Spezial: addicted/noname Label aus Moskau, Teil 16

Von Matthias Bosenick (05.03.2024)

Neue und alte Musik vom Moskauer Label addicted/noname! Dieses Mal mit Doom-Stoner von Clarity Vision, Impro-Prog und Afro-Beat von DEEBBBB, Doom-Metal von Dekonstruktor, hyperaktiven Alles-Mashup von Detieti, Sludgecore von JHW, psychedelische Folklore von KissLiar, Screamo-Sludge von Polarnik, organischem Dub-Rap von REBBBB, Stoner Rock von Spaceking, Depri-Doom von Thy Grave, reduziertem Piano-Indie-Rock von Verba, durchgeknallter Allesmusik zwischen Folk, Psychedelik, Jazz und sonstwas von Голуби и Безумные Кашевары, Noiserock von Резина, Hip-Hop-Noisepunk von Рудольф, psychedelisch-schamanischem Folkrock von Шаййм und tanzbarem Garage-Surf-Rock von Шон.

Clarity Vision – Clarity Vision EP (2023)

Das Schönste an dieser Oldschool-Doom-Neo-Stoner-Melange von Clarity Vision aus Moskau ist, dass mit Galina Shpakovskaya eine Frau am Mikro steht. Ihr durchdringender, fast tiefer Gesang bereichert die dunkle, schwere, heavy riffende Musik der drei anderen Musiker, Gitarrist Alexey Roslyakov, Bassist Denis Yakhryushin und Schlagzeuger Mikhail Markelov. Zudem singt sie auf Russisch, was dem Gesamtsound zusätzlich – hoffentlich nicht nur für Nichtrussen – einen besonderen Anstrich verleiht.

Das ist ja nicht alles: Ist der Auftakt dieser Debüt-EP, „Заходящие солнца пустыни“, noch ein ätherisches Fast-Instrumental, greifen die vier ab dem zweiten Song „Траблмэйкер блюз“ in die vollen Riffbottiche: schwer, schleppend, niederdrückend. „Магический лес“ beginnt sogar mit einer Orgel und beschleunigt dann etwas, um die Stoner-Doom-Gemeinde zum angeregten Kopfnicken zu animieren. Das Quartett selbst sieht sich in der Tradition von Siebziger-Doom, den es mit modernem Stoner Metal kombiniert, und dem lässt sich nicht widersprechen. Der Bluesrock steckt in den Songs, der Bong kreist, und in der Tat ist es der Gesang, der dieser Form von Metal eine spezielle Note verleiht; Siouxsie Sioux und Diamanda Galás könnten Referenzen sein, und beide sind ja eher nicht so Metal. Passt!

Die beiden selbstveröffentlichten Vorabtracks „Пространства“ und „Motorcycle Madnes“, die die Moskauer ab Januar 2023 herausbrachten, sind auf dieser Debüt-EP nicht enthalten. Auch nicht überliefert ist ihre Version des Depeche-Mode-Hits „Personal Jesus“, mit der die Band 2022 ihre Proben startete.

DEEBBBB – Episode 1 (2015/2021)

Vor gut zehn Jahren begann die gemeinsame Reise zweier Moskauer Bands, die sich zu einem damals noch achtköpfigen Improvisations-Ensemble zusammenschlossen: die Avantgarde-Prog-Punks Detieti und die experimentellen Post-Rocker I Will Kill Chita, die sich auch Evil Bear Boris nennen, was das Kürzel DEEBBBB erklärt, bis auf die letzten zwei B, die stehen für Big Band. Die erste Episode erschien noch in Eigenregie, bevor addicted/noname es sechs Jahre später in seinen Katalog aufnahm, und besteht aus zwei Tracks von insgesamt gut einer halben Stunde Spielzeit.

Darauf mostet das Oktett los, in Tempo und Wucht, aber nicht in Härte, darum geht es nicht. Die Musiker lassen alles los, was ihnen in den Sinn kommt, daher hört man funky Gitarre und Bass, Hip-Hop-Scratching, minimalistische Loop-Melodien, spacige Synthie-Effekte, und alle acht steigern sich in einen Rausch, mit dem sie Hörende anstecken. So etwas funktioniert, wenn man es mit versierten Musikern zu tun hat, die wissen, was sie tun, auch ohne sich weiträumig abzusprechen.

An der „Episode 1“ beteiligt waren die Schlagzeuger Viktor Tikhonov und Nikita Samarin, die Bassisten Mikhail Ivanov und Nick Samarin, die Keyboarder Petr Bolotov und Andrey Silin, DJ Ivan Khvorostukhin und Gitarrist Artem Litvakovskiy. Die Bande entwickelt einen unglaublichen Flow und groovt sich sowas von hypnotisch tanzbar ein, da nimmt es nicht Wunder, dass diesem Auftakt weitere Episoden folgen sollten: Fünf Jahre später erweitern Detieti und IWKC ihr Impro-Ensemble um das Speedball Trio, eine Punk-Jazz-Band. Heißt: Mehr Drummer, mehr Bassisten und ein Saxophonist anstelle des DJs. Mehr dazu ist bereits auf KrautNick zu lesen.

