Was meine Freundin gerne sieht – die Serienkolumne: Shtisel – Ein Fest für Misophoniker

Von Onkel Rosebud

Misophonie in Verbindung mit Nahrungsaufnahme ist der Ekel auf die Geräusche dabei, eine Empfindlichkeit auf Schmatzen, Kauen mit offenem Mund, lautes Würge-Schlucken, Nase hochziehen und wiederholtes Klicken der Zähne beim Essen – und der Klassiker: Reden mit vollem Mund. Also all‘ das, was Eltern ihren Kindern am Tisch heutzutage bewusst oder unterbewusst vermitteln, neben „Nimm die Ellenbogen vom Tisch“ oder „Zieh‘ die Hausschuhe an“.

Die israelische Drama-Serie „Shtisel“ (3 Staffeln 2013 bis 2021) ist ein vier Generationen umfassendes Familiendrama, dass im Milieu ultraorthodoxer Juden in Ge‘ula, einem Stadtviertel von Jerusalem, spielt. Es wird nicht nur ständig geraucht, sondern auch sehr oft gegessen. Beim ungeliebten sonntäglichen Suppe-Essen werden die Probleme der einzelnen Familienmitglieder ausgekippt. Dazu schlürft Shulem Shtisel, der Patriarch, sehr laut bis an die Grenze der Unerträglichkeit. Wenn er den obligatorischen Essig-Gurken-Salat katscht und dabei seinen Spätgeborenen, Akiva Shtisel, runtermacht, dann stehen einem die Nackenhaare zu Berge. Trotzdem die Sprache der Serie fast ausschließlich Hebräisch oder Jiddisch ist, und nur Untertitel einem erschließen, worum es inhaltlich geht, hält man die Misophonie aus, weil alles drin ist in der Serie, was ein gutes Familiendrama ausmacht: Liebe, Eifersucht, Geborgenheit, Aufopferung, Verlust, Angst, Untreue, Rebellion, Coming of Age, Abtreibung, Inzest, Vater-Sohn-, Mutter-Tochter- oder Bruder-Bruder-Kampf.

Neu auf KrautNick ist fortan die Kolumne „Was meine Freundin gerne …“ von Onkel Rosebud. Das diesem Titel folgende Verb ist alternierend „sieht“ oder „hört“, je nachdem, mit welchem Thema sich Onkel Rosebuds Freundin gerade befasst, also Bewegtbilder in TV-Sendungen, Streamingangeboten, DVD-Boxen oder eben Musik in allen Erscheinungsformen – Onkel Rosebud protokolliert es und lässt uns daran teilhaben.

Onkel Rosebud mag auf KrautNick neu sein, aber seine Kolumne ist es nicht: Zwischen 1995 und 2004 veröffentlichte er „Was meine Freundin gerne hört“ in der Dresdner Studentenzeitung „ad-rem“, mit einer Reichweite von 30.000 gedruckten Exemplaren und einer kaum weniger großen Fangemeinde. Nun kommt er nicht einfach zu KrautNick, sondern KrautNick kommt zu ihm: Onkel Rosebud trug – wie auch Matthias Bosenick und Guido Dörheide – bei beiden bisherigen Ausgaben der geplanten Buchtrilogie „Ich liebe Musik“ Texte bei, ist mit den beiden Schreibern mithin seit 1999 verbunden. Umso mehr freut es KrautNick, ihm diese Zusammenarbeit anbieten zu dürfen und künftig von Onkel Rosebud erzählt zu bekommen, was seine Freundin so gerade sieht. Oder hört.

Der erste Teil von „Ich liebe Musik“ ist bedauerlicherweise vergriffen, aber Vol. 2 ist nach wie vor im Windlustverlag von René Seim erhältlich! [07.10.2022, Red.]

