Von Matthias Bosenick (22.03.2017)
Dieser Jean-Luc de Meyer hat aber auch eine geile Stimme. Der veredelt alles, woran er beteiligt ist. Hier nun mit Patrick Codenys an Under Viewer, einem von zwei Projekten, aus denen 1981 Front 242 hervorgingen. Das andere war Prothèse von Daniel Bressanutti. Von beiden gab es keine offiziellen Veröffentlichungen, sieht man von den Demos ab, die das Label Alfa Matrix 2004 zum Rerelease des Front-242-Debüts „Geography“ auf die limitierte Bonus-CD packte. Beide Projekte überarbeiteten ihre Demos und schufen neue Songs, die sie jetzt unter die EBM-Fans bringen – und diese sicherlich eher verstören: Under Viewer ist wunderschöner dunkler minimaler Pop, Prothèse zirpendes Experiment mit Ambient-Schlag, beides also in einem völlig anderen Sinne „Kampfbereit“.
Anders als etwa The Sisters Of Mercy oder Kraftwerk, die wie Front 242 seit Jahrzehnten keine neuen Studioalben veröffentlichen, scheren sich die Belgier einen Schiet um die Fanerwartungen und toben sich seitwärts vom Hauptding in EBM-fremden Gefilden aus. Und das immer lohnenswert und horizonterweiternd.
Als Under Viewer legen Jean-Luc de Meyer und Patrick Codenys einen Schwerpunkt auf schöne Melodien und Harmonien. Sicherlich ist ihre Vorstellung von Popmusik kein Stück radiokompatibel, weil sie immer noch zu dunkel ist, zu viele verstörende Sounds beinhaltet, nicht auf Opulenz produziert ist. Man muss sich dem Album schon von dunkler Warte aus nähern, um es erfassen zu können; Popkenner sollten sich vorher vielleicht „Organisation“ anhören, das zweite Album von Orchestral Manoeuvres In The Dark, das ebnet den Weg für Under Viewer. Patrick Codenys beherrscht die Codes des Synthiepop, er kennt die Bassläufe, die pluckernde Melodieführung, die variantenreichen Drumpatterns, die Discofoxtauglichkeit, den schönen Klang. Und er weiß, wie man die etablierten Strukturen überwindet und durchbricht. An dieser Schnittstelle findet die Musik von Under Viewer statt. Und de Meyer verschönert alles mit seiner dunklen, rauhen, durchdringenden, fordernden Stimme. Ein wahnsinnig gutes Album, aus der Zeit fallend, weil nicht datierbar. Auf „Geography“ enthalten waren fünf Tracks von Underviewer, wie sie dort genannt wurden; hier in ausformulierter Version zu hören sind davon „Syncussion“, „I Remember“ und „Trouble“, es fehlen „Mood“ und „Labo“.
Ganz im Kontrast dazu befeuert Daniel Bressanutti auf seiner Ausgabe der Präprojekte den Weltenbrand. Er hält sich an kaum eine Harmonielehre, interessiert sich nicht die Bohne für Songs, ignoriert trotz gelegentlichen Tempos die Clubtauglichkeit und feiert das Modulieren seiner Synthesizer. „Überlastung“ ist eine Box, die die auch separat erhältliche Doppel-CD „AIIHB0A0“ sowie die 12“ „Spannung“ und die 7“ „Unterbrechung“ enthält. Alle Tonträger drehen sich rund um den Track „Spannung“ in allen möglichen Leech-Titelvarianten, wie „Spannung10 313ktr0st4tik“, „Sp4nnungb0gen“ oder „Sp4nnung95 unk0ntr0111iert“. Diese in Summe 16 Stücke begleiten eine Download-EP namens „Harmonische Wechselspannung“ und entstanden laut Cover zwischen 1998 und 2010. Einen Link zu seiner Hauptband setzte Bressanutti im einzig abweichenden Titel des Album-Openers: „Ub3rl4stung<242volts>“. Doch an die erinnert bei Prothèse musikalisch fast gar nichts – sieht man einmal davon ab, dass der bis dato letzte offizielle Studiotrack von Front 242, „Sick Of U“, aus dem Jahr 2000 sehr deutlich Bressanuttis Handschrift trug, die davon geprägt ist, dass er seine Melodien gern ins Abwegige wegzirpen lässt. Mit seinen Lieblingstönen lassen sich Hunde verjagen. Und diese Töne setzt er auch auf „Überlastung“ ein. Episch. Das Ganze ist bisweilen zwar auf eine zynische Weise entspannt, aber längst nicht so wohlklingend und harmonisch wie sein anderes gegenwärtig aktives Projekt Nothing But Noise. Er hat Spaß am Experiment und lässt seine Hörer kichernd an seinem Knöpfchendrehwahn teilhaben. Die drei Prothese-Tracks von „Geography“ sind auf „Überlastung“ übrigens gar nicht enthalten.