DEEBBBB feat. Рудольф – Episode 3 (2024)

Für die dritte Episode tun sich Detieti und IWKC abermals mit Gästen zusammen, hier sind es Рудольф (Rudolf). Die Herangehensweise an die fünf neuen Tracks ist dieses Mal eine andere als zuvor: Das Ensemble verwendet bereits existierende Soundfiles, von Viktor Tikhonov generierte Drumpatterns und von Nick Samarin eingespielte Bassläufe, und kreiert die neue Musik um jene herum. Heraus kommt – Afrobeat. Ganz unerwartet und überraschend. Insgesamt wirkt die Musik bei allem Session-Charakter komponierter als zuvor und steigert sich in dubbige Trips, trippige Dubs und hypnotische Tänze hinein. Stimme und Gesang haben einen höheren Stellenwert als auf den früheren Episoden, chorartige Backgroundgesänge ebenso wie schamanisches Gemurmel. Überhaupt ist das Ensemble hier weit melodiöser als zuvor, was den Zugang sehr erleichtert.

Dadurch, dass hier außerdem mehr Percussion und Schlagzeug zum Einsatz kommen, erhöht sich die Tanzbarkeit der Musik von DEEBBBB noch weiter, was man kaum glauben kann, denn tanzbar war die Musik der Gruppe schon immer. Hier tritt eine Orientierung in afrikanische Rhythmen und Strukturen hervor, die das Tanzbare noch befördert und auf ein nächstes Level hebt, quasi den Trance-Faktor steigert. Es erstaunt sehr, welche Ordnung diese Musik ausstrahlt, obwohl auch bei anderer Herangehensweise die Improvisation ein Kernelement bei der Entstehung dieses Albums war.

DEEBBBB sind dieses Mal: Alex Rtishev (Gesang und Stimmloops), Roman Karandaev (Gesang), Nick Samarin (Bass und Kontrabass), Mikhail Ivanov (Bass), Dmitry Kuzovlev (Gitarre), Viktor Tikhonov und Nikita Samarin (Schlagzeug), Ivan Khvorostukhin und Pavel Makarov (Percussion) sowie Andrey Silin und Petr Bolotov (Keyboards). Gemeinsam entwickeln sie mit ihrer Musik einen Sog, dem man sich bereitwillig aussetzt – „Episode 3“ macht bisher von allen DEEBBBB-Alben den meisten Spaß, und Spaß machen sie alle. „Episode 3“ ist ein sprudelnder Trip, der groovt und einnimmt, in den man sich versinkt und der ungeahnte Energien freisetzt.

Dekonstruktor – Death Beat (2024)

Sein Zehnjähriges feiert das Moskauer Doom-Metal-Trio Dekonstruktor mit einem neuen Album: Der Titel „Death Beat“ hält seine Versprechen, die drei walzen ihre Tracks mit stoisch repetitiven Rhythmen ewig aus und lassen dazu passende ebenso monotone Riffs von der Leine. Einmal mehr ist es ein Wunder, dass dieser brutale Lärm von nur drei Leuten entfesselt wird: Das fette Schlagzeug von Mitya DHS erzeugt einen wuchtigen Sound, Gitarre und Bass teilen sich seine Kollegen Garish und Memfis (manchmal auch Memphis) und klingen dabei, als wären sie zu viert.

Sechs Stücke in über 40 Minuten, das ergibt eine Menge Raum zum Herumwalzen für die drei, und den füllen sie. Doom ist dabei nur ein vordergründiges Etikett, dem sie zwar maßgeblich Folge leisten, doch mit ihrer episch riffenden Mucke über alle Songs die Dynamik variieren, sie auch mal punkschnell vorantreiben, sie mit Thrash-Metal-Seele zum Hüpfen bringen oder depressiv und reduziert in den Abgrund steuern. Dabei verleihen sie dem Bass gelegentlich Fuzz und drehen die Gitarren auf 11 – und lassen ihren Stücken ausreichend Raum, um sich zu entfalten und bei aller stoischer Monotonie zu verästeln und Schattierungen, Nuancen und Seitenarme auszubilden, die jeden Anflug von Langeweile verhindern. „We hope your comfort zone dies“, sagen Dekonstruktor auf ihrer Bandcamp-Seite, und lassen das Album in einem Doom-Ambient trostlos ausgleiten.

Vor zehn Jahren ging Dekonstruktor aus der Band The Moon Mistress hervor, „Death Beat“ ist das dritte Album seitdem, zuzüglich EPs, Live-Alben und Split-Veröffentlichungen. Die Besetzung ist seit 2014 unverändert: Memphis, eigentlich Denis Petrov (Денис Петров), spielt auch bei Игорь, Evil Cosmonaut und den Illegal Ones, Mitya DHS, eigentlich Dmitriy Makarov (Дмитрий Макаров), trommelt noch bei Vivisectors‘ Gulag Tunes und war bei Meister Leonhardt und Ulfhednar, und Garish nennt sich bisweilen auch Garish Cyborg – mehr verrät er nicht – und macht außerdem Drone und Techno als Bass Tandem und Undo Tribe.

