Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: The Under Assistant West Coast Promotion Man oder unser schönstes Ferienerlebnis – ein Reisebericht

Von Onkel Rosebud / Guido Dörheide & Matthias Bosenick

Weil man auf Flugreisen keine Autos mitnehmen darf, fahren wir einmal im Jahr hier in Deutschland irgendwo hin, um uns zum Beispiel ein Hermannsdenkmal, einen Leipziger Hauptbahnhof, ein Ruhr- oder Saargebiet, Peine oder eine Schwebebahn anzusehen. In diesem Jahr ging es Ostern nach Saarbrücken, weil das Saarland das einzige deutsche Bundesland der Welt ist, durch das man nicht hindurch kommt, wenn man irgendwo anders hinfährt, weil es dazu einfach zu klein ist.

Um die Stimmung zu heben, hatten wir uns gegenseitig mit jeweils ca. neun Kassetten, auf denen nur das Lied „The Under Assistant West Coast Promotion Man“ von den Rolling Stones immer wieder hintereinander aufgenommen war, überrascht. Bereits während des ersten Drittels der Hinfahrt (also während der 80km Stau zwischen Seesen und Hannoversch-Münden) hatten wir die erste Hälfte dieser Kassetten angehört, und die Stimmung strebte schon auf den Siedepunkt zu, bevor die hessische Landesgrenze überhaupt erreicht war.

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зелёный дядя u сёрферы чёрной дыры – Коллективная безответственность – Black Hole Surfers 2023

Von Matthias Bosenick (03.05.2023)

Vier Songs, vier Genres: Endachtziger-The-Cure, Orgel-Surf-Sixties-Garage, Speed-Spacerock-Stoner und zuletzt Electro-Surf-Cowpunk-Polka, alles mit Druck und einer hörbaren schlechten Laune, angesichts der Lage, in der sich Musiker aus Russland befinden, die mit gewissen Aktivitäten ihrer Landesfürsten nicht einverstanden sind und dafür womöglich Repressalien zu erdulden haben, sowie einer grandiose Spielfreude, die es mit sich bringt, dass das Quartett зелёный дядя u сёрферы чёрной дыры (wörtlich: „Grüner Onkel und die Surfer des Schwarzen Lochs“, international: Black Hole Surfers) aus Нижний Новгород (Nischni Nowgorod) innerhalb ihrer Songs den ohnehin schon wilden Genres nicht treu bleiben und herumimprovisieren.

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Teen Prime – Vol. 7 – Teen Prime 2023

Von Matthias Bosenick (02.05.2023)

Ein Fest für Numerologen: „Vol. 7“ ist nach „Vol. 4“ das zweite Album von Teen Prime. Der Rest sind EPs, von denen „Vol. 6“ jedoch noch gar nicht existiert, dafür ist das noch unbetitelte dritte Album des Duos bereits im Kasten. Ein Fest für Noiserock-Fans: Gitarrist Sebastian Fäth und Schlagzeuger Jörg A. Schneider dekonstruieren den Indierock, sie nehmen mit jedem Track einen vertrauten Anlauf und zerbröseln die Musik anschließend, mit unterschiedlichsten Mitteln. Damit sind Teen prime näher am NoWave der Achtziger als am Noisecore der Neunziger, näher am Jazz als am Rock, näher an sich selbst als an irgendwelchen Reglementierungen. Alles andere existiert ja bereits.

