Von Matthias
Bosenick (30.08.2019)
Wenn der Soundtrack deutlich länger
ist als der Film dazu, hat Thom Yorke etwas geschafft, was ihm mit
„Suspiria“, der Veröffentlichung davor nicht gelang, obwohl es
sich dabei sogar um ein Doppel-Album handelte. Das liegt aber auch
daran, dass „Anima“ nur eine Viertelstunde lang ist, und es ist
auch gut so, dass das auf das Album nicht zutrifft: Yorke extrahiert
den Electro-Anteil aus seiner Rockband Radiohead und erzeugt daraus,
ergänzt durch ein Orchester, eine intelligente, warme, künstliche
und künstlerische Musik. Der Netflix-Film dazu von Paul Thomas
Anderson ist auch ganz reizvoll.
Tanz als Ausdrucksform erschließt sich nicht jedem Betrachter
sofort, und so hat man auch seine liebe Not damit, die Geschichte in
„Anima“ nachzuvollziehen. Yorke guckt wie Karl Dall und befindet
sich in einer dystopischen Welt, in der alle Menschen
gleichgeschaltet sind. Er begegnet in der U-Bahn einer Frau und
nimmt, offenbar gegen die von wem auch immer aufgestellten Regeln,
Blickkontakt zu ihr auf. Weil er diesen nach Verlassen der Station
wieder verliert, versucht er, der Frau zu folgen, und durchmisst
dabei diverse tanzende Menschengruppen und im Wortsinne schräge
Kulissen, bis die beiden sich wiederfinden und ganz überraschend
durch Prag tänzeln. Das emotionale Ende erinnert etwas
uneigenständig an diverse Klassiker und überrascht nicht so sehr,
wie der Umstand, dass die grandiose Musik hier eine besondere
Visualisierung erfährt und man sich trotzdem nicht zwingend wünscht,
Yorke würde zum Schauspieler umschulen.
Dafür ist er als
Musiker einfach zu besonders. Eine Kompromisslosigkeit wie die seine
ist selten im Biz, und das, was er so kompromisslos auf die
Bildungsbürger und Indierocker loslässt, ist nicht nur
effektgeladene Schaumschlägerei, sondern von tatsächlich hoher
Qualität. Der Rock’n’Roller ist bestens bewandert in den
elektronischen Spielarten dieser Welt und weiß auch die
entsprechenden Gerätschaften zu nutzen. Ein Tanzfilm bringt
natürlich gewisse Vorgaben mit sich, und fehlende Tanzbarkeit kann
man „Anima“ nun wirklich nicht unterstellen. Ein Yorke nun
vergisst aber nicht, beim Tanzen auch den Kopf zu bedienen, und
verschachtelt seine Rhythmen, zerhackt seinen Gesang, verknotet seine
Melodien.
Und als wäre das nicht schon abenteuerlich
genug, verleiht er seinen abstrakten Tracks auch noch musikalische
Wärme, nicht nur vermittels seiner Falsettstimme, die mitnichten
weinerlich ist, wie Coldplay-Fans gern behaupten. Denn weil
Elektronik allein ja nicht glücklich macht, verpflichtet der
Komponist ein Orchester dazu, seine Ideen umzusetzen. Hier
verschmelzen Elektronik und Orchester auf eine Weise, die die Grenzen
komplett verwischt. Beides besteht gleichwertig, nicht nebeneinander.
Massentauglichkeit ist nun nicht Yorkes Ziel, und doch erreicht er
mit seinen Projekten überraschend viele offene Ohren. Und bedient
auch auf seine Weise gefällige Strukturen; der vorletzte Track etwa
basiert auf einem Reggae-Rhythmus und groovt wie Sau. Nicht als
einziger Song auf diesem Album.
Als Kooperationspartner
sind auf „Anima“ einige übliche Verdächtige an Bord:
Schlagzeuger Joey Waronker spielte bereits bei Atoms For Peace mit
Yorke. Phil Selway ist Yorkes Bandbuddy bei Radiohead. Und Nigel
Godrich war nicht nur ebenfalls Mitglied von Atoms For Peace, sondern
ist Yorkes Hausproduzent. Eine erweiterte Familie, die hier
zusammentritt.
Wer schnell war, das ist bei Yorke-Produkten so üblich, hatte Glück, das Album über die Webseite als fettes Buch zu bekommen, mit einer Doppel-LP in orangefarbenem Vinyl und mit Downloadcode. Der übliche Mehrwert also, den man nicht streamen oder herunterladen kann. Den Film dazu indes muss man streamen: Paul Thomas Andersons Arbeit ist nur auf Netflix zu sehen. Mit dabei ist übrigens Yorkes Lebensgefährtin Dajana Roncione.