannten & beliebten Gassenhauer „The Under Assistant West Coast Promotion Man“) auf. Ab 1980 und schon ein Stück älter als 30 war er als Solokünstler dann ständiger Gast in den Charts. Mein Vater kaufte damals einen Volkswagen Golf I GLS in Indianerrot metallic, was ich ebenfalls toll fand. Leider sind beide schlecht gealtert: Beinahe alle Ier-Gölfe sind komplett weggerostet (hihi, also alle jetzt unfreiwillig indianerrot) und Shakin‘ Stevens ist komplett vergessen. Warum? Beim Golf ist mir das egal (notfalls hat Papa Schuld), aber Shakin‘ Stevens hat derlei Vergessen sicher nicht verdient: Ich habe nochmal in seine alten Hits wie „Marie Marie“ (1981) reingehört und musste feststellen, dass mir das heute noch taugt, auch wenn es mir damals (von sagen wir mal 1987 aus) rückblickend peinlich war, jemals was anderes als The Cure gehört zu haben. So, nun aber hier Exkurs Nostalgie Ende.
WeiterlesenBuchwald – Escape From What Life Is – Sireena 2023
Von Matthias Bosenick (05.05.2023)
Diesen Buchwald bekümmert mehr als lediglich eine Oberschenkelzerrung im linken Fuß, was ihn dazu verleitet, dunkle Musik zu machen: Andreas, nicht Guido, ist Ex-Mitglied der Hannoveraner Wave-Band Remain In Silence und setzt seine musikalischen Ausdruckformen nun erstmals solo fort. „Escape From What Life Is“ lautet der programmatische Titel eines dunklen, synthiebasierten, trippigen, atmosphärischen, percussiven, vielseitigen Albums, das man in den Achtzigern bestimmt ganz regulär unter Pop wegsortiert hätte, da waren solche Sachen ganz normal, heute ist dies komplett Nische. Da kann man beim Hören wirklich dem entfliehen, was das Leben so allgemeingültig sein soll, und das auf eine wundervolle Weise.
Dead Men Walking – Freedom – It Ain’t On The Rise – Eastersnow Recordings 2021
Von Matthias Bosenick (04.05.2023)
Hymnen! Aus der Zeit des ersten Punk und des ersten Postpunk und des ersten New Wave im United Kingdom, dargeboten von den Protagonisten jener Zeit, also den Erfindern dieser Musik, angereichert mit jüngeren und ganz neuen Songs jener Männer, allesamt in akustischen Versionen und – anders als sonst bei Dead Men Walking – ohne Publikum, sondern coronabedingt im Studio. Verwirrenderweise ist dieses das zweite oder dritte Debütalbum dieser mit Fug und Recht als solche bezeichneten Supergroup. Beteiligt sind: Kirk Brandon (Spear Of Destiny, Theatre Of Hate), John „Segs“ Jennings und Dave Ruffer (The Ruts/Ruts DC) sowie John „Jake“ Burns (Stiff Little Fingers). Und verdammt, ist das wieder gut gelungen, dieses Schwelgen im Früher mit dem Blick von heute!
Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: The Under Assistant West Coast Promotion Man oder unser schönstes Ferienerlebnis – ein Reisebericht
Von Onkel Rosebud / Guido Dörheide & Matthias Bosenick
Weil man auf Flugreisen keine Autos mitnehmen darf, fahren wir einmal im Jahr hier in Deutschland irgendwo hin, um uns zum Beispiel ein Hermannsdenkmal, einen Leipziger Hauptbahnhof, ein Ruhr- oder Saargebiet, Peine oder eine Schwebebahn anzusehen. In diesem Jahr ging es Ostern nach Saarbrücken, weil das Saarland das einzige deutsche Bundesland der Welt ist, durch das man nicht hindurch kommt, wenn man irgendwo anders hinfährt, weil es dazu einfach zu klein ist.
Um die Stimmung zu heben, hatten wir uns gegenseitig mit jeweils ca. neun Kassetten, auf denen nur das Lied „The Under Assistant West Coast Promotion Man“ von den Rolling Stones immer wieder hintereinander aufgenommen war, überrascht. Bereits während des ersten Drittels der Hinfahrt (also während der 80km Stau zwischen Seesen und Hannoversch-Münden) hatten wir die erste Hälfte dieser Kassetten angehört, und die Stimmung strebte schon auf den Siedepunkt zu, bevor die hessische Landesgrenze überhaupt erreicht war.
