Von Matthias Bosenick (19.10.2021)
Werdohl! Da kann man als freakige Prog-Kraut-Rockband mit Orgel schon mal herkommen, so in den Siebzigern. Und sich dann Tibet nennen, weil das Sauerland ungefähr so hohe Berge hat wie der Himalaya. Nicht zum ersten Mal bringt das Label Sireena das selbstbetitelte Album erneut heraus, dieses Mal indes auf CD und mit Bonus. Musikalisch ist dies eine angenehm unspinnerte Reise mit vielen spannenden Umwegen, da erhebt sich die Band in der Tat über das Dach der Welt, und einem etwas anstrengenden Gesang. Die Orgel ist geil!
Die sieben Rocksongs der Original-LP sind grundsätzlich angenehm geradlinig komponiert, ohne absurde Brüche, die man nicht nachvollziehen kann, aber mit dennoch abwechslungsreicher Struktur, hier mal eine stille Ambientpassage, da mal ein heavy Riff, und immer wieder mit dieser überraschend warmen Orgel versetzt. Alles schon recht im Sound der Zeit gehalten, mit Seitenblicken quer durch die Szene, in den Krautrock natürlich, wie sie halt alle heißen, aber auch in internationale Richtungen, Supertramp, Deep Purple, und mit Vergleichsmöglichkeiten nach Osten, Electra etwa.
Das Tibetanische hingegen kommt weniger stark zum Ausdruck, als es der Bandname vermuten lässt. Nicht schlimm. „Tibet“ ist ein solides Album, das bestens in die Zeit passt und sich positiv in das Krautrockgemenge einfügt. Für diese erst zweite CD-Veröffentlichung überhaupt grub das Label Sireena zwei Bonustracks aus, die kurioserweise in späteren Sessions mit anderer Besetzung entstanden, nicht jedoch die beiden Songs der 7“ „Only Man’s Love“ aus dem Jahr 1976, der ersten Veröffentlichung der seit Anfang der Siebziger aktiven Band also. Die findet man dafür auf der Compilation „Psychedelic Gems 5“.
Laut Info zerbrach die Band, nachdem es in Folge der LP-Veröffentlichung ans Touren ging, weil einige Musiker lieber an ihren gern so genannten bürgerlichen Berufen hingen, als sich der Gefahr auszusetzen, voll auf Rock’n’Roll zu setzen und womöglich kolossal zu scheitern. So ganz die Finger davon lassen konnten sie nicht dauerhaft, ein Großteil der Band machte in den Achtzigern als Cinema weiter; Jürgen Krutzsch, den man in Werdohl „Pöngse“ nennt, reaktivierte das Projekt jüngst im Alleingang nicht zufällig ebenfalls auf Sireena.
Mit Musik sind einige der Bandmitglieder noch heute befasst, verrät die Webseite der Band: Deff Ballin stieg temporär bei Geier Sturzflug ein, für das Hit-Album „Heiße Zeiten…“, heute begleitet er von Frankfurt aus seine Frau Julia alias Louise von Spohr unter dem Projektnamen Concertationduo. Fred „Teppich“ Teske bastelt zu Hause im Studio herum, Dieter „Kumpa“ Kumpakischkis alias „Zechgeige“ war bei Tobago und der General Lee Band und „konzentriert“ sich heute „voll auf seinen Beruf“, Richard Hagel steuert aus Iserlohn die Peewee Bluesgang.
Bei anderen hat Musikmachen den Stellenwert eher eingebüßt: Karl-Heinz „Ami“ Hamann alias „Zinken“, ausgebildeter Schweißer, ist irgendein Betriebsleiter irgendwo an der Nordsee, Wolfgang „Traudel“ Wilka ist Freier Architekt in Mannheim und designte unter anderem das Affengehege in Hagenbecks Tierpark in Hamburg, Peter „Knüppel“ Halbsgut war Chefbeleuchter an der Oper in Frankfurt und ist heute preisgekrönter Lichtdesigner, Klaus „Schatz“ Werthmann ist Chirurg und Chefarzt in Landau, Jürgen Wigginghaus gründete wahrhaftig den Metal Hammer, veranstaltete Konzerte und gibt heute in Lüdenscheid das Magazin Nachtflug heraus.
Außerdem kündigt „Pöngse“ auf der Webseite an, dass es nach dieser CD-Veröffentlichung mit Tibet weitergehen soll – aber aus den Archiven: Er hat noch etliches unveröffentlichtes Bandmaterial im Keller und will es für die Nachwelt aufbereiten. Oder mit Rest der Band neu einspielen, so richtig deutlich geht das aus dem Eintrag nicht hervor. Könnte spannend werden!