René Seim – Einen Tisch in Falten schlagen – Windlustverlag 2022

Von Matthias Bosenick (07.10.2022)

Lyrik, auf ewig eine Literaturgattung, die sich dem Rezensenten nicht einmal ansatzweise umfassend erschließen wird. Ich kann mich also Lyrik nur distanziert und behutsam nähern, mit dem Blick des Uneingeweihten, und Dichter René Seim erweist mir trotzdem einmal mehr die Ehre, an seiner Lyrik teilhaben zu dürfen. „Einen Tisch in Falten schlagen“ heißt sein neues Buch, das er im eigenen Windlustverlag veröffentlicht; der vierte Gedichtband des umtriebigen Dresdners, der auch Schallplatten herausbringt, Radio macht, auflegt, Lesebühnen veranstaltet und wer weiß was noch. Es mag an der der Lektüre vorausgegangenen Begegnung mit dem Dichter in der Äußeren Neustadt liegen, dass ich zu diesem Buch einen besseren Zugang finde, sehr oft laut loslache, häufig mitfühlen nicke, hinter politischen Statements einen inneren Haken setze, an Seims Sprache meine Freude habe, also viel unmittelbarer ein Gefühl dafür bekomme, ihn zu verstehen, als zuvor, und doch bleibt ein Rest Unverständnis erhalten. Das wäre ja auch zu viel erwartet, wenn der Vorhang plötzlich komplett zur Seite geschoben wäre, oder? Meine Freude an diesem Buch ist ja trotzdem immens!

Sage und schreibe 76 Texte enthält dieses Buch, entstanden zwischen 2006 und 2021 und nur in zwei Fällen bereits anderswo veröffentlicht. Einige sind eher Haikus, andere zweiseitig, viele mittelkurz. Wenn Seim hier dichtet, dann überwiegend nicht in Reimform, und das ist gut so, in den pointierten Momenten wären Reime oft zerstörerisch, denn Seim verfasst nicht einfach nur Texte, er wendet Sprache sinnstiftend an, und zwar mit Überraschungen. Obschon er bei sämtlichen Texten eine Pointe, einen Aha-Effekt, ein Ziel vor Augen zu haben scheint, erreicht er dies mit vielen verschiedenen Mitteln. „Einen Tisch in Falten schlagen“ ist somit eine Art Sampler, ohne konkrete thematische, emotionale oder stilistische Limitierung. Gerade diese Abwechslung fördert den Genuss dieses Buches.

Ebenso der Humor, der hier gefühlt die Oberhand hat. Insbesondere die sehr kurzen Texte überrumpeln den Lesenden mit einer knackig-unerwarteten Kehrtwende. Sie sind bisweilen so kurz, dass sie hier aneinandergereiht vielleicht einen Absatz ausmachen würden, aber so wirken sie nicht, sie brauchen schon den Platz einer eigenen Buchseite, um sich entfalten zu können. Dann erst funktioniert ein Gedicht wie „Höhe ist“, mit dem Inhalt: „Weite / mal / Tiefe“ – alles untereinander mit ganz viel Seite darunter. Ja, das kann man sehr gut auch mal als Gedicht verkaufen, denn so sind nicht alle Texte hier, diese unterbrechen lediglich äußerst angenehm den Mix der Stile, Inhalte und Gefühle.

Seim beobachtet nämlich auch, wie sich das Leben unschön abspielen kann. So zeichnet er Szenen von Paaren, die einander an die Gurgel gehen würden, wären sie nicht im öffentlichen Raum, beschreibt die Schwere der Adoleszenz ebenso wie die Schwere des Alterns und findet in solchen melancholischen Momenten nicht selten auch wieder ein Augenzwinkern (wie er etwa den Flug der Schwalbe beeinflusst, damit die Sonne weiter scheint), wenn nicht einen Fingerzeig in Richtung Hoffnung, auch für die Liebe, nach der Menschen sich sehnen. Und umgekehrt: Sein vordergründig Hoffnung ausstrahlendes Gedicht „Gold“ ist vielmehr eine Art vergiftetes Lob, denn in ihm steckt Kritik an der Gesellschaft: „Lächelnde Menschen / sind so angenehm selten, / dass ich mich jedes Mal freue, / wenn ich einen treffe.“

Auch positioniert sich Seim in seinen Gedichten explizit politisch, etwa gegen Corona-Verschwörungstheoretiker, Pegida-Demonstranten, Fußball-Hooligans und sonstige Stumpfnationalisten. Überhaupt ist er inhaltlich am Puls der Zeit, sogar Whatsapp-Chats finden Einzug, wenn er sich über Leute lustig macht, die sofort eine Antwort erwarten, sobald man ihre Nachricht als gelesen markiert, dabei hat er nachvollziehbare Gründe, warum dies nicht erfolgen könnte, und da muss man dann schon wieder lachen. Solche knackig-kuriosen Texte hat das Buch viele, die ich am liebsten ausschneiden und an Litfaßsäulen kleben mag, die ich abfotografieren und Leuten zuschicken möchte, und dann halte ich es doch einfach für das Beste, ihnen zu sagen, sie sollen sich das Buch zulegen.

Momente voller Fragezeichen habe ich bei dieser Lektüre ja immer noch. Nicht jede Pointe erschließt sich mir, aber das ist in Ordnung. Seit der Begegnung mit dem Autor sind mir nämlich einige Dinge klarer geworden: Der 41-Jährige quillt über vor Witz – und ich tappe immer noch viel zu oft in die Falle, Autor und Lyrisches Ich gleichzusetzen, insbesondere dann, wenn ich Identifikations- oder Verständnisschwierigkeiten habe. Danke fürs Augenöffnen! Und für die angenehm verbrachte Zeit, auch mit „Einen Tisch in Falten schlagen“, das ich jetzt lese mit einer Ahnung, wie der schelmische Autor selbst es auf Bühnen wohl vortragen würde, und mit Erkenntnissen wie der in „Lyrik ist toll.“, die da lautet: „Man kann sich ewig daran aufhalten – / und nichts wird.“ Oder halt: Das stimmt doch schon wieder gar nicht!