Underworld – Drift Series 1 – Caroline International 2019

Von Matthias Bosenick (14.01.2020)

Kann man mal machen: mal eben sieben Stunden neue Musik am Stück veröffentlichen. Wobei, so richtig korrekt ist das nicht, sammeln Underworld doch auf „Drift Series 1“ diverse EPs, die sie das ganze Jahr über schon digital unter die Leute warfen. Und wie das so ist bei einem solchen Output, klingen nicht alle Tracks wie voll ausformuliert: Da hätten sie die Menge der Ideen auf weniger Stücke verteilen sollen. Für den schmalen Geldbeutel gibt es ein Konzentrat als Ein-CD-„Sampler Edition“, die man in Kenntnis sämtlicher Tracks für sich vermutlich latent anders zusammengestellt hätte. Es bleibt ein rekordverdächtiges Mammutwerk (nur verdächtig, Autechre etwa veröffentlichten mit den „NTS Sessions“ etwas mehr auf einen Schlag) mit neunzigerbezogenen Technotracks und diversen, auch jazzigen Spielereien abseits des Weges.

Treibender Techno, behutsam getupfte Bassdrums, Jazz, Billo-Bummbumm, Saxophon, House, Experimentalelektro, Ambient: Die fünf „Drift EPs“ und die Kollaborations-CD mit dem australischen Jazzprojekt The Necks bündeln eine Bandbreite im Underworld-Sound, wie sie das Duo in der Opulenz zuvor nie wagte. Ja, Carl Hyde und Rick Smith können viel bis alles – nur bleiben dabei bisweilen die durchgehend packenden Stücke auf der Strecke. Sie hätten sich besser auf weniger Tracks bei gleichbleibender Ideenmenge konzentrieren sollen, dann wären mehr spannende Ergebnisse dabei herausgekommen. Aber wer weiß, was geschieht, wenn man die EPs nach Art der Flaming Lips allesamt gleichzeitig abspielt, ob dabei nicht genau die vielschichtigen Stücke herauskommen, die man von Underworld ansonsten so kennt.

Diese dicke Box bietet nun dennoch haufenweise interessantes Zeug. Wie seit dem Stilwechsel von der Rockpopband zum Technoprojekt Anfang der Neunziger gewohnt, trippen die verbliebenen Underworld-Mitglieder Hyde und Smith gern auf epischen Plucker-und-Bass-Tracks dahin, zu denen die vertraute Stimme säuselt, schwadroniert, sprechsingt. Sobald sie das Tempo anziehen, wummern auch wieder die Brutal-House-Tracks, und sobald sie das Tempo drosseln, wird es angenehm chillig. Alles drin in „Drift“ also. Nur eben nicht so fein ausformuliert, eher wie eine Skizzensammlung anmutend, denn sind die verschiedenen Aus- und Stilrichtungen nicht etwa nach EPs sortiert, sondern auch innerhalb der Veröffentlichungen scheinbar willkürlich aneinandergereiht.

Hilfe bekamen Underworld hier von neuen und vertrauten Verbündeten: Hyde brachte einmal mehr seine Familie mit ein, für Saxophon, Flöte und Cello verpflichtete das Duo Musiker der beiden englischen Postrock-Projekte Nervous Conditions und Black Country, New Road. Der Techno-DJ Ø [Phase] wirkt an ausgewählten Tracks mit und mit dem seit über 30 Jahren aktiven Freejazz-Trio The Necks spielten Underworld ein chilliges, spannendes, experimentelles komplettes Album ein, das auf drei überlangen Tracks Ideen aus der „Drift“-Serie umdeutet. Kein Wunder, dass die Phrase „Silent Way“ bisweilen in der Tracklist erscheint: Underworld entdecken Miles Davis.

Nun sammelt die Box zwar die zwischen Ende 2018 und Ende 2019 veröffentlichten Online-EPs des „Drift“-Projektes – aber trotz identischer EP-Titel in anderen Versionen und Zusammenstellungen, wie frech, und dazu noch einige neue Tracks, die es zuvor auf den EPs nicht gab, von denen allerdings auch keiner auf dem Sampler zu finden ist. Zudem sind wiederum nicht alle Tracks aus dieser Download-Zeit, die sich an das „Riverrun“-Projekt von Underworld aus dem Jahre 2005 anlehnt, auch wirklich enthalten; der „Manchester Street Poem Installation Score“ etwa fehlt bis auf den Song „Doris“ komplett, dazu rund 20 einzelne Tracks, die Underworld immer mal wieder frei herausgaben. Teil des „Drift“-Projektes sind außerdem visualisierte Versionen der Tracks, erstellt natürlich wieder von Tomato, dem Design-Kollektiv, dem auch Underworld angehören; eine BluRay mit den Videos stellt die achte Disk in dieser Box dar.

Die Verteilung der Disks in der Box mit den zwei Buchbeilagen:
CD 1: EP1 Dust
CD 2: EP2 Atom
CD 3: EP3 Heart
CD 4: EP4 Space
CD 5: EP5 Game
CD 6: Underworld And The Necks
CD 7: Sampler Edition (auch separat erhältlich und als Teil der Box redundant)
BluRay: Series 1 Films

Auf der „Sampler Edition“ finden sich definitiv einige der catchyesten Stücke dieser Serie, doch lässt die einstündige Zusammenstellungen auch Lücken. Die Tracksliste und die Quellen:

01 Appleshine (von EP2 Atom)
02 This Must Be Drum Street (von EP3 Heart)
03 Listen To Their No (von EP4 Space)
04 Border Country (von EP4 Space, mit Ø [Phase])
05 Mile Bush Pride (von EP5 Game)
06 Schiphol Test (von EP4 Space)
07 Brilliant Yes That Would Be (von EP1 Dust)
08 S T A R (Rebel Tech) (Originalversion auf EP5 Game)
09 Imagine A Box (von EP5 Game)
10 Custard Speedtalk (von EP3 Heart)