Wolfskull – #2/#3 – Schneider Collaborations 2021

Von Matthias Bosenick (31.05.2021)

Wie man komplett frei von Songstrukturen eine solche Schönheit generiert: Yvonne Nußbaum und Jörg. A. Schneider demonstrieren zum zweiten und dritten Mal unter dem Projektnamen Wolfskull, wie das geht. Nußbaum spielt Piano und Synthesizer warm und harmonisch, während Schneider mit elektronischen Mitteln und seinem zurückhaltend klickernden Schlagzeug jede Ahnung von einem Rhythmus verwischt. Die beiden gleichzeitig erschienenen Alben „#2“ und „#3“ vermitteln den Soundtrack zu einer Kopfreise, die man nur zu gern antritt und die den Hörenden in ungeahnte Areale seines Bewusstseins entführt. Da wird einem warm ums Herz. Und man erweitert seinen persönlichen Begriff von „Noise“.

Mit vornehmlich, aber nicht ausschließlich tiefen Tönen erzeugt Nußbaum am Piano eine unerwartete Wärme; unerwartet zumindest, sofern man „Wolfskull“, das erste gemeinsame Album, noch nicht kennt, aber weiß, wie schräg die improvisierten Platten von Schneider ansonsten sind. Während der Schlagzeuger sich mit ausgeschaltetem Kopf per Zufall rasend schnell an seinem Instrument austobt, zurückhaltend gewaltfrei und jazzig klickernd, setzt die Pianistin dem im Tempo von Bohren und der Club Of Gore die komplette Entschleunigung entgegen.

Vergleichbare Effekte erzielt das Duo ebenfalls, sobald es die Instrumente wechselt: Mit einer ähnlichen Herangehensweise erzeugen Nußbaum am Synthie und Schneider mit elektronischen Effekten eine versponnene Elektromusik, chillig und hektisch gleichermaßen, fernab von Berliner Schule oder Ambient, Techno oder Synthiepop, weil auch hier keine herkömmlichen Strukturen erkennbar sind. Als Variante kombiniert das Duo auch mal Piano mit Synthie, ohne Schlagzeug, dann kommt es dem Begriff Ambient möglicherweise am nächsten. Richtig schön elektronisch schräg und klimpernd wie eine außer Kontrolle geratene Spieluhr beginnt „Was lange währt wird auch nicht gut“ auf der „#3“: humorvoll, aber so reduziert, dass das Stück trotzdem nicht als Witz durchgeht. Und mit dem Rauswerfer „Zur Wolfskaul“ wagen sich die beiden in spukige 50er-Jahre-SciFi-Filme vor.

Sobald sich Nußbaum doch mal zu so etwas wie einer wiedererkennbaren und sich wiederholenden rudimentären Melodie hinreißen lässt, verspottet sie dennoch jeden Ruf nach hoher Kunst oder moderner Klassik, denn dann hat ihr Spiel etwas Etudenhaftes, mit dem sie Schneiders Rumpeln und Rascheln in eine Form zwingt. Und wenn die beiden dann ihre Fachbereiche überkreuzen, sinkt man ehrfürchtig auf die Knie: Sobald etwa im zwölfminütigen „Harry Dean“ auf der „#2“ nach fünf Minuten Repetition eines kurzen Motivs der Synthie dazustößt, verlässt man die Nacht, den leichten Traum, erwacht mit der aufgehenden Sonne, erhebt sein Haupt aus der Dunkelheit, öffnet seine Augen für das Licht des Tages und lässt es zu, dass die Dinge nicht so sind, wie man sie kennt, aber dennoch unerwartet anmutig, herzerweichend schön.

Die Bezeichnung Wolfskull ist übrigens nicht als martialischer englischer Begriff aufzufassen – und auch nicht zu verwechseln mit der Heavy-Rock-Band aus Essen, was ja gerade 90 Kilometer von Hückelhoven entfernt liegt. Auf gut halber Strecke dazwischen befindet sich Wolfskull, ein Ortsteil von Viersen und der Name einer Raststätte an der A52, laut Schneider das plattdeutsche Wort für Wolfskuhle und die Herleitung für den Projektnamen des Duos. Das hier nicht zum ersten Mal gemeinsam musiziert: Die beiden kennen sich von Les Hommes Qui Wear Espandrillos und hatten zudem das Projekt Skim, das über den Demostatus nie hinauskam, und die Band Fischessen. An die gemeinsame LHQWE-Zeit erinnert der Titel „2021 Bowery“ auf der „#3“, angelehnt an deren Albumtitel „220 Bowery“ – aber auch nur der Titel, die Musik mitnichten. Kein Noisecore, auch wenn Nußbaum und Schneider ihr Projekt Wolfskull sehr wohl unter Noise einsortieren. Da muss man seinen Begriff davon doch erheblich ausdehnen.

Album Nummer „#2“ gibt es übrigens auch auf Vinyl, beide neben Download auch als CD. Ein herrliches Doppel, zusammen rund 80 Minuten lang und doch viel zu kurz: Man wünscht sich sofort, dass die beiden weitermachen.