Jemek Jemowit – Zemsta – Fabrika/Atypeek 2011/2023

Von Matthias Bosenick (19.10.2023)

Jemek Jemowit muss seit 2011 einiges an Gefolgschaft gewonnen haben, dass man sein Debüt „Zemsta“, das 2011 auf einem kleinen griechischen Label erschien, zwölf Jahre später erneut veröffentlicht – denn für eine erwartbare breite neue Hörerschaft ist es sicherlich nicht bestimmt, dafür ist es viel zu freakig. Wie der ganze Typ, der wiederum genau deshalb für Aufmerksamkeit sorgt, zumindest in Berlin, und was da passiert, ist ja seit jeher global relevant. Mit klar an den Achtzigern orientierten Synthie-Sounds kreierte Jemowit mit „Zemsta“ ein satirisches Album zwischen Proto-NDW, Minimal-EBM, Düster-Techno und Gruft-Rap. Wären die Beats fetter, fielen einige der Stücke in Ihrer favorisierten Gothic-Disco sicherlich gar nicht weiter auf. Bitte Zwischen DAF, Kraftwerk, Laibach und Die Trottelkacker einsortieren.

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Roger Waters – The Dark Side Of The Moon Redux – SGB/Cooking Vinyl 2023

Von Guido Dörheide (08.10.2023)

Wir alle kennen diese Memes – Roger waters while Robert plants. Und Tom waits. In the collosseum von mir aus, Hauptsache nicht in Hörweite dieses Machwerks; ehrlich gesagt wünsche ich es niemandem, nicht mal meinem Spezial-Spezi Hermann, das hier am Stück anhören zu müssen.

Eigentlich dürfte man „The Dark Side Of The Moon Redux“ nicht mal ignorieren, aber als katalytischer Konverter zur Überwindung meiner mich seit einigen Wochen heimsuchenden Schreibblockade nehme ich es gerne. Also okay, Sparringspartner, jetzt gibt es auf die Fresse!

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Neil Young – Chrome Dreams – Reprise Records 2023

Von Guido Dörheide (12.08.2023)

Aurora Borealis. The icy sky at night. Ohne Scheiß: Erst durch Neil Young weiß ich, dass Marlon Brandos Nachname sich nicht „Brandow“ (gelegen in Brandenburg?) ausspricht, sondern „Brändoh“. Und durch ihn – und nicht durch den 1995er Diseney-Film oder durch das Ikke-Hüftgold-Remake von AnnenMayKantereits eigentlich nicht zu beanstandenden Song aus [dem Jahr] 2016, den ich auf zahlreichen Silberhochzeiten meiner Jahrgangsgenossen über mich ergehen lassen musste (und ich verstehe immer noch nicht, warum auch immer „Kling Klang“ von Keimzeit in diesem Zusammenhang gespielt wird, eigentlich doch auch ein tolles Lied – scheißegal, ich lasse das Lasso drinne und schreibe einfach mal weiter, was mir so einfällt.) Also Wurscht: Marlon Brando, Pocahontas and me. So soll es sein für alle Zeit. Und dieser Song war für mich immer verknüpft mit Neil Youngs 1979er Album „Rust Never Sleeps“. Und das war für mich DAS bahnbrechende Young-Album: Die erste Hälfte akustisch mit „My My, Hey Hey“ und die zweite Seite elektrisch mit „Hey Hey, My My“ – jawiegeiel, und die restlichen Songs waren auch Weltklasse.

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John Coltrane with Eric Dolphy – Evenings At The Village Gate – Impulse! 2023

Von Guido Dörheide (02.08.2023)

Vorsicht! Der Titel dieser Aufnahme aus dem Jahr 1961 ist in extremer Weise irreführend. Ein Schelm, der denkt, hier handele es sich um eine Aufnahme von John Coltrane und Eric Dolphy, die gemeinsam auf ihren Saxofonen musizieren. Weit gefehlt: Neben Coltrane am Tenor- und Sopransaxofon und Dolphy am Altsaxophon, auf der Klarinette und der Flöte wirkten auf „Evenings At The Village Gate“ niemand Geringere als Elvin Jones am Schlagzeug und McCoy Tyner am Klavier mit. Also einer DER modernen Jazz-Drummer überhaupt und einer der vielbeschäftigtsten, weil besten Jazzpianisten seiner Zeit. Beide arbeiteten mit Coltrane einige Jahre später unter anderem auf dessen Jahrtausendwerk „A Love Supreme“ zusammen. Und mit zahlreichen weiteren Jazzgrößen ebenso.

