Von Onkel Rosebud
Seitdem ich die außergewöhnliche Serie vor circa fünf Jahren zum ersten Mal gesehen habe, wollte ich unbedingt, dass auch meine Freundin die Serie schaut. Damals begriff ich schnell, dass ich gern über „Rectify“ mit ihr reden möchte. Mit fortschreitendem Alter wird man immer mehr berührt von Menschen mit traurigen Schicksalen, die es offenkundig schlimmer getroffenen hat als man selbst. Das gilt physisch wie psychisch. „Rectify“ habe ich neulich noch einmal gesehen – ohne sie, weil ihr das Thema der Serie zu traurig ist. Aber mich hat es erneut emotional mitgerissen, so wie es kaum andere Familiengeschichten aus Film, Fernsehen, Literatur oder Musik je geschafft haben.
Worum geht’s: Daniel Holden wurde als Teenager für die Vergewaltigung und Ermordung seiner 16jährigen Freundin Hanna inhaftiert. Nach neunzehn Jahren in der Todeszelle widerspricht die Analyse von DNA-Beweisen aus seinem Prozess dem Fall der Staatsanwaltschaft. Ein Berufungsgericht hebt das Urteil seines ursprünglichen Prozesses auf. Daniel, hochintelligent, aber psychisch schwer geschädigt, darf in seine Heimatstadt Paulie, ein Kaff auf dem Land im Bundesstaat Georgia, zurückkehren. Schließlich geht es darum, was mit einem Mann geschieht, der von der Welt, die er kannte, entfernt war und plötzlich wieder in diese Welt eintauchen muss, aber wegen der schwarzen Wolke, die über seiner Identität hängt, von der vollen Teilnahme ausgeschlossen wird, und was seine Notlage seiner Familie und Gemeinschaft antut.
Diese Ereignisse werden als Charakterdrama in einer sich langsam entfaltenden Handlung im ländlichen Gefilde als „Southern Gothic“-Geschichte entwickelt. „Southern Gothic“? Mark Twain und Edgar Allen Poe sowie William Faulkner stehen für die Thematisierung der gesellschaftlichen Probleme der Südstaaten mithilfe von schwarzer Romantik, literarischem Naturalismus und typischem Südstaaten-Humor. Rassismus ist dabei Top 1 auf der Prioritätenliste. Johnny Cash gehört mit seinen Spätwerken genauso dazu wie Filmklassiker à la „True Blood“.
Daniel reißt also direkt seelische Wunden in die Leben aller Mitglieder seiner oberflächlich-glücklichen Großfamilie durch seine naiv-offene Direktheit und durch das unverblümte Zeigen seiner Gefühle. Das Drehbuch schafft das ganz authentisch, rational tiefgründig ohne in Banalitäten und Klischees abzugleiten. Dabei entfaltet sich durchaus zum Teil sehr viel Empathie für die Charaktere. So einen richtigen Antagonisten gibt es nicht. Zum Beispiel seine unglückliche Mutter, Janet Talbot (J. Smith-Camaron), wiederverheiratet nach dem Tod seines Vaters, hat plötzlich ihre Kanne voller Liebe auf vier statt drei erwachsene Kinder zu verteilen, die ihrer eigenen Verwirklichung damit im Weg stehen. Amantha, seine kleine Schwester, die sich sicher ist, dass er unschuldig ist, wird ihr bisheriges Leben in ganz neuer Weise auf den Kopf stellen. Und dann mein Lieblingshandlungsstrang: Wie sich der anfangs kaum ertragbare Stiefbruder Ted Jr. (Clayne Crawford), genannt Teddy, von seiner tief religiösen Ehefrau Tawney (Adelaide Clemens) auseinanderlebt, hat so bittersüße, traurige Momente, dass mir die Entwicklung des Charakters sehr nahe ging und ich diese als absolut glaubhaft wahrgenommen habe.
Der eigentliche Kniff der Serie ist, dass die Aufklärung des Mordes an Hanna zwar das Rückgrat, aber eigentlich nur auch eine Nebenhandlung der Serie ist, weil die einzelnen Charaktere bis in ihre Untiefen und noch viel weiter auf sehr humane Art ausgeleuchtet werden. Man mag der Serie vorwerfen, dass nicht viel passiert. Dabei passiert so viel zwischen den zahlreichen Face-Off-Dialogen der Protagonisten. Am Ende lauert noch ein nahezu perfekter Abschluss: Hoffnung auf einfaches Glück – ohne astreines Happy End. Das alles ist garniert mit einer exquisiten musikalischen Untermalung von Gabriel Mann sowie einer herausragenden Kinematografie des Showrunners Ray McKinnon („Sons Of Anarchy“).
Und dass – neben allerlei anderer fantastischer Besetzung – Aden Young als Daniel Holden und Abigail Spencer als Amantha Holden in der Hauptrolle zu sehen sind, setzt dem ganzen noch das i-Tüpfelchen auf.
„Rectify“ aus dem Englischen steht auf Deutsch für „etwas Korrigieren, Richtigstellen, Wiedergutmachen“. Meine Freundin findet, ich bin nicht gut im Wiedergutmachen. Korrigieren geht ganz gut. Aber noch besser kann ich Richtigstellen – vor allem, wenn es dabei um meine Sicht auf die Dinge geht.
Die eine oder andere Träne dabei verdrückt hat
Onkel Rosebud
„Rectify“ (2013-2016) 4 Staffeln – auf Deutsch in jeder gut sortierten DVD-Sammlung