Von Matthias Bosenick (28.04.2023)
Der beste Witz ist natürlich, dass die Stadionrockband U2 ihr 40 Songs starkes Neueinspielungs-Vierfachalbum mit „One“ beginnen und mit „‚40‘“ enden lässt. Der zweitgrößte Witz ist, dass die Iren ihren Backkatalog überhaupt fleddern müssen, nach zwei reichlich miesen, ohnehin schon retrofixierten Alben, da steht Fürchterliches zu befürchten – doch das Durchhören der vier je 40 Minuten langen CDs dreht die Erwartungen um: „Songs Of Surrender“ ist, sagen wir mal vorsichtig – gut. Die alten Songs bekommen neue attraktive Facetten, die jüngeren Songs sind plötzlich hörbar, alles richtig gemacht. Diese neuen Facetten sind übrigens chillig, downbeatig, reduziert, entelektrifiziert, nicht auf die Kacke – so war es nicht zu erwarten, so lässt es sich aber – trotz Bonos sich nicht selten wieder übertrieben quäkig in die Gehörgänge windender Stimme – gut hören, musikalisch ist es nämlich, und dies ist offenbar hauptsächlich Multiinstrumentalist The Edge anzurechnen, einwandfrei. Der drittgrößte Witz wiederum ist, dass sie das grandiose und letzte überhaupt gute Album „No Line On The Horizon“ komplett außen vor lassen – das kann man ihnen mit Fug und Recht zur Last legen und es sagt dann doch wieder einiges über der Iren Verständnis von guten Songs aus. „October“ fehlt rätselhafterweise außerdem. Der viertgrößte: Weder „Surrender“ noch „Moment Of Surrender“ gehören zu den „Songs Of Surrender“.
Ja, logo, dieses Verständnis für gute Musik haben sie, und die 40 „Songs Of Surrender“ spiegeln sehr gut wieder, dass die vier in über 40 Jahren mal so richtig geile Lieder komponierten. Die Variabilität des eigenen Oeuvres demonstrierten U2 ja live schon immer, indem sie ihren Liedern Polituren verpassten, die dem Fan, der alle Studioalben hat, einen erheblichen Mehrwert, ein Erlebnis, eine Überraschung bietet und ihm Begeisterung entlockt. Im Grunde verhält es sich mit „Songs Of Surrender“ nicht anders, nur im Studio. Was nicht bedeutet, dass U2 ihre Studiosongs live nicht rekonstruiert bekommen, weil sie einfach zu schlecht sind, nee nee, das kriegen sie selbstredend auch hin, und U2 sind live verdammt gut.
Natürlich hat man als U2-Fan seine Lieblingslieder über die Jahrzehnte in seiner DNA abgelegt und kennt sie detailliert auswendig, da befürchtet man, dass einem jede Abweichung hier auf „Songs Of Surrender“ erstmal als Schock, als Stich ins Herz, als Lücke, als Versäumnis erscheinen könnte. Doch gelingt es dem Quartett, genau diesen Effekt nicht zu erzielen, im Gegenteil, man freut sich über das, was in den Liedern auch noch steckt, und dass U2 diese Edelsteine selbst kennen und freizulegen in der Lage sind.
Auf den beiden jüngsten Alben „Songs Of Innocence“ und „Songs Of Experience“ übertrieben es die Iren damit, sich einerseits dem Zeitgeist anzupassen, indem sie die Melodien an das radiotaugliche Zeilenmelodiewiederholungsformat anpassten, das Lieder schon nach wenigen Sekunden nervig erscheinen sowie den Eindruck entstehen lässt, sie seien für Dummys verfasst worden, deren Aufmerksamkeitsspanne keine 20 Sekunden überschreitet, und das andererseits die erfolgreich in den Jahrzehnten davor verwendeten musikalischen Ideen wie Bausteine aneinanderklemmte, damit man als Altfan ein Instant-Zuhausegefühl bekommt, ohne sich groß mit der Musik auseinandersetzen zu müssen und ohne mit irgendwelchen innovativen Ideen überfordert zu werden. Brechreiz Hilfsausdruck. Diese neuen Versionen bügeln diese Falten nun aus, und auch, wenn sie sie nicht verschwinden lassen, sind diese Songs plötzlich hörbar, weil beispielsweise mal nur von Piano hinterlegt oder sonstwie angenehm heruntergedimmt. Für „All That You Can’t Leave Behind“, das erste von leider drei grottenschlechten U2-Alben, gilt dies auch, bis auf „Walk On“, dessen Titel hier noch den Nachsatz „(Ukraine)“ bekommt, und „Stuck In A Moment You Can’t Get Out Of“, die kann man nicht erträglich machen, und bis auf „Beautiful Day“, das war schon vorher geil und ist es jetzt immer noch.