Detieti – Ne eP (2013)

„Ne eP“ war 2013 das zweite Album von Detieti, die man nur unzureichend als Rockband bezeichnen kann. Was hier nämlich in nur einem Track passiert, bekommen andere in Lebenszeit nicht hin. Die Band hat ihren Zappa intus, ihren Mike Patton ebenso – in absurdesten Brüchen treffen hier Genres aufeinander, die zusammen einen Track ergeben und die man niemals zusammen gedacht hätte. Chaos regiert, aus jeder noch so kleinen eingebauten Idee hätten andere ganze Songs gemacht. Streicher, Saxophon, irgendwelche Klöppelinstrumente mit –phon am Ende, plötzliche akute Aggro-Attacken, Gebrüll, Funk, Punk, Bossa Nova, Jazz, Folk, Orgel-Easy-Listening, Reggae, Metal, alles beherrschen sie und alles setzen sie ein, bisweilen in Sekundentakten wechselnd. Und dann gönnen sie sich und den Hörenden auch mal einige Zeit der Ruhe, indem sie chillig einen Synthieteppich ausrollen. Man kann sich gar nicht ausdenken, wie sich Menschen so etwas ausdenken können, und doch existiert es. Und funktioniert auch noch. Beeindruckend.

An „Ne eP“ arbeiteten Detieti als Quartett. Den Bass slappt hier Han, die Gitarre spielt Vanish (außerdem bei Zlurad, Rudolf und Stone Cold Boys), das Keyboard kommt von Peyote R und am Schlagzeug sitzt Victoor Tikhonov (bekannt von The Grand Astoria, Kshettra, Slovo Mira und Sound Of Ground). Prominente Gäste halfen bei der Umsetzung: Roman Karandaev (von Zlurad, Rudolf und Бром [Brom]) singt und spielt ein Instrument, das er als Trubophon bezeichnet. Sein Kollege Dmitry Kuzovlev (Izrazets sowie ebenfalls Zlurad, Rudolf und Бром) spielt Duduk (armenisches Holzblasinstrument) und Zafun (auch Xaphoon, eine Art Bambus-Saxophon). Saxophon und Geschrei steuert Eugenia Sivkova von Der Finger und Lizzard G bei. Die Geige kommt von Alex Chernokrivov. So viel Rudolf unter den Gästen nimmt einiges an DEEBBBB vorweg!

Ein Irrsinnsritt, wie immer bei Detieti. Man könnte die Musik für unstrukturiert und willkürlich halten, aber das kann man dann auch von Jazz, Fantômas oder Düreforsög sagen und damit allen Unrecht tun.

JWH – Гидра (2022)

Harter Stoff, in jeder Hinsicht: Auf „Гидра“, also Hydra, behandelt das Quartett JHW (Jekkyl Will Hyde) die Drogenprobleme in seiner Heimatstadt Wladiwostok, wie Menschen miteinander umgehen, was die Drogen aus den Menschen machen, wie kaputt der ferne Osten Russlands ist. Die vier Musiker kleiden ihre Klage in etwas, das sie selbst als Sludge bezeichnen, was nicht ausreicht: Man hört die Empörung und die Wut heraus, da dringt nicht nur im Gesang Hardcore durch, an mancher Stelle preschen die vier auch musikalisch punkig hervor. Die acht Songs sind zwar verhältnismäßig kurz, um die zwei, drei Minuten lang, und trotzdem schaffen JWH es, sie wirken zu lassen, als verginge viel Zeit; Feedbackstrecken und schleppende Riffpassagen zwischen den härteren und schnelleren Momenten tragen zu diesem Eindruck bei. Die zwei bis drei Stimmen zwischen Keifen und Grunzen bringen eine zusätzliche Spannung in die Musik.

„Гидра“ gilt trotz seiner Kürze als Debüt-Album von JWH, dem die Single „Желчь Земли“ voranging. 2015 gegründet, erfuhr das Quartett einige Umbesetzungen. An „Гидра“ beteiligt waren: Sänger und Gitarrist Denis Viner (einst bei Khaos Labyrinth), Schlagzeuger Egor Bespalov, Sänger Zakhar „Bakhar“ Pshenitski (auch bei Rotcult) und Bassist Max Dikusar. Als Gastsängerin ist die Sludge-Doom-Bassistin Anastasia „Nastya“ Ratkevich (Анастасия Раткевич) alias Acid Cøma (ebenfalls bei Rotcult) bei zwei Songs zu hören. Einen maßgeblichen Einfluss covern JWH zum Abschluss: „I Hate The Human Race“ ist im Original von Grief.

KissLiar – Rustic Acid (2024)

Psychedelisch, freakig, spacig startet die Reise von KissLiar, einem aus Jams geborenen Ensemble, das das Jamhafte auch auf seinem Debüt mit dem vielsagenden Titel „Rustic Acid“ beibehält. Flöten und Keyboards stechen hervor, nach Art der Siebziger sägende Gitarren, chillige Rhythmen, repetitive, loopartige Melodien, Folk, Freaks. Die Musik ist reichlich retro, man wähnt sich auf einer Landpartie irgendwo in England, befindet sich aber wahrhaftig in Moskau. Dort versteht man es, sich bei Bestehendem zu bedienen und es nach eigenem Dünken umzudeuten, umzuformen, zu erweitern: Hier finden sich beispielsweise Anleihen aus Funk und Northern Soul im psychedelischen Folk Rock.

Erstaunlicherweise sind KissLiar zwar zu siebt, aber niemand davon singt: „Rustic Acid“ ist ein rein instrumentales Album. Dafür lebt halt jeder von ihnen seine Virtuosität umso mehr aus. Zur Band gehören: Aleksandr Lazarev (Gitarre), Andrey Bass (Gitarre und Bassgitarre), Artyom Levitskiy (Bassgitarre), Arseniy Volodin (Flöte), Ivan Lugovoy (Keyboards), Sergei Iushin (Schlagzeug) und Andrey Formalnov (Percussion). Beide Vorabsingles aus dem Jahr 2022 sind überdies inklusive B-Seiten auf dem Album enthalten – das dennoch sehr aus einem Guss ist, keine Sammlung von Tracks.

