Lars Fredrik Frøislie – Fire Fortellinger – Karisma Records 2023

Von Matthias Bosenick (26.05.2023)

Alles, was man vom klassischen Progrock so kennt, steckt in diesem Album, und zwar so sehr alles, dass man sich beim Durchhören bei all den seit 50 Jahren vertrauten Elementen fragt, wo denn die eigene Note von Lars Fredrik Frøislie steckt. „Fire Fortellinger“ ist sein – das ist der überraschende Aspekt: spontan und unredigiert zu Hause eingespieltes – Solodebüt, im anderen Leben spielt der Keyboarder aus Hønefoss in Norwegen unter sehr vielem anderem bei einer Progband namens Wobbler. Vier Geschichten, die Hälfte davon überlang, und ja, man erkennt keine Unterschiede in den Tracks, weil sie selbst schon so vermeintlich willkürlich zusammengesetzt sind, dass es auch 40 Geschichten sein könnten. Musikalisch und kompositorisch ist an dem Album im Grunde nix auszusetzen, besonders der Schlagzeugsound macht Laune, aber wer zwischen Genesis, Yes, King Crimson und Bo Hansson schon gut ausgestattet ist, hört entweder nix anderes und braucht dann dieses Album auch ganz dringend – oder hat einen noch viel weiteren Horizont und braucht es dann eben gerade nicht.

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Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Der Gläserne Gang

Von Onkel Rosebud / Manja Barthel

Die Welt besteht aus Dingen, die einen Namen haben. Doch wir alle wissen – da gibt es noch mehr. Für bestimmte Geschehnisse gibt es einfach keine Worte. Vielleicht brauchen zu wenige Menschen für ein und dieselbe Sache eine Bezeichnung, weil sie mit dieser Sache kaum oder nie in Verbindung kommen. So gibt es Worte, die irgendwann einmal erdacht und benutzt wurden, und dennoch weiß heute kaum noch jemand, dass sie existieren. „Nupturient“ zum Beispiel ist ein Wort in juristischen Texten, es beschreibt einen Heiratswilligen; „Nyktitropie“ ist die Schlafbewegung der Pflanzen und „kuranzen“ steht für schikanieren. Diese Worte verschwinden so nach und nach aus dem Duden.

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VNV Nation – Electric Sun – Anachron Sounds 2023

Von Guido Dörheide (23.05.2023)

VNV Nation gibt es schon ewig, dennoch habe ich mich erst mit „Electric Sun“ mit ihnen beschäftigt. Bis dahin kannte ich immer nur Remixes, die Ronan Harris von anderen Elektro-Tracks gemacht hat und bei denen irgendwann immer so ein Kirmes-Synthie-Stakkato einsetzte, das mich und den Herrn Van Bauseneick immer köstlich amisürte. Irgendwann haben wir uns einen Spaß draus gemacht, VNV-Nation-Remixes zu hören, auf den Synthie-Einsatz zu warten und gemeinsam loszulachen, während wir wild lautmalend zu zwei Synthies mutierten. Waren wir albern?

Wir nicht, VNV Nation hingegen schon! Überhaupt, was ist das für ein Bandname? Warum/Wofür beneiden wir die Nation? Nein, „VNV“ steht für „Victory Not Vengeance“, OK, das ist gut, weil Rache ist zwar Blutwurst (lecker!), macht aber auch blind und wird außerdem ausschließlich kalt serviert, wie Gazpacho, dem ich ebenfalls nichts abgewinnen kann.

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Ashinoa – L’Orée – Fuzz Club Records 2023

Von Matthias Bosenick (24.05.2023)

„L’Orée“ ist eine Wundertüte: Das Quintett Ashinoa aus Lyon bringt so ziemlich alles an Genres unter, worauf es Bock hat, und weil es darauf Bock hat, auch noch überzeugend kombiniert. Dub, Trance, Dance, Ethno, Ambient, Noiserock, IDM, Electroswing, Drone, alles organisch und warm trotz Elektronik, immerhin hat es gleich fünf Leute, die die Musik erzeugen, da sind mehr als nur Synthies im Fuhrpark untergebracht. Ausgangslage für die Band ist eigentlich der Krautrock, heißt es, und wenn „L’Orée“ ein Weiterdenken dieser Spielart sein soll, dann denken Ashinoa begrüßenswert weit weiter.