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Streetmark – Nordland – Sky Records 1975/Sireena 2023

Von Matthias Bosenick (01.08.2023)

Wer fast eine Dekade für sein Debütalbum braucht, weil er die Zeit davor zunächst als Coverband und bald mit Eigenkompositionen herumtourt, hat in der Regel für seinen Auftakt eine Menge erprobtes und grandioses Material zusammen, und diese Regel ist auch auf die Düsseldorfer Band Streetmark anwendbar. Mit einer klassischen Ausbildung und aus der Lehre bei den Größen des noch relativ jungen Progrocks entwickelten Streetmark einen eigenen Sound, der Rockmusik mit Orgel und Klassik kombiniert, was das frische Label Sky Records 1975 dazu bewegte, die Band gleich für alle vier Alben unter seine Fittiche zu nehmen. Sireena wirft das Debüt „Nordland“ nun auf CD wieder in den Ring, und es klingt erstaunlich frisch für seine 48 Jahre.

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Charly Maucher – Performance – Teldec 1980/Siereena 2023

Von Matthias Bosenick (27.07.2023)

Es gibt mehr in Hannover als die Scorpions, jaja! Norbert „Charly“ Maucher ist so einer, leider: war so einer, er verstarb vor vier Jahren an Leukämie. Berühmt wurde er durch seine Mitgliedschaft bei der Progrock-Band Jane, und 1980, einige Zeit nach seinem Ausstieg dort sowie zwischen diversen weiteren Engagements, nahm er sein Soloalbum „Performance“ auf. Das klingt erstaunlicherweise weniger nach Kraut oder Prog, sondern mehr nach Nordamerika, nach Classic Rock, nach Südstaaten-Rock, nach Hippie-Rock, nach US-Folk-Rock (also Country und Western), von allem gottlob die unplakative Variante, also ohne Posen, dafür mit filigran gespielten kontemplativen Songs im unteren Midtempo. Eine schöne kleine Perle, die Sireena da wieder entdeckt!

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Octopus – The Lost Tape – Sireena 2023

Von Matthias Bosenick (17.07.2023)

Das ist Pech, wenn noch vor dem Beginn der Karriere gleich das erste auf Tape aufgenommene Album verschwindet und man erst mit dem zweiten Album debütieren kann. So wiederfuhr es Octopus, der Progrockband aus Frankfurt am Main, im Jahre 1974, knappe zwei Jahre nach Bandgründung. Immerhin wurde das Label Sky Records durch eine Kopie der Mondial-C60-Kassette auf die Band aufmerksam und nahm sie für drei ihrer vier Alben unter Vertrag. Sängerin Jennifer Kowa, damals Hensel, entdeckte das Tape 2022 unter einem Gewühl von Kassetten ihrer späteren Band The Radio wieder und überließ es Tom „The Perc“ Redecker zur Überarbeitung. Der veröffentlicht es nun als als Epilog nachgeschobenen Prolog der vier offiziellen Alben auf seinem Label Sireena, eben als „The Lost Tape“, und macht diese Mittsiebziger-BRD-Kraut-Prog-Perle fast 50 Jahre später wieder zugänglich.

