Spezial: Klangwirkstoff-Records

Von Matthias Bosenick (02.02.2021)

Chillige Musik für unchillige Zeiten: Auf dem Berliner Label Klangwirkstoff veröffentlichen Bert Olke und Tom Wölke Musik von Künstlern, die wie sie selbst Töne aus den Rotationen von Planeten und Molekülen errechnen. Dem legen sie die Kosmische Oktave von Hans Cousto zugrunde; hier begegnen Wissenschaft und Esoterik einander, was in jedem Fall in entspannte akustische Traumreisen mündet. Möge das Schlagwort Ambient an dieser Stelle einmal fallen. Ein Überblick vermittels vierer Alben aus dem Labelkatalog.

The Sound Of CBD – Compilation (2019)

Das tut richtig gut, akustisches Kiffen ohne Nebenwirkungen. Vier Künstler setzen die Frequenz von CBD in Musik um, indem sie sie als Grundlage nehmen für eine Kopfreise mit jeweils eigener Landschaft. Bei CBD handelt es sich um einen Molekül aus dem Hanf, genau gesagt, um ein explizit nicht psychoaktives Cannabinoid aus den weiblichen Pflanzen, dem positive medizinische Wirkungen zugeschrieben sind. Und die Musik, die die vier Künstler nach Hans Cousto aus den fünf Spektralfrequenzen des Moleküls transkribieren, übersetzt diese Wirkungen in Schall.

Den Auftakt macht das Duo Planetary Cymatic Resonance, das sind Steffen Günther und Timo Preece aus Berlin. Ihre Reise namens „Caban 324“ beginnt warm zirpend, beatlos und so episch, wie man sich eine bekiffte Reise vorstellt. Kein Stress, keine Barrieren, nicht mal Melodien, sondern lediglich wechselnde Tonhöhen bei entspannenden Geräuschen. Ein perfekt herunterbringender Einstieg. Es folgt Labelchef Bert Olke alias B. Ashra mit „Cannabidiol“, der ein einsames Windspiel vor eine latent bedrohlich wirkende Dronekulisse hängt. War der Auftakt noch nach außen drängend, fühlt man sich hier eher nach innen gekehrt, in einem Hallraum von enormen Ausmaßen befindlich. Auch sein Track bleibt zunächst beatlos. Sobald das Windspiel verklingt, steuert Olke einen retrofuturitischen Synthiesound dazu, der dem Auftrag gemäß nicht an konkreten Melodien interessiert ist, sondern an Frequenzen, und der sich im Soundtrack vom „Captain Future“ recht gut gemacht hätte. Olke variiert seine Vision von CBD behutsam, bei ihm tritt der Hörende eine entschleunigte Reise durch unterschiedliche emotionale Landschaften an – bis er sich nach mehr als der Hälfte der Spielzeit sogar in einem Club wiederfindet, in dem er zu einem zurückgenommenen Beat gechillt nickt.

Motom ist das Alias von Tom Wölke, mit dem Olke nicht nur das Label Klangwirkstoff betriebt, sondern bisweilen auch als DJ-Team Motobash auftritt. Sein „Pleiotropic CBD“ beginnt dunkler als die bisherigen Tracks, es vertieft sogar noch die ersten Drones von B. Ashra. Der Track rauscht, ein gelegentlich angeschlagener sehr tiefer Ton durchbricht den weißen Nebel. Aus dem sich alsbald eine Soundkulisse herausschält, die an entfernte Geschäftigkeit erinnert, an Großstadt, an Industrie, ohne jedoch konkrete Objekte zu zitieren. Irgendwo in der Ferne tobt das Leben, aber das Leben anderer Leute, der Stress anderer Leute, der sich zu einem Drone verdichtet, der den Hörenden eher hypnotisiert, anstatt ihn zu ebensolcher Geschäftigkeit anzustacheln, und dabei auch latent verunsichert, weil die Sounds unterschwellig verstörend wirken. Erst mit der Zeit entwickelt Motom daraus wohlig umgfangende Frequenzwechselmelodien. Und auch sein Track kippt alsbald in etwas Rhythmisches mit klareren Sounds, ebenfalls fernab von BPM-getriebenen Clubs, bis er sich wieder dronend verabschiedet. Zuletzt bedient Barnim Schultze alias Akasha Project in „Come Breathing Down“ die Klangschalen. Der Titel ist Programm, man kommt runter, atmet langsamer. Schultzes Track ist federleicht, besteht aus nur wenigen Sounds überhaupt, eigentlich nur aus einem Hauch, in den er nur zögerlich zusätzliche Töne einfließen lässt. Das Album ist zuende, jetzt kommt der Fressdrang.

Morphon – Om Mars Venus (2008)

Bei Morphon mischen drei Künstler mit: B. Ashra Tommelon und Eru, also einmal mehr Olke und Wölke sowie Ricky Deadking alias Alexander Rues. Mag man kaum glauben, aber hier hat man es mit zwei Gitarristen und einem Thereminspieler zu tun. Und drei Elektromusikern, natürlich. Mit diesen Mitteln generiert das Trio zunächst eine Klangmeditation, die auf dem „Om“-Ton basiert, der mit einer Frequenz von exakt 136,1 Schwingungen pro Sekunde sowohl dem Herzen als auch dem tropischen Erdenjahr zugeordnet ist. Doch bis es überhaupt zu einem Herzschlag kommt, vergehen mehr als elf Minuten, in denen das Trio sich auf Flächen und sich verändernde Tonhöhen mit Knistern und Knurpsen verlegt. Diese Beats wiederum sind keine klassischen Dancefloorbeats, sondern ein in der Tonhöhe variierendes elektronisches Pluckern, das über einer Art mechanischem Stoßatmen liegt und mit diesem den Kopf des Hörenden nur sanft und bedächtig nicken lässt. Der Beat in der zweiten Hälfte des Tracks wiederum wirkt zwar schneller, hat aber die Behutsamkeit von Wassertropfen. Bis beinahe industrialartige Sounds und Zirptöne hinzutreten und die Entspannung zugunsten erhöhter Aufmerksamkeit hintenanstellen.