Da die Band ihren Rock nicht auf Härte baut und auch erst im letzten Track einmal richtig Gas gibt, sondern den Groove und die Psychedelik in den Vordergrund stellt, fällt es leicht, sich in der Musik fallenzulassen. Oder auch, sich wild und ausgelassen dazu zu bewegen. „Rustic Acid“ klingt aus der Zeit gefallen, aber aus keiner fest bestimmbaren, denn dafür sind zu viele Komponenten enthalten, die damals, als diese Art Folk Rock aufkam, nicht Bestandteil derselben waren. Und als Vergleich zu Amorphous Androgynous sind sie zu analog. So geht das!

Polarnik – Протокол (2024)

Gleich der Opener „Волчок“ wirft einen um: Screamo-Hardcore kombiniert mit den Gesängen indigener Nordamerikaner. Und das von Polarnik, einem Quartett aus Kaliningrad. Einem Quartett, das man weitläufig dem Hardcore zuordnen würde, wäre der nicht für das, was hier auf dem Debüt „Протокол“ (Protokoll) passiert, zu limitiert. Die vier entschleunigen den Hardcore und machen ihn zu einer Art Sludge Metal, das Schlagzeug scheint sich bisweilen schwebend über Weglassungen in die Tracks zu hangeln, die Gitarre verwebt Flächen und epische Melodien, der Bass treibt den Groove voran und über allem thront das hohe, keifende Geschrei aus dem Screamo. Das ist nicht einfach nur Geboller, das blickt in Richtung Post Metal, Post irgendwas mit Härte, das ist effektvoll, weil es nicht mit plakativen Effekten arbeitet.

Fett ist die Musik von Polarnik auch deshalb, weil hier mit Evgenii Gerashchenko (einst bei Gentle Tick und Silent Guide) und dem inzwischen leider wieder ausgestiegenen Mikhail Sulzhenko (ebenfalls Ex bei Gentle Tick, Nuclear Bear, Constructions und Ishimura sowie aktiv bei Threesingles) zwei Gitarristen am Werk sind. Bass spielt Artiom Nikolaitis (ehedem bei Constructions, Kocytos, Black Mark und KAFÓ) und Schlagzeug Evgenii Zalyzin (seinerseits Ex von Gentle Tick, Up To Times und Whirler Hang sowie nebenbei bei Grasping Veld), das Geschrei übernimmt Sergei Lushchakov (auch bei Hierarchy, Open Here und Threesingles sowie Ex von Constructions, Crassus und We Set To Fire), im Opener begleitet von Varvara Maksimova. Wenn das Quintett hingegen nicht auch zu reduzierten, chilligen Momenten in der Lage wäre, könnte man „Протокол“ wohl nur schwer häufig durchhören – das Energielevel wäre zu hoch, die entspannenden Passagen erhöhen die Spannung, so paradox es klingen mag.

REBBBB – Мироздание – это я (2022)

Bevor sich Detieti und IWKC mit Rudolf für „Episode 3“ zusammentaten, probten IWKC und Rudolf ohne Detieti als REBBB, also Rudolf Evil Bear Boris Big Band, auf „Мироздание – это я“ („Das Universum bin ich“) den Impro-Dub. Der Hip-Hop-Anteil von Rudolf tritt hier stärker hervor als auf „Episode 3“, es gibt russischen Rap und Scratches zum bekifften handgespielten Dub und Reggae, wenngleich nicht alle Tracks durchgehend im Offbeat gehalten sind; manche haben ein irrwitziges Tempo. Man hört, dass die sechs Musiker eine Menge Spaß haben – das ist Party pur hier, zwischen Strand und Club, mit handgespielten organischen Beats und fröhlichen Melodien, mit jeder Menge Energie und ansteckender Freude. Dabei dreht es sich thematisch um SciFi-Lyrik, sagt die Info, was ein Kontrast, aber dazu passt die spacige Psychedelik in manchen Tracks.

Hier begeistert insbesondere die Kombination aus organischem, hoch energetischem Instrumentarium und Scratches und Rap. Der auf Russisch formidabel funktioniert, auch ohne dass man ihn versteht, der Klang passt bestens zur Musik, und manchmal verfallen die Stimmbeitragenden auch in Chants und tragen damit eine Art Melodie zur Musik bei. Hinter allem sitzt ein Schlagzeuger, der, begleitet von Percussions, ein wildes Beatmonster entfesselt – er allein könnte die Party schon schmeißen.

An REBBBB beteiligt sind: Dmitry Kuzovlev (Gitarre und Stimme), Ivan Khvorostukhin (Stimme, Percussion und DJ-Scratches), Nikita Samarin (Schlagzeug), Nikolaj Samarin (Bass und Novation Bass Station), Alex Rtishev (Stimme und Live-Loops) und Andrey Silin (Keyboards). Für die ersten fünf der sechs Tracks ließ sich das Ensemble für die Texte bei Igor Kholin inspirieren, einem Avantgarde-Autoren, dessen nonkonforme Arbeiten damals in der Sowjetunion abseits von Kinderbüchern nicht veröffentlicht wurden. Da steckt ja auch eine Menge Botschaft drin, sich heute in Russland eines solchen Künstlers anzunehmen. Tanzbarer Protest, irrsinnig entfesselte Energie.