Und geil ist auf diesem Paket so einiges. Selbst die Überhits bekommen neuen Glanz, in „I Still Haven’t Found What I’m Looking For“ croont sich Bono angenehm ins Gemüt, „Pride (In The Name Of Love)“ bekommt eine völlig neue instrumentale Mitte, „The Fly“ wandelt sich zum harmonischen Akustik-Folk-Song, und selbst die richtig alten Klassiker aus der ersten Hälfte der Achtziger kriegen U2 nicht nur nicht kaputt, sondern entkernen sie und legen die Perlen offen, die sie sowieso sind. Nicht zuletzt die Hits aus den in Fankreisen eher ungeliebten Neunzigern zeigen nun auch den letzten Zweiflern, wie großartig auch „Zooropa“ und „Pop“ sind. „Achtung Baby“, der anfängliche Dance-Skandal aus dem Jahr 1991, ist ja eh längst rehabilitiert. Ja, U2 sind gute Komponisten und gute Musiker.
Nicht nur The Edge, auch Bassist Adam Clayton und Schlagzeuger Larry Mullen Jr. sind dies, natürlich. The Edge übernimmt hier offenbar dennoch den Löwenteil, nicht zuletzt, seit Bono nach einer Verletzung seit einigen Jahren selbst nicht mehr Gitarre spielen kann, bedauerlicherweise. Außerdem beschäftigt das Unternehmen U2 hier eine Heerschar an Gästen, nicht nur für Backingvocals, auch für Cello, Synthie, Blasinstrumente, Percussion und zusätzliche Saiteninstrumente. Dabei schmücken sich U2 nicht mit verkaufsträchtigen Gästen wie Johannes Oerding oder so einem Quatsch, sie laden allenfalls Brian Eno und Daniel Lanois ins Studio, um bei „I Still Haven’t Found What I’m Looking For“ im Hintergrund zu singen. Das ist, wie George Clooney zu verpflichten, um bei South Park lediglich einen Hund zu synchronisieren. Geil. Bob Ezrin, der auf zahllosen grandiosen Platten berühmter und guter Leute Einsätze hatte, bekommt hier diverse Möglichkeiten, sich einzubringen. Komponist John Metcalfe von den Postpunks The Durutti Column darf hier diverse Cello- und Blasarrangements beitragen. Trombone Shorty wiederum ist ein angenehm exotischer Gast. Und zuletzt ist Andy Barlow von den Trip-Hoppern Lamb einmal am Keyboard dabei. Berühmter und verkaufsträchtiger wird’s nicht, und das ist ein Segen.
Nun fehlen also „October“ und „No Line On The Horizon“ sowie das Passengers-Album „Original Soundtracks 1“, dafür sind mit „11 O’Clock Tick Tock“, „Ordinary Love“, „Invisible“ und „Electrical Storm“ auch Songs dabei, die es ausschließlich als Singles gab. Ja, „A Celebration“ ist nicht darunter. Dafür ist der Reigen bunt gewürfelt und angenehm arrangiert, das Hymnische mal unterdrückt und mal herausgearbeitet, der Rock’n’Roll eher zurückgenommen, das Tempo variiert, die Stimmung verändert, einfach mal frisch durchgefegt und durchgerüttelt, dass es eine entspannende Freude ist. Und es ist eine Freude.
Kann man bemängeln, dass 40 Songs einfach mal viel zu viel sind? Aber: Wer sollte das denn tun? Eher ist es fragwürdig, warum es von dieser Zusammenstellung auch Versionen mit nur 16 oder 20 Songs gibt. Wer kauft denn sowas, wenn 40 Songs nicht so viel mehr kosten? Was bleibt: „Songs Of Surrender“ versöhnen mit den zunächst 35 Jahre lang überwiegend grandiosen U2, nachdem diese sich mit danach zwei Alben unhörbar machten. Bleibt außerdem zu hoffen, dass das angekündigte nächste Album wieder besser wird.