Spezial: addicted/noname Label aus Moskau, Teil 14

Von Matthias Bosenick (01.03.2023)

Ein kleiner Blick in die zurückliegenden Monate und wie sie sich auf das fabelhafte Moskauer Label addicted/noname auswirkten. Zu finden ist wie immer eine breite Palette an Stilen und Sounds: Flötendominierter Psychedelic Rock mit Бур, psychedelischer Doom mit Spaceking, tanzbarer Avantgarde-Indierock mit ЛАНЬ, vielseitiger Black Metal mit Gigrøma, melodischer In-die-Fresse-Thrash-Doom mit Crust und schleppender Hardcore-Sludge mit Erbo.

Бур – Бур (2023)

Diverse Block- und Querflöten und sogar eine Kazoo kommen auf dem selbstbetitelten Debüt des Psychedelic-Rock-Quartetts Бур (Bur) aus St. Petersburg zum Einsatz. Ihre Musik lassen die vier entspannt vor sich hin grooven und decken die Melodien eben mit diesen jazzig eingesetzten Blasinstrumenten ab. Man fühlt sich in die Hippiezeit der Sechziger zurückversetzt, in den Fusion Jazz oder in die Wüste entführt, an Lalo Schifrins Soundtracks erinnert. Das Soundtrackartige trägt die instrumental gehaltene Musik der Band zum Teil in den Songtiteln mit, wie dem der Vorabsingle „Kusturica“ oder wie in „Frankenstein“. Und manche Flötentöne erinnern an das „Mission: Impossible Theme“, aber nur leicht.

Für ihr Debüt holten sich Бур haufenweise Gäste ins Studio, und so divers klingt dann auch das Gesamtergebnis, obschon die Flöten eine Konstante über vielen der Tracks darstellen. Inmitten des krautig groovenden Psychedelic Rocks ragt plötzlich ein Achtziger-Schmockrock-Stück mit dem programmatischen Titel „80’s“ auf, mit Synthiedrums, Gniedelgitarre und textlosen Shoutsings, ein Spaß! Anschließend verlegt sich die Band wieder aufs Psychedelische, probiert sich im Postrock aus, lässt Leute auf Deutsch reden und die Bong kreisen und flötet zuletzt noch mal richtig ausufernd funky, jazzfusionierend, groovend, krautig, spacig, episch – im abschließenden 17 Minuten langen, überwältigend wechselhaften Track.

Бур entstand 2017 aus dem St. Petersburger Musikerkollektiv Ohm, die heutige Besetzung manifestierte sich nach einem Geburtstagsgig für das Addicted-Label, und zwar mit Alexsandra Strogaleva, die die Flöten, das Kazoo und ihre Stimme einsetzt, Bassist Stanislav Chelapko, Schlagzeuger Evgeniy Viharev und Gitarrist Maksim Kononov. Als Gäste auf dem Album dabei sind: Aniya Faizrahmanova (Ания Файзрахманова), Yaruk Ganaev, Lyubov‘ Melochnaya (Любовь Мелочная) und Ri Vinogradova mit Gesang, Dichterin Milyausha Gafurova (Миләүшә Гафурова), Vee Pokrovski mit Kehlgesang, die Percussionisten Yoel Gonzalez und Roman Galibov sowie Flötist Shanti Sena.

Spaceking – Anticosmic Stoner Metal (2022)

Zum dritten Mal veranstalten Spaceking einen psychedelisch doomenden Lärm, dass man sich headbangend am Sessel festketten muss – und staunt, dass es sich bei Spaceking immer noch um lediglich zwei Musiker handelt. Ivan Zakharov spielt Bass, Gitarre und Keyboards und Kirill Dmitriev Schlagzeug und Percussion – Gesang gibt es keinen und Gäste auch nicht, die beiden St. Petersburger kommen sehr gut allein zurecht.

