Tara Nome Doyle – Værmin – Modern Recordings/Warner 2022

Von Guido Dörheide (19.02.2022)

Warum zum Teufel sollte man für die Blutegel beten?

Zum Beispiel aufgrund Tara Nome Doyles eindringlich vorgetragener Aufforderung „pray for the leeches“ gleich im ersten Song ihres neuen Albums. Dieser mag ich mich wirklich nicht widersetzen, zumal ich diese Zeile seit einigen Tagen immer andauernd permanent vor mich hinsingen muss und damit bestimmt schon das Misstrauen einiger Nachbarn auf mich gezogen habe. Es geht aber auch nicht, sich der Magie des Stückes „Leeches I“ zu entziehen:

Es beginnt sehr ruhig ohne viel Begleitmusik, nur eine einsame Orgel tönt, so dass das erste, dass die Zuhörenden auf „Værmin“ in den Bann schlägt, die Stimme ist. Ich weigere mich jetzt aber, zu schreiben, „klingt nach Kate Bush“, nur weil eine Frau eine wunderbare Stimme hat und sie bemerkenswert einsetzt. Man kann ja auch nicht immer sagen „schmeckt nach Huhn“, wenn man irgendeine Fleischsorte (außer Lamm, das schmeckt nun so gar nicht nach Huhn) zum ersten Mal isst.

Das Lied ist superdüster („take my body to the shooting ground, cause I‘ll bleed if you want me to“, wann wurde Gänsehaut auf brutalere Weise erzeugt?), bewegt sich dann langsam in einen irgendwie triphoppigen elektrischen Beat hinein und obwohl die Musik ruhig bleibt, fühlt man sich irgendwann emporgehoben und herumgewirbelt. Und fängt an, durch die dunklen und stürmischen Straßen dieser Stadt zu laufen und immer wieder zu wiederholen „pray for the leeches, pray for the leeches“. Und was das Beste daran ist? Nur neun Songs später kommt „Leeches II“, eine Klavierversion des Stücks, und man kann nochmal für die Blutegel beten. Ein Geniestreich von Frau Doyle: Version I hat deutlich mehr Schmackes und Version II nimmt die/den Hörenden dennoch ebenso bis noch mehr gefangen, weil ja Version I schon gesagt hat: „Hinhören, hier kommt jetzt was unglaublich Hörenswertes.“

Wenn außer „Leeches I“ und „Leeches II“ nur nichtssagender Kram auf diesem Album wäre, es wäre dennoch wegen dieser beiden Stücke und wegen dieser Stimme schon einer meiner Anwärter auf den heißesten Scheiß aus 2022. Aber es geht weiter und weiter, jedes Lied trägt im Titel ein anderes Ungeziefer („Vermin“, Song Nr 11, ein Wortspiel mit Vær min („Sei mein“), Song Nr. 13 sowie der Albumtitel), mit Ausnahme von „Crow“ und „Spider“. „Caterpillar“ ist ein ganz ruhiges Stück, das Doyles Stimme viel Raum gibt (und Textzeilen beinhaltet wie „you don‘t need friends, you just need me, kill your darlings cause they don‘t understand you like I do“, und vorher kommt noch „you don‘t need space, you don‘t need time“, ehrlich jetzt, wenn sie nicht so wunderschön singen würde, hätte ich eine Scheißangst vor Tara Nome Doyle und würde jetzt um mein Leben rennen, so aber verharre ich vor dem Lautsprecher meines Grammophons und gebe mich meinem Schicksal und diesem wunderschönen Album hin), „Snail I“ beginnt mit fast nur Stimme und endet mit Klavier und wieder diesem Triphop-Beat, überhaupt, viel Klavier und viel Orgel auf diesem Album, wunderschöne Musik und eine wunderschöne Stimme.

Und jetzt muss ich trotzdem in dieselbe Kerbe hauen wie auch schon einige andere Rezensenten: Was ist auf „Crow“ passiert? Ein wunderschöner Song, tolle Melodie, toll aufgebaut, und dann jagt Tara Nome Doyle ihre Stimme durch einen Verzerrer, als hätte sie auf einmal im Homeoffice Probleme mit dem Audio ihres Headsets. „Morning comesh too shoon“ hätte echt nicht sein müssen, dieser elektrisch vernuschelte Gesang macht leider viel kaputt. Aber trotzdem: Auch dieses Stück ist unterm Strich immer noch zu schön. Sorry, isch unterm Schtrisch immernoch schu schööön. Und außerdem: Danach kommt „Moth“, und wer sich bis dahin nicht mit dem ganzen Ungeziefer angefreundet hat (beispielsweise auf „Leeches I“, s. oben), tut es entweder jetzt oder lässt es ganz. Getragen von einem Klavier und einigen Streichern hat es eine wunderschöne Melodie, einen tollen Spannungsbogen, und eine Dramatik völlig fernab jeden Kitsches.

Tara Nome Doyle ist Berlinerin (geboren in Kreuzberg) mit norwegisch-irischen Wurzeln. „Værmin“ handelt dem Titel, dem Cover und den Songtiteln nach von Insekten, Spinnen, Schnecken und Krähenvögeln, die Texte handeln von Beziehungen, oft von toxischen. Das immer wieder und wieder wiederholte „I never asked for your love“ am Anfang von „Leeches II“ macht einen so fertig, dass der Refrain („pray for the leeches“, s.o.) als wahre Erlösung daherkommt. Und das zieht sich durch das ganze Album: Wunderschöne Musik, und sobald man in die Texte eintaucht, tun sich Abgründe auf. Großartig.

Und ich werde auf jeden Fall für die Blutegel beten, jeden Tag und immer wieder.