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Chris Staples – Cloud Souvenirs – Hot Tub Recordings 2023

Von Matthias Bosenick (23.05.2023)

Ganz sanft und feinfühlig singer-songwritert Chris Staples auf seinem neuen Album „Cloud Souvenirs“, man muss es schon laut aufdrehen, um alle Facetten zu erfassen, und Facetten hat es einige. Wenn er sich nicht einfach wie, sagen wir mal, Nick Drake auf der Akustikgitarre begleitet, erinnern manche ausformulierte Stücke an schaumgebremste Americana oder die Fleetwood Mac der Siebziger. Staples hat keine Eile, und es tut gut, seiner entschleunigten Vorgehensweise ausgesetzt zu sein. Der Mann scheint einiges erlebt zu haben und gebärt sich angenehm reflektiert.

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Therapy? – Hard Cold Fire – Marshall Records 2023

Von Guido Dörheide (22.05.2023)

Dass ich wegen Therapy?s „Potato Junkie“ einst zum Fan der Literatur von James Joyce wurde, ist dank Onkel Rosebuds neuester Veröffentlichung auf diesen Seiten hinlänglich bekannt. Seinerzeit lebte ich im WRG, in der Döringstraße, in einer WG mit meinem unglaublich einzigartigen, warmherzigen und witzigen Mitbewohner Jens. Jens hörte gerne Stromgitarrenmusik der leicht härteren Sorte und immer wieder kam es vor, dass ich fragte, was er da höre, da es schön klänge, und immer wieder antwortete er mit „Therapy?“. Also ging ich nach kurzer Zeit dazu über, jedesmal, wenn ich schöne härtere Gitarren-Indie-Musik aus seinem Zimmer hörte, einfach zu fragen „Therapy?“, um sogleich ein „Jep“ zu ernten.

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Ghost – Phantomime – Loma Vista/Reaktor Recordings/Universal 2023

Von Guido Dörheide (22.05.2023)

Kann man zu „Jesus He Knows Me“ headbangen? Abgesehen davon, dass Phil Collins eh eins meiner Guilty Pleasures ist (obwohl ich nach „Invisible Touch“ bei Genesis ausgestiegen bin und danach nur noch Collins solo gehört habe, jahaaaa! Minutenlange Schlagzeugsoli als Konzerteinstieg… äääh, Moment, ich schweife ab) – ja verdammt, das geht voll gut! Ghost (ein weiteres meiner Guilty Pleasures) haben das Stück auf ihrer neuen EP „Phantomime“ (so habe ich das als Kind auch versehentlich immer geschrieben) gecovert, und obwohl sie es sehr nah am Original beließen, geht es direkt in die Nackenmuskulatur (äääh, ich glaube, wegen eben dieses Effektes überlässt Phil C. das Schlagzeugspielen inzwischen seinem Sohn?).

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Tamikrest – Taksera – Glitterbeat 2015

Von Matthias Bosenick (22.05.2023)

Endlich erfährt die streng limitierte Liveplatte von Tamikrest eine Wiederveröffentlichung! „Taksera“ erschien bereits 2015 auf LP und 2017 auf CD und war nur am Record Store Day sowie bei Konzerten der Tuareg-Wüstenblueser aus Mali zu haben – was selbst beim Auftritt im Hallenbad Wolfsburg nicht mehr der Fall war. Die Tanzparty „Taksera“ deckt das Repertoire der ersten drei Studioalben ab und dokumentiert die ausufernde Spielfreude der Band, die sich zwar grundsätzlich an ihre eigenen Vorgaben hält, aber sich gern selbst in Trance spielt und die Stücke so noch hypnotischer ausufern lässt. Es bleibt jedoch lediglich eine konservierte Erinnerung daran, was für eine mitreißende Liveband Tamikrest sind – das zu erleben sollte Ziel sein, „Taksera“ ist ein Kompromiss, ein Dokument. Ein gutes.