Spaceking – Stardust EP (2009)

Seine Debüt-EP als Spaceking spielte Ivan Zakharov aus Sankt Petersburg 2009 noch komplett allein ein, gab die Richtung der späteren Band aber schon wegweisend vor: Auf der „Stardust EP“ versammelt er vier instrumentale Stoner-Rock-Tracks, mit denen er die Hörenden urst bekifft ins All schickt. Man hört deutlich heraus, dass sein Hauptinstrument der Bass ist, denn der ist hier wesentlich präsenter als auf vergleichbaren Veröffentlichungen des Genres. Entsprechend virtuos bedient er sein Instrument, das er nicht zum schlichten Achteln verwendet, sondern damit den Stoner-Groove befeuert. Tiefe Gitarrenmelodien und schleppende Drums gehören zum Arsenal, und genau das bekommt man hier auch. Inklusive einen kurzen Ausflug in die Disco und in den Ambient im abschließenden Titeltrack. Erstaunlich ist lediglich, dass der Spaceking es schafft, seine vier Tracks in nur 20 Minuten unterzubringen.

Als Bonus integriert Ivan einige Keyboard-Effekte in die Musik, mit denen er die Übergänge zwischen den Tracks gestaltet und die die spacig-abgedriftete Atmosphäre nur unterstreichen. Dann widmet er sich wieder seinem dominanten Bass – oder lässt auch mal die Gitarre ein sanftes Solo spielen. Ein vielversprechender Auftakt, von dem bekannt ist, dass ihm mehrversprechende Alben folgten.

Spaceking – Boot Leg (2011)

Zum Beispiel das „Boot Leg“, aufgenommen bei den Proben der vollständigen Band Spaceking und sogar um eine Minute kürzer als die Debüt-EP. Von der übernimmt die Band den Track „Labyrinth“, der ausformuliert auch auf dem Debüt-Album „In The Court Of The Spaceking“ erscheinen wird, sowie mit „Taklamakan“ und „Spaceking“ zwei weitere Vorgriffe auf das zwei Jahre später erst erschienene Album. Der Rauswerfer „The Name Is An Anagram“ ist exklusiv.

Nichts gegen die instrumentalen Qualitäten der Bandkopfes Ivan Zakharov, doch es verleiht der Musik von Spaceking eine zusätzliche Ebene, wenn sie von fünf Leuten eingespielt wird, und das wie hier auch noch gemeinsam in einem Raum. Die fünf befeuern sich gegenseitig, unterstützen sich in der energetischen Darbietung, motivieren sich zu Ausflügen und Exkursen, verleihen der Musik ein neues Leben, auch wenn die sich grundsätzlich nicht sehr ändert. Hier liegt das Ohrenmerk nicht mehr allein auf den guten Tracks, sondern auch auf der sehr lebendigen Darbietungsform. Hier geschehen Dinge, die Ivan allein nicht hinbekommen hätte, besondere Breaks, unerwartete Soli, sich gegenseitiges Hochschaukeln – die Entscheidung, den Spaceking als Band fortzuführen, war eine gute. Instrumental bleibt der Spaceking überdies auch als Band, im letzten Track sind lediglich einige Samples zu hören. Ein Anagramm wovon überhaupt?

Zur Band stießen damals: die Gitarristen Sergey Tumanov und Ilya Yakunov, Schlagzeuger Ilya Makarov und Denis Demchev, zuständig für Effekte. In dieser Besetzung spielten Spaceking auch ihr Debüt ein.

Spaceking – The Piper At The Gates Of Stone (2016)

Wie schon das Debüt „In The Court Of The Spaceking“ trägt auch das zweite Album „The Piper At The Gates Of Stone“ eine konkrete Referenz im Titel: Dort waren es King Crimson, hier sind es Pink Floyd. Deren spacige Einflüsse sind bei Spaceking nicht von der Hand zu weisen. Dennoch überwiegt auch hier natürlich der Stoner Rock, riffdominiert und wuchtig, und, anders als auf dem „Boot Leg“, richtig fett produziert, der Unterschied ist erheblich. Die Band hat sich aufeinander eingespielt, die Kompositionen sind virtuos und sprühen vor Ideen, jeder Track biegt in ungeahnte Richtungen ab.

Denn Spaceking verharren längst nicht mehr im Genre Stoner Rock, der Titel deutet es ja an: Die Band ist dazu bereit, über die Ufer zu treten, und lauscht sich das weniger riffdominante Spacige beim Prog Rock der Siebziger ab, das sie zwischen ihre Riffs setzt. Auch scheuen sich Spaceking nicht davor, ihre Riffs mal in Richtung Metal zu drücken, und bedienen auch mal mit flirrenden Gitarren den Post Rock. Das ganze Album erscheint dadurch noch abwechslungsreicher und birgt eine aufmerksamkeitsfordernde Spannung. Zudem ist das alles auch noch so unglaublich gut gespielt und produziert.