Den Bass fuzzen sie ordentlich und metaln spacigen Stoner-Sludge-Doom drüber. Den variieren sie, lassen ihn ab- und anschwellen, gönnen ihm kosmische Ruhe, um dann wieder antikosmisch loszubrettern. Zwei Leute, die agiler ihre Spuren übereinanderschichten als so manche vollständige Band – was für ein fetter Sound, auch noch dicht produziert, mindestens so dicht wie die Rauchschwaden im Studio.

Der Albumtitel „Anticosmic Stoner Metal“ referiert dieses Mal nicht wie gewohnt an ein etabliertes Werk des Progrock, dem sich das Duo selbst auch noch zuordnet. Das zweite Album hieß nämlich vor sieben Jahren „The Piper At The Gates Of Stone“ und das Debüt vor zehn Jahren „In The Court Of The Spaceking“, diese Progrock-Nähe lässt das Duo hier eher hinter sich und widmet sich dem zugedröhnten Rock’n’Roll; Titel wie „Bongrider 666“ sprechen klare Worte. Auf diese „Journey“, so der Titel des letzten Tracks, lässt man sich gern ein.

ЛАНЬ – Волшебный мир грёз (Синий Mix) (2022)

Лань, Damhirsch, Dama Dama, nennt sich das Moskauer Quartett, das ausschließlich aus Nichtmoskauern besteht und eine Art Avantgarde-Rock spielt, den es mit allerlei Elementen versetzt, die man gar nicht so genau zuordnen kann, was ja eben gerade gut ist. Rockmusik ist also lediglich die schwer definierbare Grundlage für das, was die Leute hier veranstalten. An mancher Stelle fühlt man sich an experimentelle Exkurse ins New York der späten Siebziger versetzt, angelehnt an die Talking Heads etwa, auch in deren spröder Tanzbarkeit. Manche Passagen gemahnen vielmehr an Wavemusik der Achtziger, andere an filigranen Neunziger-Indierock, dann gesellen sich psychedelische Elemente hinzu, kurz darauf flirrende Synthiesounds. Der klar artikulierte Gesang ist bisweilen vielmehr ein melodisches Sprechen, Mahnen, Fordern. Auf jeden Fall ist es ausnehmend einfallsreich, was die Leute hier in ihren sperrigen, räudigen Songs unterbringen. Die Band selbst ordnet sich auch in Post-Punk und Industrial ein, und wenn man so will, kann man in manchen dunkel-repetetiven Phasen Anlehnungen an frühere Swans heraushören, nur ohne deren Willen zu erdrückendem Lärm.

Was es nun mit dem „Blauen Mix“ des Albums „Zauberwelt der Träume“ auf sich hat, ist eher rätselhaft, da es einen anderen Mix dieses Debüts gar nicht gibt. Dafür aber mit „Словно белые люди“ („Wie Weiße“) eine Vorab-Single in zwei Versionen, die sich von der auf dem Album unterscheiden. Ja, die Titel verraten es: Die Texte sind durchgehend auf Russisch gehalten.

Die beiden Bandgründer des Jahres 2015 sind heute noch dabei: Victor Bragin mit Rhythmusgitarre, Gesang und Samples sowie Pavel Peretolchin mit Schlagzeug und elektronischer Percussion. Bass, Keyboards und zusätzlicher Gesang kommen inzwischen von Dmirty Semenovykh und die Lead-Gitarre von Evgeny Zarubitsky. Weitere am Album Partizipierende sind Nikita Onisenko mit Sampling und Percussion, Polina Borisova mit Flöte, Roman Baranyuk mit Tamburin und Aleksandra Lakonkina mit Backingvocals. So wild der Instrumentenmix sich hier darstellt, ist auch die Musik: Ein irrer Trip, auf den man sich da begibt.

