Von Matthias Bosenick (11.07.2023)
Tief in den Achtzigern verwurzelt ist das Quartett Les Longs Adieux aus Rom, das auf seinem Debütalbum „Piccolo Dizionario Di Parole Fraintese“ Goth Rock, New Wave und Post Punk zu einem tanzbaren Gruft-Retro-Album zusammenträgt. Kennt man alles schon, nur nicht auf Italienisch und mit einem Gesang, der so kraftvoll ist wie der von Keyboarderin Federica Garenna. Da dringt mehr Antonella Ruggiero von Matia Bazar durch als Siouxsie Sioux, so mit Vibrato und Nachdruck. Die Musik ihrer drei Mitspieler bedient elektronisch und analog die genannten Genres, eben mit einem italienischen Einschlag: Die mediterrane Sonne scheint, ja, nur scheint sie eher in Grautönen mit diversen irisierenden Effekten darin. Und der Gesang ist einfach mal der Knaller, der beraubt die Gruftmucke bei allen Stereotypen jeglicher Weinerlichkeit.
Archiv des Autors: Van Bauseneick
Frank Zappa – Funky Nothingness – Zappa Records 2023
Von Guido Dörheide (11.07.2023)
Mit Anfang 20 hatte ich mir vorgenommen, mich mit Jazz zu beschäftigen. Miles Davis war tot und ich hielt ihn für ein Arschloch, von Weather Report hatte ich noch nie gehört und – ganz ehrlich – von allen anderen Jazz-Musikern mit Ausnahme der Monday Evening Stompers, bei denen mein früherer Schulleiter spielte, auch noch nicht. Jazz war für mich Dixieland, und um meinen Horizont zu erweitern (und weil es mich irgendwie beeindruckt hatte, dass Robert Wyatt betrunken aus dem Fenster gefallen und seitdem querschnittsgelähmt ist, was ihn nicht davon abhielt, solo und mit Matching Mole diverse Klassiker rauszuhauen), begann ich mich mit Soft Machine zu beschäftigen, die mir erstmal knapp 30 Jahre lang zu sperrig erschienen, bis ich sie endlich ins Herz schloss.
Um Zappa (den meine Zeitgenossen konsequent „Zappa“ aussprechen) habe ich eh immer einen Bogen gemacht. Zu versponnen, der Typ, obwohl „Bobby Brown Goes Down“ schon immer toll war, bevor ich die 20 erreichte und mir später auch von der Aussage her den Zappa recht sympathisch machte.
WeiterlesenRaymond Macherot – Anatol gegen die schwarzen Ratten (Chlorophylle contre let rats verts/Chlorophylle et les conspirateurs) – Carlsen 2023
Von Matthias Bosenick (10.07.2023)
Nachdem die Comics von Raymond Macherot ohnehin erst verspätet und dann noch stiefmütterlich in Deutschland publiziert wurden, besinnt sich der Carlsen-Verlag jetzt des belgischen Comiczeichners mit der klaren Linie und bringt dessen Debütalbum inklusive Fortsetzung um den anthropomorphen Anti-Disney-Gartenschläfer (keine Brillenmaus!) Anatol (im Original Chlorophylle) neu getextet (der Hinweis darauf fehlt komplett, sieht man davon ab, dass mit Marcel Le Comte der gegenwärtige Carlsen-Standard-Übersetzer erwähnt ist und nicht Uta Benz-Lindenau), mit einigen Ergänzungen und als Hardcover abermals nach 1983 in den Handel, jetzt mit „gegen“ statt „und“ im Titel. Man spürt diesem Doppelband an, dass der Zweite Weltkrieg 1956 noch tief saß; nicht, dass es hier explizit gegen Nazis geht, aber der Überfall einer Rattenpopulation auf ein friedliches Tal voller lieblicher Kleintiere, die in den Widerstand gezwungen werden, legt gewisse Assoziationen nahe. Diese Neuauflage darf der Anlass sein, dieses Mal mehr als nur sieben Bände in fünf Büchern und auch nur mehr als diese Serie herauszubringen; „Sibylline“, „Mirliton“, „Isabelle“ und „Chaminou“ drängen sich noch auf, um „Percy Pickwick“ hingegen braucht man sich ja keine Sorgen zu machen.