Auf diesem Album sind Spaceking nur noch zu viert, der Effektmeister Denis Demchev ist nicht mehr an Bord dieser Rakete. Auch gab es einige Wechsel: Stanislav Mateev ersetzt Sergey Tumanov an der Gitarre und Dabiil Kornev rückte für Ilya Makarov auf den Schlagzeugschemel. Dafür banden Spaceking vereinzelt Gäste in die Aufnahmen ein: Andrey Romanov spielt die nordafrikanische Rahmentrommel Bendir und die Maultrommel, Vladimir Kabanov Synthies und Ivan Rozmainsky Keyboards. Gemeinsam kreieren sie ein mitreißendes, abwechslungsreiches, fett produziertes Album, das abermals einen Gesang nicht vermissen lässt.

Thy Grave – Filth (2021)

Die Welt ist Scheiße, und das muss man ab und zu auch mal in Musik ausdrücken. Thy Grave aus Moskau kotzen ordentlich ab, auch auf dem zweiten Album „Filth“, das acht Jahre nach dem Debüt „Anhedonia“ erschien. Der Titel ist passend gewählt, die Musik entspricht dem sehr: Von Doom ist hier offiziell die Rede, doch sind Thy Grave wesentlich aggressiver und schlechter gelaunt als gewöhnliche Doomer. Da steckt Death Metal drin, Sludge, irgendwas Böses noch, das Quartett nimmt sein Instrumentarium und spielt es besonders langsam und brutal. Jedes Riff braucht Minuten, um einmal vollständig abgewickelt zu werden, und dazu keift und gröhlt der Sänger seinen Unmut in die Welt.

Über die Spielzeit des Albums – sechs Songs in einer guten Dreiviertelstunde – variieren Thy Grave das Tempo kaum, es bleibt verschleppt, verstört, deprimierend und dabei gleichzeitig aggressiv. So ganz ohne Variationen geht es dann aber doch nicht ab: Innerhalb der Tracks verändern Thy Grave die Intensität der Brutalität, sie fahren also auch mal die Energie zurück und riffen ewig auf einer Gitarre herum, ohne dass Schlagzeug und Bass den Druck in Richtung Abgrund beibehalten. „Filth“ ist schwere Kost und nicht dazu geeignet, dunkle Tage aufzuhellen.

Thy Grave ging seinerzeit maßgeblich aus der Band Meister Leonhardt hervor. An „Filth“ beteiligt waren Eugene, eigentlich Evgeniy Murashkin (Евгений Мурашкин) und alias Rodislav, Gitarre und Gesang, Max (Gitarre), Ira (Bass) und Sergey (Schlagzeug). Damit fand ein Wechsel seit dem Debüt statt, dort hießen Musiker noch Røt und Uporoller; Helferlein und Digger scheinen geblieben zu sein, nur umbenannt.

Thy Grave – My Body Is A Coffin (2022)

Die Folgende EP von Thy Grave mit zwei Tracks, „My Body Is A Coffin“, markiert die Rückkehr des ersten Sängers: Røt ist wieder dabei und grunzt ins Mikro, am Schlagzeug löst Konstantin das Helferlein ab, sonst bleibt es bei Eugene, Ira und Max. Und dabei, mit so wenig BPM wie möglich so brutal wie möglich zu sein. Fett bleibt der Sound, aber ist ja auch kein Wunder bei zwei Gitarren, und es scheint, als hielte sich Røt, der sich hier jetzt A.C. nennt, mit seinem Organ etwas zurück im Vergleich zu Eugene. Mit dieser EP drücken Thy Grave abermals ihre Abscheu in Bezug auf Menschen und Menschheit aus. Angesichts der Weltlage eine nachvollziehbare Sicht: nicht besonders erhellend. Der Soundtrack für den Untergang.

Verba – Молчи, грусть, молчи (2005)

„Молчи, грусть, молчи“, also „Stille, Traurigkeit, Stille“, nannten Verba aus Moskau ihr Debüt-Album, und das passt bestens: Die instrumentale Musik ist reduziert und langsam gehalten, eine Art Indierock, selbstversunken und spartanisch. Nicht immer steht die Gitarre vorn, bei manchen Tracks handelt es sich um Pianoballaden, das Schlagzeug hält sich bei allem sehr zurück, so kraftvoll es auch klingt. Traurigkeit bedeutet für Verba indes nicht Weinerlichkeit, ihre Balladen sind frei von Pathos. Und die Musik ist warm, eine bei Traurigkeit erwartbare Kälte liegt ihr nicht inne. Zudem mögen Verba es auch psychedelisch und spacig, manche Tracks verlassen den Planeten, und kurios, die Bodenhaftung verlieren sie nie. Und erst im neunten Track rocken Verba mal etwas heftiger, begleitet von einem Ambient-Keyboard, und der Abschlusstrack rockt dreckig.

So reduziert wie in der Musik ist die Band auch in der Titelgebung: Die elf Tracks sind einfach in Römischen Zahlen durchnummeriert. Zur Band gehörten damals: Илья Зинин (Ilya Zinin, Gitarre und Effekte), Антон Димитриев (Anton Dimitriev, Bass, Gitarren, Geräusche), Наталья Сапожникова (Natalya Sapozhnikova, Keyboards und Gesang), Дмитрий Дроздов (Dmitry Drozdov, Schlagzeug) und Сергей Лезин (Sergey Lezin, Effekte und Elektronik). Drei Gäste listet die Info auf: Theodor Bastard mit Elektronik, Театр Яда (Theater des Giftes) mit Interferenz und psychedelischen Objekten und Игра Снов (Spiel der Träume) mit Geräuschen und Effekten.