Die Story ist schnell zusammengefasst: Akiva Shtisel, unser Held Kive, ist ein 26-jähriger Junggeselle, der mit seinem ultra-strengen Vater Shulem zusammenlebt. Seine Mutter ist tot. Oma im Altenheim. Er beginnt eine Arbeit als Lehrer, sucht eine Frau zum Heiraten, wäre aber lieber malender Künstler. Seine große Schwester, Giti Weiss, hat fünf Kinder, darunter die älteste Tochter, Ruchama, und wurde von ihrem Mann verlassen; sie versucht nun, einen Job zu finden, um ihre Familie zu ernähren. Zvi Arye Shtisel, sein großer Bruder, ein Tora-Gelehrter in spe, wäre lieber Sänger in einer Band.

Es ist der erdrückende Alltag, der den Zuschauer in einen Bann zieht, der das Nicht-Weitergucken unmöglich macht. „Shtisel“ kommt dazu auch noch gänzlich ohne Action aus und funktioniert nur über Charakterbildung und Dialoge. Es macht süchtig, da eine Welt fantastisch beobachtet wird, der man anfangs gar nicht glauben kann, dass es sie überhaupt gibt. Es ist kostümbildnerisch sehr liebevoll und detailversessen umgesetzt. Die Story ist so herzerwärmend, ja bis zu Tränen rührend und komisch bis absurd. Da liegt sogar der Vergleich mit dem größten anzunehmenden Familiendrama der Seriengeschichte, „Downtown Abbey“, nahe.

Meine Freundin hat selten so eine feinfühlige Erzählung gesehen, wie Eltern das Leben ihrer Kinder kaputtmachen, nur um der sogenannten „Konvention“ zu entsprechen. Überhaupt hängt die Frage, warum die Menschen, die uns am meisten lieben, uns am meisten verletzen können, wie das Schwert von Damokles über der Serie.

Dabei werden in der Serie die Klischees der Ultraorthodoxen bedient und klammheimlich hintergangen. Man denkt sich als Zuschauer: Okay, die gibt’s wirklich und sie sind anders. Sie wollen die Beinahe-Auslöschung ihrer Sekte durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg damit kompensieren, sich so mannigfaltig wie möglich fortzupflanzen, und haben dafür eigene Regeln aufgestellt, die nichts mit dem allgemeinen Duktus des 21. Jahrhundert zu tun haben. Sie tragen auch eine Uniform. Männer haben Bärte – Zottelbärte, Fusselbärte, Drosselbärte. Frauen gehen mit hautfarbenen Strumpfhosen und dunklen Strickmützen ins Bett. Sex muss sein, einmal im Monat an einem Freitag. Wenn die Menopause einsetzt, sind sie erlöst. Auf der anderen Seite bekommt man den Spiegel vorgehalten, weil individuell gesehen – ohne die ganze religiöse Aufladung – sind das äußerst liebenswerte Menschen mit Problemen, wie sie auch im sogenannten Abendland jeder im Alltag haben kann.

Davon abgesehen besticht die Serie durch einen brillanten Cast inklusive Nebenrollen (zum Beispiel Oliver, der Golem). Aber allen voran kann man sofort nachvollziehen, warum sich der Charakter Hanina Tonik in Ruchama verliebt, gespielt von Shira Haas. Sie hat die Hauptrolle in „Unorthodox“, einer deutschen Miniserie aus dem Jahr 2020, die lose auf dem 2012 erschienenen Bestseller „Unorthodox“ von Deborah Feldman basiert. Erzählt wird darin die Geschichte einer jungen Frau, die sich von der ultra-orthodoxen jüdischen Religionsgemeinschaft der Satmarer in New York befreit und ein neues Leben in Berlin anfängt. Das ist die Einstiegsdroge in dieses Universum.

Und jetzt lege ich meiner Freundin die „Minsk-Melodie“ auf, quietsche dazu mit der Kreide an der Tafel und klicke den Kuli. Sie möchte jetzt „Downton Abbey“ gucken.

Onkel Rosebud

„Sthisel“ und „Unortodox“ gibt’s auf Netflix. „Downton Abbey“ in jeder gut sortierten DVD-Sammlung zu Hause.