Once a Banshee, always a Banshee! – Depeche Mode – Live im Olympiastadion Berlin, 9. Juli 2023
Von Onkel Rosebud (09.07.2023)
Während meiner Adoleszenz in der DDR gab es eigentlich nur zwei Entscheidungen zu fällen: Erstens, Mitglied der Jung- und Thälmannpioniere, der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, der Freien Deutschen Jugend und der Gesellschaft für Sport und Technik zu werden oder vorzugeben, an Gott zu glauben, um so um den Wehrdienst drum rumzukommen. Und zweitens, Depeche Mode oder The Cure. Die Antwort auf die erstere Frage lasse ich mal aus, aber letztere kann ich bis heute glockenklar beantworten: Songs wie „Play For Today“, „A Forest“ und „Blasphemous Rumours“ haben mein Leben verändert, aber unterm Strich hat Robert Smith einen Ein-Tor-Vorsprung vor Team Gore/Gahan/Fletcher.
WeiterlesenWas meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Stellen Sie sich vor …
Von Onkel Rosebud / Norman Sharp
Stellen Sie sich vor …
Also, im Sinne von: Führen Sie sich geistig vor Augen, meine ich. Versuchen Sie, sich vorzustellen, es sei November. Ein trüber Sonntagnachmittag tröpfelt träge dahin. Sie hängen mangels eines schickeren Planes bei irgendeinem Ihrer Kumpels herum. Nichts ist angesagt, und folglich tut sich auch nichts. Sie fühlen sich, als könnten Sie eher keine Bäume ausreißen. Nicht allzu schwer, sich das vorzustellen, oder?
Verlegen Sie die Szenerie aus Gründen größerer Abstraktion in eine andere Zeit, sagen wir, tief ins Ostdeutschland der Achtziger – das heißt, streichen Sie alle schrillen und die meisten bunten Farbtöne. Lassen Sie ein wenig Putz bröckeln und morsches Mauerwerk darunter hervorscheinen. Als Hintergrund ziehen Sie am besten einen fahlgrauen Packpapierhimmel auf, durchschnitten von kahlem, klammem Geäst.
WeiterlesenPet Shop Boys – Smash – Parlophone 2023
Von Matthias Bosenick (05.07.2023)
Und noch eine Compilation mit Hits und Singles. „Smash“ behauptet, auf drei CDs sämtliche Singles des Synthiepop-Duos Pet Shop Boys von 1985 bis 2020 in chronologischer Reihenfolge zu bringen, und da geht es schon los: Die von Bobby O produzierten ersten Singles aus dem Jahr 1984 fehlen hier, die „Lost“-EP aus dem laufenden Jahr ist ebenso wenig berücksichtigt wie die „Agenda“-EP aus dem Jahr 2019 sowie diverse Songs, die lediglich in Großbritannien nicht oder ausschließlich digital als Single erschienen. Derjenige, der alle 14 Alben sowie sämtliche bisherigen Compilations (denn auf denen gab es stets exklusive Singles, die hier wiederum alle berücksichtigt sind; exklusiv für „Smash“ indes gibt es keine) im Regal zu stehen hat, braucht „Smash“ nicht; die paar Single-Edits machen keinen Kohl fett, denen sind im Zweifel die Albumversionen ohnehin vorzuziehen. Bleiben die beiden BluRays, die der erweiterten Box hinzugefügt sind, sowie das Buch mit den Anmerkungen von Neil Tennant und Chris Lowe. Und eine Zeitreise durch fast 40 Jahre Synthiepop mit allen Hochs und Tiefs, die die künstlerische Kurve der Briten in 55 Songs und rund 220 Minuten gut nachzeichnen.