Ein Jahr nach dem Debüt erschien die EP „Temp“, 2010 das zweite Album „Tok“, dazu zwei Split-Singles, dann trennte sich die Band. Die Hälfte von Verba ging hernach in den großartigen Резина (Rezina) auf. „Молчи, грусть, молчи“ ist jede Wiederentdeckung wert.

Голуби и Безумные Кашевары – Hopa (2022)

Soso: Голуби и Безумные Кашевары nennt sich das Mega-Kollektiv aus Sankt Petersburg, also Tauben und verrückte Köche. Demnach dürfte „Hopa“, so der Titel des sechsten Albums, „Nora“ heißen. Die Musik auf diesem Album ist genremäßig derartig weit gefächert, dass man sich kaum vorstellen kann, wie all dies von nur einer Band kommen kann. Na ja, Band: Голуби и Безумные Кашевары besteht aus 13 Musikern, es handelt sich vielmehr um ein Orchester, und dann erklärt sich wohl auch diese versponnene Vielfalt.

Und die Vielfalt hier ist versponnen – das Ensemble kennt seinen Zappa, wendet ihn aber anders an, nämlich nicht so mosaikartig, dass die widersprüchlichen Einzelteile blockartig aneinandergefügt sind, sondern wahrhaftig miteinander kombiniert. Und was die 13 Musizierenden nicht alles so gut beherrschen, dass sie es gelungen und überzeugend zusammenfügen: Rockmusik aus Prog, Folk, Kraut, Space und Psychedelik, Melodieführungen wahlweise aus dem Mittelalter oder dem Orient, Gesang wie von Lisa Gerrard oder von Milan Fras, besonders, wenn der Kehlkopfgesang konkrete Vokabeln transportiert, Country-Twang, Reggae-Offbeats, Saxophonrock, keltische Folklore, Rondo Veneziano und Andeutungen von Jazz. All dies kommt auf „Hopa“ zum Einsatz, und zwar immer so drei, vier Bausteine in einem Song und alle über das Album verstreut. Bemerkenswert, wie gut das funktioniert: Man braucht schon einigen Sachverstand, um zu ahnen, was so gut wie hier zusammenpasst.

Viele Köche verderben den Brei, heißt es, und wenn sie verrückt sind, wie soll es dann nur werden – hier sind es 13 und sie verderben gar nichts. Die bestimmende Stimme trägt Natalya Grazhdankina bei, begleitet von Gitarrist und Organist Daniil Grazhdankin. Pavel Dombrovskiy spielt Bass, Gitarre und Synthesizer, Georgiy Medvinskiy Tenor- und Sopransaxophon, Valeriya Meshkova Oboe. Vladimir Polevikov und Liliya Akivenson bedienen Synthesizer, Alexandr Sokolov eine weitere Orgel. Rhythmisch ist man zu dritt: Alexandr Meertsuk mit Percussion sowie Egor Egorskiy und Gleb Pinskiy am Schlagzeug. Anatoliy Buchin spielt Flöte und Dmitriy Ataulin Gitarre. Die Anfänge von Голуби и Безумные Кашевары liegen vor dem Jahr 2009, in dem das Debütalbum „Вояж“ erschien, auch veröffentlicht als „Le Voyage“ unter dem Bandnamen Pidgeons & The Insane Porridgemakers.

Резина – Говорю (feat. Света Матвеева) (2023)

Seit „1619“ bringen Резина all ihre Songs nur noch als verstreute Singles heraus, zuletzt „Говорю“, „Ich rede“. Wie üblich sucht sich das Moskauer Instrumental-Projekt für seine Songs Stimmen, dieses Mal die von Света Матвеева, Sveta Matveyeva, auch bekannt als Wooden Whales. Ihre beinahe fernöstliche Art zu singen legt sich über den Nosierock, den die Band entfesselt. Ohne Eile, aber ausnehmend intensiv. Seine Intensität baut der Song erst auf und lässt dann den Fuzz von der Leine. Резина sind hier Gitarrist Ilya Zinin, Bassist Oleg Lisitsin und Schlagzeuger Dmitry Drozdov.

Резина – Космические войска feat. Он Юн (2021)

Die Musik der Noiserocker Резина funktioniert mit allen erdenklichen Stimmarten – so auch mit Он Юн, On Yun, einem Hip-Hop-projekt aus St. Petersburg. Abermals halten Резина ihren Song „Космические войска“, „Weltraumstreitkräfte“, langsam kopfnickbar mit kleinen lärmigen Ausbrüchen, und Он Юн rappen dazu, mit Nachdruck und Ausdruck, auf eine Weise, die weniger wie Rap wirkt als wie aggressiver Rock-Sprechgesang. Passt perfekt, dazu ist die Mucke auch noch unsagbar gut. Es wird Zeit, dass Резина all ihre Einzel-Songs zu einem Album bündeln und physisch veröffentlichen, ebenso das Debüt.

Рудольф – Первенец (2022)

Wie klingen Рудольф (Rudolf) aus Moskau eigentlich ohne DEEBBBB oder REBBBB? Das lässt sich auf dem Debüt-Album „Первенец“, „Erstgeborener“, herausfinden: Hier herrscht das pure Chaos. Zwanzig Minuten Krach. Lärm. Geschrei, Geboller, Wutausbrüche. Die Grundlage könnte so eine Art Punk sein, Noisecore vielleicht, scheppernd lärmender Rock’n’Roll, angereichert mit Scratchings. Und dazu brüllen die Leute herum und nennen es Hip Hop.

