Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Talent borrows, genius steals: Marcy Playground

Von Onkel Rosebud

St. Louis Park liegt in Hennepin County im Bundesstaat Minnesota, also im Mittleren Westen, dem Teil der USA, der im 19. Jahrhundert das Bedürfnis hatte, sich von der Ostküste und von Richtung Europa abzugrenzen. Die Stadt hat ca. 50.000 Einwohner, die Coen-Brüder stammen von da und auch John Wozniak (geboren 1971). Die größte Sehenswürdigkeit des Städtchens ist der Peavey-Haglin Experimental Concrete Grain Elevator, ein Ende des 19. Jahrhunderts erbautes, zwanzig Meter hohes Getreidesilo. Würde St. Louis nicht an Minneapolis mit fast 500.000 Einwohner grenzen, dann gilt für jeden dort geborenen Freigeist: Get the hell out of there. So geschehen mit den Coen-Brüdern (Los Angeles) und John Wozniak zog Mitte der Neunziger nach New York, um mit der Formation Marcy Playground, benannt nach dem Spielplatz seiner Grundschule „Marcy Open“, mit melodieseligem, leicht schrägem Gitarrenpop den amerikanischen College-Rock aufzumischen. So Pavement für Arme. Ergebnis: Im Jahr 2012 wurde sein Gassenhauer „Sex And Candy“ aus dem Jahr 1997 von der Musikjournaille Rolling Stone zum viertbesten One-Hit-Wonder der 1990er Jahre gekürt.

Als meine damalige Freundin 1998/99 zum Studium nach New York zog, fand sie Aufnahme in einer WG in Brooklyn Heights mit zwei Typen, die sie mir am Telefon so beschrieb: „Den einen, Graham, habe ich noch nie gesehen. Er steht jeden Tag erst 16 Uhr auf und wenn ich von der Uni komme, ist er schon wieder im Club. Aber, wenn Du mich besuchst, wirst Du ihn mögen, denn sein Zimmer ist ein einziges Plattenregal. Der andere, John, kommt vom Dorf, macht irgendwie Musik und nimmt sich ziemlich wichtig damit. Ich kann ihn nicht leiden, weil er nach dem Rasieren nie die Haare aus dem Waschbecken wegspült.“ Voller Erwartung flog ich zu ihr nach Big Apple.

Da ihr Zimmer in der Wohnung nur 6 m2 hatte (mit einem Fenster zum Lüftungsschacht 20 x 30 cm groß und das für lächerliche 400 Dollar pro Monat), saß ich öfter in der Küche und voilà – der/die geneigte Leser*in hat es schon geahnt: Der John vom Dorf war tatsächlich John Wozniak und komponierte gerade die Songs zum zweiten Marcy-Playground-Album „Shapeshifter“ (Epic/Sony). Das erste, mit „Sex And Candy“ als Single drauf, was auch ich damals regelmäßig in mein DJ-Set (selbstverständlich nach meinem Pavement-Klassiker „Grave Architecture“) eingebaut habe, wurde 1997 veröffentlicht, und trug als Titel den Namen der Band. Es verschaffte der Combo auch international einen nicht unbeachtlichen Erfolg und Bekanntheitsgrad, welcher aber außerhalb der USA nach einer sehr kurzen Europatournee schnell wieder verflog. 1999 erschien dann „Shapeshifter“, das floppte, wie auch das 2004 als „MP3“ betitelte Werk, und nach dem vierten Wurf „Leaving Wonderland … In A Fit Of Rage“ (2009) wurde es dann ganz still um Marcy Playground.

John in der Küche in Brooklyn teilte mit mir sehr lebhafte Erinnerungen an seine Schulzeit, die direkt in seine Songs eingeflossen sind. Ein schüchterner Junge, der die Welt als groß, laut und verwirrend erlebt hat und lieber nicht auf den Pausenhof gegangen ist, weil er da von den großen Jungs gehänselt oder verkloppt wurde. Er schimpfte über die Bands und deren Songs, die vor und nach seinen eigenen im Radio gespielt wurden, und bezeichnete die Musikrichtung „Alternative“ als neuen Mainstream.

Wenn sich dann Graham, der, wie sich herausstellte, Musikkritiker und auf Jazz spezialisiert war, gegen 4 Uhr nachmittags mit an den Küchentisch gesellte, diskutierten wir ausgiebig über Musik, und Graham prophezeite John, dass sich in 20 Jahren keiner mehr an ihn erinnern würde. Ich hoffe, mit diesem Text dazu beigetragen zu haben, dass dem nicht so ist.

John Wozniaks gibt es heute überall auf der Welt. Ende der Neunziger saß das Geld bei der Musikindustrie locker, so dass Typen wie ihm mehr Aufmerksamkeit zuteil kam, als er liefern konnte, aber heh Kids, was heute immer noch gilt: Macht einfach was und dann das Beste draus: „Talent borrows, genius steals“. Dieser Spruch wird Oscar Wilde zugeschrieben, obwohl der auf T. S. Eliot zurückgeht. Die Konjugation der Konjunktion steht in seinem Essay „Philip Massinger“ von 1920. „Unreife Dichter imitieren reife Dichter und stehlen. Schlechte Dichter verunstalten und gute Dichter machen etwas Besseres oder zumindest etwas anderes daraus.“ Viel treffender kann man knapp 100 Jahre Popkultur nicht zusammenfassen.

T.S. Rosebud

P.S. B: Hildegard Knef.