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Seven Impale – Summit – Karisma Records 2023

Von Matthias Bosenick (19.05.2023)

Diese Band will ganz viel, und sie quetscht ganz viel in nur ein Album. „Summit“ hat nur vier Tracks, aber 2.358.973.405 Genres, alles, was irgendwie mit Gitarre, Bass, Schlagzeug sowie Keyboard und Saxophon geht, weil man heavy Progrock und Jazz zusammenschieben will, alles ordentlich durchmischt und damit seine Virtuosität zum Ausdruck bringt, weil man ja auch alles richtig gut beherrscht. Was den progrocktypischen Nachteil hat, dass man die Trackindizes als willkürlich und die einzelnen Bausteine innerhalb der Tracks nicht als zueinander gehörend empfindet. Anders gesagt: „Summit“, das dritte Album der sechs Norweger, ist gut gespielt, aber anstrengend. Operngesang zwischendurch macht den Genuss nicht eben einfacher.

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Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Géill Slí. Der Katechismus der Pedestrian Church Of Ireland

Von Onkel Rosebud / Guido Dörheide & Matthias Bosenick

Ein Fragment.

§1 Außenspiegel im Rechtsverkehr

Mit dem Flugzeug im Urlaub? Ergibt auf jeden Fall Sinn, wenn man vom Heimat- zum Urlaubsland von Rechts- auf Linksverkehr wechselt. Da hat man dann nämlich eigentlich keine wirkliche Umstellung: Parkt am Heimatflughafen das Auto gewohnt rechtsverkehrig weg, steigt in „den Flieger“ (wir machen jetzt nicht den Hinterfrager, wo dieser Formulierer jetzt herkommt), also betritt zunächst, verlässt dann das Luftfahrzeug (das ist die offizielle Bezeichnung, obwohl es ja gar nicht fährt, sondern fliegt, es sei denn, es ist leichter als Luft) und marschiert direkt zum Mietwagenschalter und nimmt die Plätze ein. Was in Irland für uns Kontinentaleuropäer bedeutet: Der Fahrer nimmt Platz, dort, wo gewohnheitsmäßig der Beifahrer sitzt. Die Umstellung auf den Linksverkehr erforderte von uns nach der Landung in Dublin ohnehin so einige Extrarunden im Kreisverkehr. Hatte sich was mit dem Vorhaben, die Sache erstmal auf dem Autoverleihparkplatz zu üben – wir mussten den sofort verlassen. Setzten uns also jeweils als Fahrer im Opel rein (wohlgemerkt kein Vauxhall, der Irländer scheint also Wert darauf zu legen, nicht ohne Not ein Produkt des ungeliebten Besatzers zu verwenden), natürlich rechts, schauen nach schräg links oben, stellen fest, dass der elektrisch außenverstellte Innenspiegel nicht passt, hoben die Hand und – BLAM!!! – es war die vom Kontinent gewohnte rechte Hand, die zum Behufe der Spiegelverstellung emporschnellte und laut knallend von innen an der Innenseite der vermeintlichen Beifahrertür zerstob. Weil das aber nicht reicht, öffneten wir zunächst bei jedem Schaltvorhaben die Fahrertür und bremsten auf der Autobahn die Überholspur aus. Das würde uns jetzt den Rest der Reise begleiten. Ebenso wie die Kontinentalwende: Sobald wir feststellten, dass wir in der verkehrten Himmelsrichtung unterwegs waren, suchten wir eine Einmündung rechts oder links und sahen zu, dass wir diese entweder im Uhrzeigersinn oder gegen den Uhrzeigersinn wieder verließen. Auf jeden Fall immer so, dass der Linksverkehr dazu führte, dass wir uns nach Beendigung eines halben Wendemanövers Auge in Auge mit dem Gegenverkehr konfrontiert sahen. Aber egal, wir haben’s überlebt und die Irländer sind immer noch Members of the EU – What shall’s, wie der anglophone Miteuropäer so sagen tut. Kaum hatten wir einige Übung, am dritten Tag unserer in Dublin gestarteten Inselrundreise, wurden wir über Nacht des Fahreraußenspiegels beraubt.

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