Es stimmt schon, Songs wie „Томный скит“ lassen sich durchaus noch als Hip Hop einsortieren, mit der ausnahmsweise reduziert dargebotenen organischen Musik darunter vielleicht sogar als Crossover. Doch ist ein Song wie dieser eine Ausnahme, ansonsten bolzen die Rudolfs einfach mal los; steckt da nicht sogar Speed Metal drin? Zappa-Jazz? Die Band selbst schreibt noch Sludge in ihre Info, aber nee, dafür sind sie zu flott unterwegs.

Eindrucksvoll, wie Рудольф den Punkrock mit ihrer verbalen Darbietung und den Scratches kombinieren. „Первенец“ beinhaltet zehn kurze Tracks, die so wahnsinnig sind, dass das Album viel länger wirkt. Die müssen jede Menge Spaß im Studio gehabt haben. Respekt vor den Einzelteilen, die sie da zusammenbauen, haben sie nicht, oder besser: Respekt vor den Puristen, denn die dürften an diesem Album verzweifeln.

Шаййм – Сон да не сон (2020)

Was für eine Dynamik! Шаййм (Shajjm) aus Moskau entwickeln vom ersten Takt an einen unentrinnbaren Sog. Ihr Debüt „Сон да не сон“, „Es ist kein Traum, sondern ein Traum“, denkt Folk Rock weiter, in eine getriebene, energetische, druckvolle Richtung. Das Schlagzeug wummert wie bei manchen Alben von New Model Army, dazu erklingen Flöten, der auf Russisch gehaltene Gesang fordert jede Aufmerksamkeit ein, die Musik bekommt brutale Industrial-Hammerschläge wie bei den Swans. Der fast achtminütige Opener „Камни“ hinterlässt die Hörenden atemlos.

Den Pfad der Brutalität verlassen Шаййм danach, bleiben aber so dringlich wie zuvor und verlagern sich auf Psychedelik, mit der sie ihre Version von Folkrock aufbocken. Auch mit reduzierter gespieltem Instrumentarium behalten Шаййм das hohe Energielevel bei, am stärksten ausgedrückt per Gesang, aber auch mit lebendigen Percussion-Einsätzen und der jazzigen Flöte. Die gesamte Darbietung bekommt zusehends etwas Schamanisch-Rituelles, was die Band auch damit ausdrückt, dass sie die nur fünf Songs dieses Albums unendlich ausdehnt – ohne dass sie langweilig werden. Zum Schluss nehmen Шаййм kurzzeitig auch das Eruptive des Openers wieder auf und versetzen ihrer psychedelisch-freakigen Folkmusik einen Tritt.

Nur vier Leute waren an diesem üppigen Album beteiligt: Schlagzeuger Ilya Borodin, Kontrabassist Roman Komlev, Flötist Nikita Bobrov (auch bei Dry River) sowie Sänger und Gitarrist Nikita Chernat (auch bei Хадн Дадн). 2023 folgte das zweite und bislang letzte Album „Радостные дни“, in identischer Besetzung eingespielt.

Шон – ŠÖŇ (2012)

Von Шон (Shon) aus Королёв (Koroljow) etwas nördlich von Moskau scheint es ausschließlich das quasi selbstbetitelte Album „ŠÖŇ“ zu geben, lediglich der einzelne Track „Не говори никому“ erschien zehn Jahre nach diesem Auftakt, und zwar als Opener der Label-Compilation „Addicted Tuens“. Das Album ist instrumental gehalten – und die Musik nicht ganz einfach zu fassen: Irgendwie Sechziger-Garage-Rock, also scheppernder Proto-Punk, aber mit einer anderen Haltung dargeboten, gar nicht so konkret auf retro gedreht. Da stecken zu viele andere Einflüsse drin, die sich auch schon in den Songs und den Titeln ausdrücken. So covern sie etwa den Breakbeat-Hit „Rockit“ von Jazzmeister Herbie Hancock als elektrifizierte Garage-Rock-Bombe, nennen einen Track mit gutgelauntem Ska-Beat „Slack Babbath“ – und „Готичный сёрфер“ trifft den Nagel auf den Kopf: „Gothic Surfer“.

In ihrem musikalischen Ausdruck sind Шон dabei sehr vielseitig: Einerseits versehen sie ihren Bass ganz gern mit Fuzz und schaufeln gern eine Schippe Dreck auf ihren Sound, andererseits gibt es auch so klar, beinahe poppig gespielte Surf-Songs wie „Зорька и Худенький“. Auch schrecken sie nicht vor Disco-Beats zurück, die unter den schrägen Fuzz-Sounds liegen. Bei aller Vielseitigkeit zeichnet sich die Band durch erhebliche Spielfreude aus, die Songs tragen Dynamik und ansteckende gute Laune, die nicht an der Oberfläche pappt.

Interessanterweise lässt sich über die Bandbesetzung gar nichts herausfinden; vielleicht hat man mit Russischkenntnissen mehr Erfolg, aber selbst danach sieht es nicht aus. Erstaunlich genug, dass man heutzutage noch ein Geheimnis bleiben kann. Umso mehr Ohrenmerk liegt eben auf der Musik. Übrigens: Das „Rockit“-Cover ist bedauerlicherweise nicht auf allen Versionen des Albums enthalten.

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