Von
Matthias Bosenick (20.05.2019)
Industrial alter Schule
widmet sich Enrico Cerrato aus Asti unter seinem Alias Petrolio,
nicht der harschen, plakativen Sorte, sondern der mit Soundscapes,
Atmosphären, Drones und experimentellen Effekten, die allesamt sogar
Raum für songähnliche Strukturen lassen. Mit seiner jüngsten
Veröffentlichung „L+Esistenze“ erfüllt er sich einen Traum,
indem er sechs von ihm verehrte Musiker an seinen Tracks teilhaben
lässt, darunter auch Jochen Arbeit von den Einstürzenden Neubauten
und von Automat. Das Album gibt es auf Vinyl und Kassette mit jeweils
unterschiedlichen Inhalten. Beide Varianten lohnen sich: Cerrato
macht mit Noise etwas Entspannendes, eher dem Black Gaze ähnlich als
dem Harsh Electro.
Es
rauscht, raschelt und knistert, dazu schwirren und flirren
unbestimmte Töne, bisweilen beinahe melodisch, Rhythmen entstehen
zumeist durch Wiederholung, nicht mithilfe von Beats, und dazwischen
erkennt man auch mal glasklar ein Klavier. Jeder Track folgt einem
narrativen Aufbau, generiert sogar innere Filme, die Sounds verändern
sich, ordnen sich anders an, wechseln die Stimmung, von Beklemmung zu
Hoffnung, von Einsamkeit zu Geborgenheit, von Harmonie zu Stress.
Cerrato hat es nicht nötig, auf plakative Elemente zurückzugreifen.
Sein Industrial ist eher Kunst als Club und damit weit wertvoller,
auch wenn er einen Track scheinbar mal ins Extreme kippen lässt; die
Schönheit, die er beherrscht, ist dem Hörer nicht aus dem Radio
vertraut, sondern generiert sich aus eigenem Empfinden des Musikers
und seiner Gäste.
Seine Biografie macht anschaulich,
warum ihm diese nahegehenden Sounds so gut gelingen: Cerrato hat
seine Expertisen in Punk, Metal und Free Jazz erworben, in Projekten
wie Gabbainferno, InfectionCode oder Moksa. Schon seit er 2015
Petrolio aus der Taufe hob, verlegte er sich auf Kollaborationen,
zunächst mit experimentell ausgerichteten Labels, die ihm bei der
Produktion seines Debüts unter die Arme griffen. Für „L+Esistenze“
vertiefte er das Konzept der Zusammenarbeit nun: Sechs Künstler, die
er selbst verehrt, leisteten Beiträge, und zwar jeweils zwei, für
die Vinyl- und für die musikalisch etwas krassere Tape-Version des
Albums. Neben Jochen Arbeit sind dies: Multiinstrumentalist Aidan
Baker aus Toronto, der unendlich viele Platten veröffentlichte,
unter anderem mit der Drone-Doom-Band Nadja; das
Post-Industrial-Quartett Sigillum S aus Mailand, das seit den
Achtzigern im italienischen Untergrund für Furore sorgt; MaiMaiMai
alias Antonio Cutrone, vielgebuchter Schlagzeuger und Noisemusiker
aus Rom; Fabrizio Modonese Palumbo alias ( r ), der nicht nur mit der
Band Larsen internationale Kontakte als Gitarrist knüpfte; zuletzt N
Ran, über den jedoch am wenigsten in Erfahrung zu bringen
ist.
Vermutlich hätte es all diese Kollaborateure gar
nicht gebraucht, um ein solch geschlossenes, schlüssiges Album zu
erstellen, aber sie alle bringen eben unterschiedliche Anteile in den
Industrial von Petrolio. Böse nur, dass man für die volle Version
zwei verschiedene vermeintlich veraltete Tonträger erwerben muss –
so geht Moderne im Downloadzeitalter.