Gigrøma – Человек создатель смерти (2022)

Bei Gigrøma aus St. Petersburg handelt es sich abermals um ein Duo: Gitarrist und Sänger Sergey Telichko (Сергей Теличко) und Schlagzeuger Vladimir Zankevich lassen ihren poetischen Black Metal ohne organischen Bass auskommen. Nun also das erste Album „Der Mensch, der Schöpfer des Todes“, auf dem sich das neu formierte Duo bei klassischen Texten unter anderem von Alexander Sergejewitsch Puschkin und Hermann Hesse bediente.

Die Musik hingegen scheint dies gar nicht zu reflektieren: Black Metal, mit allem, was dazugehört, und das ist heutzutage eine Menge, von klassischen Blastbeats und Flirrgitarren bis zu postmoderner doomiger Atmosphäre. All das bedient das Duo und keift dazu auf Russisch, dass es eine Freude ist. Um den Sound so fett zu bekommen, arbeiten Gigrøma mit diversen Mitteln, darunter einem programmierten Bass und einem zusätzlichen Amp für die Gitarre. Auch in fett ist die Musik trotzdem dem Genre entsprechend kalt, ebenso in den ruhigeren, postschwarzmetallischen und sogar postrockigen Passagen. So abwechslungsreich sind die Tracks des Duos nämlich, und dadurch wird das ganze Album herrlich vielseitig. Und dabei auch noch so geil gespielt, die beiden Jungs können was an ihren Apparaten!

So richtig neu ist im Black Metal nur schwierig etwas zu generieren, hier ist es der Stilmix, mit dem Gigrøma punkten. Und da die beiden Protagonisten dies selbst wissen, legen sie ihre Einflüsse offen dar, und die decken ebenjene Bandbreite ab wie das Album, von Wiegedood über Sunn O))) und Wolves In The Throne Room bis Downfall Of Gaia und mehr. Kann man nur abnicken und erfreut feststellen, dass die beiden etwas gutes Eigenes daraus machen.

Crust – Wanderers (2022)

Geil, neue Musik von Crust! Mächtig harten Speed-Doom machen die drei Moskauer hier wieder, brutal, episch, riffig, voluminös, in die Fresse und in die Seele gleichermaßen. Streckenweise erinnert der Lärm hier sogar an frühen Thrash von Sepultura, und wenn’s richtig schnell wird, könnte man „Wanderers“ glatt in die Black-Metal-Schublade einordnen. Aber nur temporär und nicht ins Tiefkühlfach, denn dafür zaubern die drei hier echt viel zu viel aus dem Hut, was sie beherzt durch den beheizten Fleischwolf drehen.

Flirrend-melodischen Postrock kann man hier nämlich außerdem hören wollen, Hardcore, Death Metal, was nicht alles, das schütteln die drei einfach so aus dem Ärmel und kombinieren es nicht nur sinnig, sondern gestalten ein schlüssiges Werk daraus, bei dessen Genuss die diversen Einzelelemente nicht als aneinandergereihte Blöcke auftreten. Crust machen Crustmusik, aber keinen Crust. Müssen sie ja auch nicht.

Crust sind Sänger und Bassist Arthur Filenko, Gitarrist und Effektingenieur Vlad Tatarsky und Schlagzeuger Roman Romanov. Der Bandname ist natürlich verwechselbar, den gibt’s häufiger, aber eine Musik wie diese in der Kombination nicht. „Wanderers“ ist nach „The Promised End“, „Stoic“ und „… And A Dirge Becomes An Anthem“ das vierte Album seit 2019, zudem kamen ab 2015 noch unzählige EPs und Singles dazu. Konzeptionell vertonen Crust hier den Doom, in den der Mensch geboren wird, und mal ehrlich, wenn der so klingt, ist das doch alles gar nicht so schlimm! So schön kann Brutalität sein.