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Frank Zappa – Funky Nothingness – Zappa Records 2023

Von Guido Dörheide (11.07.2023)

Mit Anfang 20 hatte ich mir vorgenommen, mich mit Jazz zu beschäftigen. Miles Davis war tot und ich hielt ihn für ein Arschloch, von Weather Report hatte ich noch nie gehört und – ganz ehrlich – von allen anderen Jazz-Musikern mit Ausnahme der Monday Evening Stompers, bei denen mein früherer Schulleiter spielte, auch noch nicht. Jazz war für mich Dixieland, und um meinen Horizont zu erweitern (und weil es mich irgendwie beeindruckt hatte, dass Robert Wyatt betrunken aus dem Fenster gefallen und seitdem querschnittsgelähmt ist, was ihn nicht davon abhielt, solo und mit Matching Mole diverse Klassiker rauszuhauen), begann ich mich mit Soft Machine zu beschäftigen, die mir erstmal knapp 30 Jahre lang zu sperrig erschienen, bis ich sie endlich ins Herz schloss.

Um Zappa (den meine Zeitgenossen konsequent „Zappa“ aussprechen) habe ich eh immer einen Bogen gemacht. Zu versponnen, der Typ, obwohl „Bobby Brown Goes Down“ schon immer toll war, bevor ich die 20 erreichte und mir später auch von der Aussage her den Zappa recht sympathisch machte.

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Raymond Macherot – Anatol gegen die schwarzen Ratten (Chlorophylle contre let rats verts/Chlorophylle et les conspirateurs) – Carlsen 2023

Von Matthias Bosenick (10.07.2023)

Nachdem die Comics von Raymond Macherot ohnehin erst verspätet und dann noch stiefmütterlich in Deutschland publiziert wurden, besinnt sich der Carlsen-Verlag jetzt des belgischen Comiczeichners mit der klaren Linie und bringt dessen Debütalbum inklusive Fortsetzung um den anthropomorphen Anti-Disney-Gartenschläfer (keine Brillenmaus!) Anatol (im Original Chlorophylle) neu getextet (der Hinweis darauf fehlt komplett, sieht man davon ab, dass mit Marcel Le Comte der gegenwärtige Carlsen-Standard-Übersetzer erwähnt ist und nicht Uta Benz-Lindenau), mit einigen Ergänzungen und als Hardcover abermals nach 1983 in den Handel, jetzt mit „gegen“ statt „und“ im Titel. Man spürt diesem Doppelband an, dass der Zweite Weltkrieg 1956 noch tief saß; nicht, dass es hier explizit gegen Nazis geht, aber der Überfall einer Rattenpopulation auf ein friedliches Tal voller lieblicher Kleintiere, die in den Widerstand gezwungen werden, legt gewisse Assoziationen nahe. Diese Neuauflage darf der Anlass sein, dieses Mal mehr als nur sieben Bände in fünf Büchern und auch nur mehr als diese Serie herauszubringen; „Sibylline“, „Mirliton“, „Isabelle“ und „Chaminou“ drängen sich noch auf, um „Percy Pickwick“ hingegen braucht man sich ja keine Sorgen zu machen.

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Phillip Boa And The Voodooclub – Boaphenia 30 – Capitol/Universal 2023

Von Matthias Bosenick (14.06.2023)

Schon wieder versteckt Phillip Boa ein neues Album hinter alter Musik, schon wieder veröffentlicht er „Boaphenia“ mit Bonus, schon wieder fühlt man sich als Allessammler abgezockt. Zehn neue Songs spielte Boa mit seinem gegenwärtigen Voodooclub ein, nennt das so entstandene Album „The Porcelain Files“ und verkauft es ausschließlich an die Leute, die die erweiterte Neuauflage seines 30 Jahre alten Indiepoprock-Hit-Albums „Boaphenia“ erwerben. Heißt: Man gibt zwischen 20 und fast 70 Euro dafür aus, je nach Format, Doppel-CD oder dicke Box mit noch mehr Bonus. Im Geiste von und auf Basis verworfener „Boaphenia“-Songs sei das neue Material entstanden, inklusive Pias gesampelter Stimme, und diesen Hinweis hätte es eigentlich nicht gebraucht, es ist Phillip-Boa-Musik, sie ist großartig – aber längst nicht mehr so räudig wie die seines halb so alten Alter Egos. Abermals reichen sich bei Boa frech und grandios die Hand. Man möchte einen anderen Ruhrpottmusiker zitieren: Was soll das?

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