Motörhead – Live At Montreux Jazz Festival ’07 – BMG 2023
Von Guido Dörheide (29.06.2023)
Mit einem fröhlichen „Gutnaaaabend! Bonsoir! Buongiono – I forgot that!“ begrüßt Lemmy das Publikum nacheinander in allen drei schweizerischen Landessprachen mit Ausnahme von Rätoromanisch. Anschließend schlägt er eine Brücke zwischen dem Montreux Jazz Festival und dem Schaffen von Motörhead: „So this is the Montreux Jazz Festival. Here‘s a bit of jazz for you [zumindest habe ich das so verstanden – Anm. d. Verf. d. Z.]. We are Motörhead, and we play Rock‘n‘Roll!“ Und dann legen Motörhead in ihrer längsten und meiner Meinung nach auch besten (jahaa – Philthy Animal Taylor, ich spüre Deine vernichtenden Blicke von ganz weit oben/unten/wieauchimmer in meinem Nacken glühen) Besetzung – Lemmy Kilmister (b, voc), Mikkey Dee (dr) und Phil Campbell (g) – mit „Snaggletooth“ auch gleich ordentlich los. Lemmy ist bei der damaligen Tour sowohl sehr gut bei Stimme – von den späteren krankheitsbedingten Schwankungen der Wucht seiner Performance war noch weit und breit nichts in Sicht – als auch gut aufgelegt, Phil Campbell lässt die Gitarre dreckig röhren und Mikkey Dee schmiedet die Trommeln wie gewohnt sowohl präzise als auch lautstark, solange sie heiß sind. Die Produktion ist für ein Live-Album exzellent.
WeiterlesenMoon’s Mallow – Out Of The Foxholes – Gioia Coppola 2023
Von Matthias Bosenick (29.06.2023)
Das geht aber flott bei den Italienern: Drei Alben in drei Jahren! Auf „Out Of The Foxholes“ vertiefen Moon’s Mallow ihre Ausrichtung, die weniger nach Apulien als nach englischen Pubs klingt, nach einem bewegten Indierock, dem Emotionen so wenig fremd sind wie Ausflüge ins Folkige oder Psychedelische sowie eine virtuose Musikalität. Moon’s Mallow schmecken eher nach Bier als nach Wein, eine erfreuliche Nähe zu Luke Haines und The Auteurs lässt sich abermals nicht von der Hand weisen. Bandchef Gioia Coppola singt in mittelhoher Tonlage enorm ausdrucksstark und energetisch, schaltet aber, sobald erforderlich, auch mal ins Wispern um. Orgeln, Flöten und Streicher finden ihren Platz, die Stimmungen wechseln, und auch wenn es nie heavy wird, rockt es doch reichlich. Und macht Durst.
Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Flugzeug ohne Räder
Von Onkel Rosebud / Michael Törker
Es ist wirklich lange her, dass ich das letzte Mal Keimzeit gehört habe. Ich meine, richtig gehört, mit Titel raussuchen, Kopfhörer aufsetzen und so. Aber schon nach den ersten Takten fühlt es sich an, als hätte ich eben erst auf STOP gedrückt. Am Kassettenrekorder, versteht sich. Nicht, dass es nicht schon CDs gab, als ich zu meiner Begeisterung für diese Musik fand, aber mein erster Kontakt war eine Musikkassette, von Freunden in die Hand gedrückt und erstmal nicht wieder ausgemacht. Und meine damalige Freundin war gleichermaßen angesteckt.
WeiterlesenKilling Joke – Honour The Fire – Live Here Now 2023
Von Matthias Bosenick (28.06.2023)
Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem es von Killing Joke mehr Live- als Studio-Alben gibt, sofern nicht bald das zur „Lord Of Chaos EP“ sowie zur bislang nur digital erhältlichen Single „Full Spectrum Dominance“ gehörende und derzeit sogar noch unangekündigte neue Album erscheint. Und weil sich Killing Joke einfach mal an gar keine Regeln halten, eröffnen sie seit einer Weile ihre überlangen und für ihren großen Pool an geilen Songs noch viel zu kurzen Sets mit der Zugabe, dem größten Hit nämlich, den sie je hatten, „Love Like Blood“ aus dem Jahr 1985. Nicht im Set indes sind eben „Lord Of Chaos“ und der Song, nach dem Tour und dieses Album benannt sind: „Honour The Fire“ vom 2010er-Album „Absolute Dissent“. Macht nix, man bekommt hier einen angenehm hörbar produzierten Querschnitt durch das, was die Engländer vom Dub ausgehend ab 1979 aus der Erfindung des Postpunk in den darauffolgenden Jahren so an Proto-Industrial, Semi-Metal und energetischer Rockmusik entwickelten, mit einem Schwerpunkt auf der Anfangszeit.