So planetarisch sich die Titel auch geben, so sehr geht es doch auch um den Menschen, denn es decken sich hier nicht nur Menschenherz und Erdenjahr, sondern sind schließlich auch Mars und Venus Geschlechtern zugeordnet. Entsprechend liegen den Tracks „Mars“ und „Venus“ auch andere Charaktere zugrunde als „Om“: Der männliche Track überrascht mit vergleichsweise harten Basssounds, die die Sphären durchsetzen und in etwas Synthetisch-Technoides nach gebremstem kraftwerkschem Vorbild übergehen, dem weiblichen Track ist jede Härte wieder genommen, stattdessen kehrt analoge Wärme in den Sound ein, versetzt mit kosmischen Synthietönen, einem weichen Grundrauschen sowie raffinierten Effekten, darunter Klavier- und Geigentöne, die sich im All verlieren. Auch wenn das Trio die Entspannung und die Meditation als Anlass dieses Albums sieht, sei die dringende Empfehlung ausgesprochen, sich diese drei Tracks bei Bewusstsein anzuhören – es gibt viel zu entdecken und zu erleben.

B. Ashra – Om Meditation (2009)

Und noch eine Stunde Musik, die auf „Om“ basiert, dieses Mal allein von B. Ashra. Dieser Track besteht wirklich nur aus Sound, aus Sphäre, aus Ambient, aus an- und abschwellenden Tönen. Hier unterbricht nichts die Meditation, hier dringt nichts Unerwartetes ins Bewusstsein, sobald man sich fallen lässt, es gibt keine Überraschungen, keine unangenehmen, und das ist das Angenehme daran. Der Hörende ist auf sich selbst zurückgeworfen, er ist frei in seiner Assoziation und in dem, was er in seinem Geist bewegen mag. Was gern auch gar nichts sein darf.

Erst nach der Hälfte gesellt sich temporär eine Art auf Stimmsamples gefaketes Didgeridoo in die Atmosphäre, aber auch das dringt nicht so abrupt oder fordernd in den Track ein, dass man davon aus der Ruhe gebracht wird. Gleichermaßen integriert Olke die folgenden leichten Veränderungen so behutsam wie möglich. Und doch gilt wie immer, dass man auch im halb- oder sogar komplett bewussten Zustand einen Mehrwert an diesem Album hat.

Cosmic Octave Orchestra – Gaiatron: Live At Ricochet Gathering Berlin (2011)

Beim Cosmic Octave Orchestra handelt es sich um ein temporäres Trio, das sich anlässlich des „Ricochet Gathering“-Festivals in Berlin-Schöneberg am 10. Oktober 2010 zusammenfand, also an 10-10-10. Beteiligt waren zwei Vertraute aus dem Klagwirkstoff-Kosmos, nämlich Olke und Schultze, dieses Mal kombiniert mit Steve Schroyder alias Wolfgang Schroeder, der einst bei Tangerine Dream seine kosmischen Reisen antrat. Jener brachte gleich noch die AlienVoices mit, die das Konzert mit Oberton- und Kehlkopfgesang bereicherten.

Live generierte Elektronik hat den Vorteil, mit direkt vor Ort generierten Loops arbeiten zu können, die der Hörende nicht zwingend als solche erkennt, die den Musikern aber eine Orientierungshilfe sind. So stapelt das Orchester aus drei Leuten eben auch seine Effekte auf eine wiederkehrende Spur aus wellenartigen Synthiesounds. Und lässt sich dabei alle Zeit der Welt. Nach und nach starten die Musiker ihre Samples, lassen sie umeinander kreisen, miteinander fliegen, aufeinander aufbauen. So entstehen beinahe Melodien, die sich aber so sehr in die Unendlichkeit erstrecken, wie das All, das thematisch diesem Set zugrundeliegt. Harmonien lassen sich in jedem Fall ausmachen, und nicht nur darin liegt die Kunst der drei Kosmonauten. Behutsam füllen Olke, Schultze und Schroyder den Raum, schichten Sound um Sound aufeinander, Sphären, Sternschnuppen und Spiralnebel, und lassen so das halbstündige „Gaiatron“ entstehen.

„Cassinidrive“ nennen sie das zweite Set, fast 40 Minuten lang. Das setzt zunächst am ersten an, ist aber mutiger in den Sounds, die die drei Tüftler einbringen: Glockenspiel, Chorsamples, Spinett, Shaker, Didgeridoo, was die Sampledatenbanken hergeben und das Ohr herauszuhören geneigt ist. Dieses Stück hat mehr Wucht und einen eindeutiger definierten Rhythmus, man kann dazu sogar ausgelassen tanzen, auch wenn die harten Dancefloor-Beats ausbleiben. Hier steckt so viel mehr Energie drin, als hätte sich das Trio im ersten Take erst aufeinander warmspielen müssen. Das Tempo ist überraschend hoch und die Sogkraft dieses Tracks immens.

Nach etwa der Hälfte gönnen die Musiker sich und den Hörenden eine Pause, schrauben den Effektpark herunter, begeben sich zurück in den leeren Kosmos, lassen ihre Synthies zwitschern und Flächen erzeugen, ganz entspannt und reduziert. Nur, um einmal Luft zu holen, zur Ausgangslage zurückzukehren und dann doch final in die Unendlichkeit auszuatmen. Mitreißend!

klangwirkstoff-records.bandcamp.com