МРАЗЬ – Все взрослые люди (2022)

мразь heißt Abschaum, also ein klassischer Punkname für das Moskauer Quartett. „Alle Erwachsenen“ ist das Debütalbum nach den zwei Singles „Родители“ und „Тоннельный синдром“, die auch beide hier enthalten sind. Die vier Musiker nutzen ihren groovenden Post-Hardcore-Lärm, um dazu ordentlich eruptiv herumschreien zu können. Und das mit dem Groove, das haben sie drauf, sie machen nicht einfach nur Lärm, das hat Struktur, Drive, Energie. Bock auf Pop hat hier trotzdem keiner, die Schönheit liegt hier vielmehr in der Wut, in der schlechten Laune, in der Aggressivität.

Dafür müssen мразь nicht mal zwingend Tempo machen, die Wucht ihrer Wut drücken die vier auch mit heavy Kopfnicker-Riffs aus. Etwas flotter können sie aber auch, mal inmitten eines Songs auf die Tube drücken beispielsweise. Und immer wieder vom gerotzten Gesang ins Geschrei umschalten. Die Band hat Feuer unterm Hintern und ausnehmen üble Laune, da wundert es sehr, wie vielseitig und streckenweise sogar verspielt ihnen dabei ihr Krach gelingt. Gegen Ende des Albums möchte man trotzdem einmal laut zurückschreien.

Das Noiserock-Quartett besteht aus Sänger Максим (Maxim), Schlagzeuger Александр (Alexander), Bassist Дмитрий (Dmitry) und Gitarrist Роман (Roman). Beachtenswert ist hier nicht nur die Musik, sondern auch das Artwork: Singles und Album sind ausnehmend ästhetisch bebildert, mit verstörenden Porträts; das Album ziert ein melancholisch dreinblickender Mann im Anzug, dessen Gesicht verschrammt ist. Ein beachtliches Debüt, das aufhorchen lässt – schon allein, wenn man so angebrüllt wird.

Erbo – Iare (2022)

ერბო, Erbo, ist Georgisch und heißt Butterschmalz. Das geht schon mal gut los mit diesem Moskauer Trio mit georgischen Wurzeln! Ausgangspunkt für die Gründung dieser Band waren die Jamsessions der beiden Gitarristen George/Georgiy Tolordava und Viktor Diachkov, die in ihrem Kämmerlein einen dicken, harten, magmaartigen Gitarrensound zu generieren versuchten, und sich darin erst als vollständig empfanden, sobald Schlagzeuger Miahail Rakaev dazukam – sie somit also auch das Fehlen einen Bassisten nicht als Leerstelle auffassten.

Nun sind schwere Gitarren mit Schlagzeug allein kein Erkennungszeichen für eine musikalische Ausrichtung, und die ist im Falle von Erbo nicht so einfach zu bestimmen. Man hört eine Art noisigen Post-Hardcore, der in die Sludge-Richtung geneigt ist, versetzt mit den flirrenden Gitarren und der zurückgenommenen Energie des Postrock sowie dem Groove des spacig verstonerten Indierock. Dabei haben sie keine Eile, vielmehr malmen sie ihre Wucht in die Welt, denn es steckt in ihr die Wut auf die Welt, und wo gehört die besser hin als mitten hinein. Zu allem singen bis schreien Erbo ihre Texte auf Georgisch, was dem Lärm eine mystische Komponente hinzufügt.

Vier Songs in 21 Minuten schichten Erbo hier auf. Die Titel transkribiert das Trio in lateinische Buchstaben: „Iare“, Georgisch „იარე“, heißt „Gehe weiter“. „Aq var“, „აქ ვარ“, „Ich bin hier“. „Aq vidgebi“, „აქ ვიდგები“, „Ich werde hier stehen bleiben“. „Shekitkhva“, „შეკითხვა“, „Frage“. An den hohen Gesang muss man sich erst gewöhnen, aber das hat man bei Geddy Lee ja auch irgendwann hinbekommen. Aktuell arbeitet das Trio offenbar an weiterem Material, und angesichts dieses erbaulichen Debüt-Brockens kann man sich darauf nur freuen.

Der Bandcamp-Link zu addicted/noname