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U2 – Songs Of Surrender – Island 2023

Von Matthias Bosenick (28.04.2023)

Der beste Witz ist natürlich, dass die Stadionrockband U2 ihr 40 Songs starkes Neueinspielungs-Vierfachalbum mit „One“ beginnen und mit „‚40‘“ enden lässt. Der zweitgrößte Witz ist, dass die Iren ihren Backkatalog überhaupt fleddern müssen, nach zwei reichlich miesen, ohnehin schon retrofixierten Alben, da steht Fürchterliches zu befürchten – doch das Durchhören der vier je 40 Minuten langen CDs dreht die Erwartungen um: „Songs Of Surrender“ ist, sagen wir mal vorsichtig – gut. Die alten Songs bekommen neue attraktive Facetten, die jüngeren Songs sind plötzlich hörbar, alles richtig gemacht. Diese neuen Facetten sind übrigens chillig, downbeatig, reduziert, entelektrifiziert, nicht auf die Kacke – so war es nicht zu erwarten, so lässt es sich aber – trotz Bonos sich nicht selten wieder übertrieben quäkig in die Gehörgänge windender Stimme – gut hören, musikalisch ist es nämlich, und dies ist offenbar hauptsächlich Multiinstrumentalist The Edge anzurechnen, einwandfrei. Der drittgrößte Witz wiederum ist, dass sie das grandiose und letzte überhaupt gute Album „No Line On The Horizon“ komplett außen vor lassen – das kann man ihnen mit Fug und Recht zur Last legen und es sagt dann doch wieder einiges über der Iren Verständnis von guten Songs aus. „October“ fehlt rätselhafterweise außerdem. Der viertgrößte: Weder „Surrender“ noch „Moment Of Surrender“ gehören zu den „Songs Of Surrender“.

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Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: One evening, when I was still living

Von Onkel Rosebud / Uli Wirth

Das situative Arrangement: der Schreibtisch bedeckt. Poetae Latini Medii Aevi, Tomus 5, Fasc. 3. Hier Kopien (= Arbeit), dorten Opas Rotationsascher, vollbeschäftigt, auf Zuruf lustig piruettierend. Irgendwie die perfekte Symbiose aus Arbeit und Vergnügen. Bleistifte aller Härten und Geschmacksrichtungen, Unmengen an Papier und Schokolade, ein Gläschen Wein: eben alles, was zum Gelingen von universärer Heimarbeit beizutragen vermag.

Fehlt noch ein wenig Musik, die aber schnell gefunden ist: Meine Plattensammlung und ihr chronologisches Ordnungsprinzip! Wähle ein Exemplar meines Geburtsjahrgangs aus: I Wanna Be Your Dog, der richtige Song für die tägliche Fron, sofern man sich auf den Refrain bezieht.

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Ziehe Du endlich diesen Herbstpulli aus: Yo La Tengo – Live in Huxleys Neuer Welt, Berlin, 25. April 2023

Von Onkel Rosebud (25.04.2023)

Einer meiner besten Freunde und meine seit über 20 Jahren im Verkehr befindliche Tochter haben gemeinsam, dass sie eine Wollmütze mit „YLT“-Initialen besitzen. Als sie zu Hause auszog, hat sie heimlich drei Dinge von mir mitgehen lassen. Neben meiner gestrickten Yo-La-Tengo-Haupthaarbedeckung, die Schallplatte „To Bring You My Love“ von PJ Harvey und ein schweres Schraubdings aus Edelstahl, wo man kleine, sehr persönliche Dinge reintun oder einem Einbrecher eine schwere Kopfverletzung zufügen kann. Ich toleriere das, weil keiner der über 30 Tonträger, die ich von der Formation aus Hoboken besitze, dabei war. Die sind mir heilig. Ich halte die Band für die Quintessenz des Indierocks und gönne ihnen, dass der kommerzielle Erfolg mit ihrer Musik seit fast 40 Jahren ausbleibt, weil nur ausgewählte, kaltherzige, geschmackssichere Dödel wie ich ihre Gassenhauer mitsummen sollen und nicht jeder Dorsch.

