Petrolio – L+Esistenze – Petrolio 2018

Von Matthias Bosenick (20.05.2019)

Industrial alter Schule widmet sich Enrico Cerrato aus Asti unter seinem Alias Petrolio, nicht der harschen, plakativen Sorte, sondern der mit Soundscapes, Atmosphären, Drones und experimentellen Effekten, die allesamt sogar Raum für songähnliche Strukturen lassen. Mit seiner jüngsten Veröffentlichung „L+Esistenze“ erfüllt er sich einen Traum, indem er sechs von ihm verehrte Musiker an seinen Tracks teilhaben lässt, darunter auch Jochen Arbeit von den Einstürzenden Neubauten und von Automat. Das Album gibt es auf Vinyl und Kassette mit jeweils unterschiedlichen Inhalten. Beide Varianten lohnen sich: Cerrato macht mit Noise etwas Entspannendes, eher dem Black Gaze ähnlich als dem Harsh Electro.

Es rauscht, raschelt und knistert, dazu schwirren und flirren unbestimmte Töne, bisweilen beinahe melodisch, Rhythmen entstehen zumeist durch Wiederholung, nicht mithilfe von Beats, und dazwischen erkennt man auch mal glasklar ein Klavier. Jeder Track folgt einem narrativen Aufbau, generiert sogar innere Filme, die Sounds verändern sich, ordnen sich anders an, wechseln die Stimmung, von Beklemmung zu Hoffnung, von Einsamkeit zu Geborgenheit, von Harmonie zu Stress. Cerrato hat es nicht nötig, auf plakative Elemente zurückzugreifen. Sein Industrial ist eher Kunst als Club und damit weit wertvoller, auch wenn er einen Track scheinbar mal ins Extreme kippen lässt; die Schönheit, die er beherrscht, ist dem Hörer nicht aus dem Radio vertraut, sondern generiert sich aus eigenem Empfinden des Musikers und seiner Gäste.

Seine Biografie macht anschaulich, warum ihm diese nahegehenden Sounds so gut gelingen: Cerrato hat seine Expertisen in Punk, Metal und Free Jazz erworben, in Projekten wie Gabbainferno, InfectionCode oder Moksa. Schon seit er 2015 Petrolio aus der Taufe hob, verlegte er sich auf Kollaborationen, zunächst mit experimentell ausgerichteten Labels, die ihm bei der Produktion seines Debüts unter die Arme griffen. Für „L+Esistenze“ vertiefte er das Konzept der Zusammenarbeit nun: Sechs Künstler, die er selbst verehrt, leisteten Beiträge, und zwar jeweils zwei, für die Vinyl- und für die musikalisch etwas krassere Tape-Version des Albums. Neben Jochen Arbeit sind dies: Multiinstrumentalist Aidan Baker aus Toronto, der unendlich viele Platten veröffentlichte, unter anderem mit der Drone-Doom-Band Nadja; das Post-Industrial-Quartett Sigillum S aus Mailand, das seit den Achtzigern im italienischen Untergrund für Furore sorgt; MaiMaiMai alias Antonio Cutrone, vielgebuchter Schlagzeuger und Noisemusiker aus Rom; Fabrizio Modonese Palumbo alias ( r ), der nicht nur mit der Band Larsen internationale Kontakte als Gitarrist knüpfte; zuletzt N Ran, über den jedoch am wenigsten in Erfahrung zu bringen ist.

Vermutlich hätte es all diese Kollaborateure gar nicht gebraucht, um ein solch geschlossenes, schlüssiges Album zu erstellen, aber sie alle bringen eben unterschiedliche Anteile in den Industrial von Petrolio. Böse nur, dass man für die volle Version zwei verschiedene vermeintlich veraltete Tonträger erwerben muss – so geht Moderne im Downloadzeitalter.