Weiterlesenзелёный дядя u сёрферы чёрной дыры – Коллективная безответственность – Black Hole Surfers 2023
Von Matthias Bosenick (03.05.2023)
Vier Songs, vier Genres: Endachtziger-The-Cure, Orgel-Surf-Sixties-Garage, Speed-Spacerock-Stoner und zuletzt Electro-Surf-Cowpunk-Polka, alles mit Druck und einer hörbaren schlechten Laune, angesichts der Lage, in der sich Musiker aus Russland befinden, die mit gewissen Aktivitäten ihrer Landesfürsten nicht einverstanden sind und dafür womöglich Repressalien zu erdulden haben, sowie einer grandiose Spielfreude, die es mit sich bringt, dass das Quartett зелёный дядя u сёрферы чёрной дыры (wörtlich: „Grüner Onkel und die Surfer des Schwarzen Lochs“, international: Black Hole Surfers) aus Нижний Новгород (Nischni Nowgorod) innerhalb ihrer Songs den ohnehin schon wilden Genres nicht treu bleiben und herumimprovisieren.
Teen Prime – Vol. 7 – Teen Prime 2023
Von Matthias Bosenick (02.05.2023)
Ein Fest für Numerologen: „Vol. 7“ ist nach „Vol. 4“ das zweite Album von Teen Prime. Der Rest sind EPs, von denen „Vol. 6“ jedoch noch gar nicht existiert, dafür ist das noch unbetitelte dritte Album des Duos bereits im Kasten. Ein Fest für Noiserock-Fans: Gitarrist Sebastian Fäth und Schlagzeuger Jörg A. Schneider dekonstruieren den Indierock, sie nehmen mit jedem Track einen vertrauten Anlauf und zerbröseln die Musik anschließend, mit unterschiedlichsten Mitteln. Damit sind Teen prime näher am NoWave der Achtziger als am Noisecore der Neunziger, näher am Jazz als am Rock, näher an sich selbst als an irgendwelchen Reglementierungen. Alles andere existiert ja bereits.
U2 – Songs Of Surrender – Island 2023
Von Matthias Bosenick (28.04.2023)
Der beste Witz ist natürlich, dass die Stadionrockband U2 ihr 40 Songs starkes Neueinspielungs-Vierfachalbum mit „One“ beginnen und mit „‚40‘“ enden lässt. Der zweitgrößte Witz ist, dass die Iren ihren Backkatalog überhaupt fleddern müssen, nach zwei reichlich miesen, ohnehin schon retrofixierten Alben, da steht Fürchterliches zu befürchten – doch das Durchhören der vier je 40 Minuten langen CDs dreht die Erwartungen um: „Songs Of Surrender“ ist, sagen wir mal vorsichtig – gut. Die alten Songs bekommen neue attraktive Facetten, die jüngeren Songs sind plötzlich hörbar, alles richtig gemacht. Diese neuen Facetten sind übrigens chillig, downbeatig, reduziert, entelektrifiziert, nicht auf die Kacke – so war es nicht zu erwarten, so lässt es sich aber – trotz Bonos sich nicht selten wieder übertrieben quäkig in die Gehörgänge windender Stimme – gut hören, musikalisch ist es nämlich, und dies ist offenbar hauptsächlich Multiinstrumentalist The Edge anzurechnen, einwandfrei. Der drittgrößte Witz wiederum ist, dass sie das grandiose und letzte überhaupt gute Album „No Line On The Horizon“ komplett außen vor lassen – das kann man ihnen mit Fug und Recht zur Last legen und es sagt dann doch wieder einiges über der Iren Verständnis von guten Songs aus. „October“ fehlt rätselhafterweise außerdem. Der viertgrößte: Weder „Surrender“ noch „Moment Of Surrender“ gehören zu den „Songs Of Surrender“.
Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: One evening, when I was still living
Von Onkel Rosebud / Uli Wirth
Das situative Arrangement: der Schreibtisch bedeckt. Poetae Latini Medii Aevi, Tomus 5, Fasc. 3. Hier Kopien (= Arbeit), dorten Opas Rotationsascher, vollbeschäftigt, auf Zuruf lustig piruettierend. Irgendwie die perfekte Symbiose aus Arbeit und Vergnügen. Bleistifte aller Härten und Geschmacksrichtungen, Unmengen an Papier und Schokolade, ein Gläschen Wein: eben alles, was zum Gelingen von universärer Heimarbeit beizutragen vermag.
Fehlt noch ein wenig Musik, die aber schnell gefunden ist: Meine Plattensammlung und ihr chronologisches Ordnungsprinzip! Wähle ein Exemplar meines Geburtsjahrgangs aus: I Wanna Be Your Dog, der richtige Song für die tägliche Fron, sofern man sich auf den Refrain bezieht.
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