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Sacred Son – Privolva – Sacred Son 2023

Von Matthias Bosenick (25.04.2023)

Wenn man Black Metal und Dark Ambient mixt, ist das dann automatisch Doom? Kommt darauf an, welche Komponenten man vermengt und welcher Schleudergang eingestellt ist. „Privolva“ ist der zweite Ansatz der englischen Black-Metal-Band Sacred Son, diese Mixtur zu generieren, und das Quartett, das hier wieder auf Initiator Dane Cross mit zweifacher Hilfe von Schlagzeuger Jamie Tatnell zurückreduziert auftritt, erfüllt die Gemengelange eher Schritt um Schritt, als als tatsächliches Crossover. Heißt: Das halbe Dutzend Stücke dieses kaum halbstündigen Albums wechselt die Buxen Track um Track, anstatt wirklich aus Black Metal und Dark Ambient ein eigenes Genre zu kreieren, wie es das Black Yo)))ga Meditation Ensemble etwa vollzog. Nicht schlimm, das Album ist trotzdem geil, weil Cross sich einfach auf allen Parketts unfallfrei bewegt. Und so weit weg voneinander sind die beiden Grundgenres in der postmodernen Herangehensweise heutzutage ohnehin nicht mehr.

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Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Paganini und Philosophie

Von Onkel Rosebud/Alexander Rösler

An Virtuosen habe ich immer bewundert, dass sie etwas können. Ich selbst habe Philosophie studiert. Die Frage, auf die ich meistens antworten musste, lautete in etwa: Was willst Du denn damit mal machen? Paganini hat das sicher niemand gefragt. Er hat seine Geige ausgepackt und einfach gespielt. Das war Antwort genug. Und ich muss sagen, nach dem Spiel von Paganini hätte auch ich nichts mehr gefragt. Obwohl Philosophie darin besteht, zu jeder Selbstverständlichkeit noch eine Frage parat zu haben. Vielleicht habe ich mich deshalb schon früh für Philosophie interessiert, so mit sechzehn. Ich habe auch Geige gespielt, um das gleich mal zu verraten. Mit zehn Jahren habe ich angefangen und kannte zum Glück Paganini noch nicht. Heute denke ich, dass ich in dem Fall damals meine Kindervioline aus dem familiären Bestand gleich wieder in den Kasten gelegt hätte. Auf mein Interesse an Philosophie hätte das keine Auswirkungen gehabt. Im Gegenteil, manchmal bin ich der Meinung, ich hätte einfach noch früher damit angefangen. Diesmal wahrscheinlich, um Antworten zu finden.

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Metallica – 72 Seasons – Blackened 2023

Von Guido Dörheide (15.04.2023)

Ich habe lange überlegt, ob und warum ich hier etwas über das neue Album von Metallica schreiben sollte. Eine Band, die mich seit kurz nach 1991 eigentlich nur noch ankotzt. Eine Band, die vier großartige Alben gemacht hat, von denen das letzte lausig produziert war. Eine Band, die damals, also vor 1991, zum Härtesten und textlich Unverdaubarsten gehörte (also aus meiner damaligen, kindlichen Sicht), das ich kannte, und auf die sich seit knapp 30 Jahren die ganze Welt einigen kann und deren beknackte Symphonieorchestereskapaden aus welchen Gründen auch immer irgendwie außer bei mir nicht unforgiven sind. Warum also? Was haben Metallica sozusagen je für mich getan?

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De Staat – Live in der 60er-Jahre-Halle im Faust, Hannover, am 14. April 2023

Text und Fotos von Guido Dörheide und Matthias Bosenick (15.04.2023)

Was für eine Präsenz! Sobald Torre Florim als letzter des Quintetts De Staat aus Nijmegen die Bühne betritt, kniet die Gemeinde nieder. Ihm würde man alles abnehmen, sich unterordnen, sich leiten lassen. Und so geschieht es auch im Faust in Hannover. Da ist es auch egal, ob man die Musik wirklich letztgültig feiert oder nicht, der Mann im mattsilbrig glänzenden Anzug, mit dem todernsten, furchteinflößenden und fordernden Gesichtsausdruck und den suggestiven Bewegungen fordert alle Aufmerksamkeit ein. Und kann sich doch auch mal, sobald die Band keinen synthetischen White-Man’s-Funk spielt, sondern ins Psychedelische abtaucht, hinter den Songs zurücktreten. Eine Naturgewalt! Und sympathisch.

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