Spezial: addicted/noname Label aus Moskau, Teil 12

Von Matthias Bosenick (05.05.2022)

Post und Emails gab es dieses mal aus Moskau, und man freut und wundert sich, dass beides dieser Tage überhaupt durchkommt. Die drei Betreiber des Labels, das wahlweise addicted heißt oder einfach namenlos ist, also auf noname reagiert, bleiben unermüdlich, auch wenn Paypal-Zahlungen aus dem Verkauf bei Bandcamp derzeit aufgrund der westlichen Embargos gegen die Kriegstreibermacht gar nicht ihre auch wohlgesonnenen Ziele in Russland erreichen. Es bleibt zu hoffen, dass es bald ein „danach“ geben wird, in dem die Oppositionellen nicht unter die Räder kommen. Musik gibt es dieses Mal als Download, CD oder 7“, darunter auch vom Bruderlabel Bad Road Records, und zwar mit der Compilation „Addicted Tunes“, neuen Alben von Detieti und Был замечен… sowie Singles von Fistula, Koffinsurfer und Crawl – und zwar nicht nur aus Russland, sondern auch aus der Ukraine.

Addicted Tunes (2022)

Warum dauert es zehn Jahre, bis das Label auf die Idee kommt, seine Arbeit mit einem repräsentativen Sampler zu repräsentieren? 15 bis 17 Songs (da unterscheiden sich die Tracklists kurioserweise), die die Bandbreite von elektronisch-jazziger Dancemusik über Progmetal, Freakpunk, Avantgarde, Free Jazz und Stoner bis Death Metal und Doom abdecken, darunter satte 13 Erstveröffentlichungen. Mit einer gehörigen Portion Funk eröffnen Шон (Shon) aus Koroljow das Bündel. Elektronisch tanzbar und unvorhersehbar richten sie die Aufmerksamkeit zunächst auf die Mobilität der Hörenden: Seid ihr tanzbereit? Sollte man sein. Die Psychedeliker Maat Lander aus Moskau greifen das Technoide auf; fürwahr, ein irreführender Einstieg in das Labelprogramm.

Die alten Helden IWKC alias I Will Kill Chita holen den Dancefloor zurück ins Experimentelle, krachen Riffs in die Beats und verschachteln ihren Beitrag. Selbst die Sankt Petersburger Dauerkiffer Pressor kommen hier elektronisch daher, nämlich episch housy geremixt von Wiklauri, und verdammt, steht ihnen der tanzbare Anstrich gut!

Spätestens mit Бром (Brom) zeigt die Compilation ihr wahres Gesicht: flirrendes Saxophon über nicht erkennbarem Takt fordert Hörgewohnheiten massiv heraus und definiert die Idee von Free Jazz neu. Dogs Bite Back setzen das Schwerhörbare mit ihrer Impro-Avantgarde fort. Den nächsten Schritt in Richtung Kernkompetenz macht das Label mit dem Sankt Petersburger Duo Juice Oh Yeah, das basierend auf einer Art russischer Folklore zum epischen, elektronisch unterfütterten Sprung ins All ansetzt. Eine Reise, die sich lohnt. Anschließend klingen Dekonstruktor, wie sie heißen, und reißen die Gitarrenmusik fuzzy verdröhnt in den doomigen Abgrund.

Die nächste fast Viertelstunde gehört Zatvor, Eigenschreibweise ZaTVoR, aus Kursk, und die nutzen die Zeit fürs epische doomige Stonern. Erstaunlich, mit wie viel Filigranität das Sextett seine zusehends brutaler rollende Walze schmückt, die in einem Feedbackgewitter ausfasert. Hernach schieben Pressor ihre spacige Variante des Beatles-Songs „I Want You (She‘s So Heavy)“ in die Sammlung; dieses Stück fehlt in manchen Ausführungen.

In jedem Fall weiter geht es mit Матушка-Гусыня (Matushka) aus Sankt Petersburg, aus dem Umfeld von The Grand Astoria. In knapp zweieinhalb Minuten komprimiert dieses Projekt Tanzbarkeit, Progrock und Virtuosität in ein halsbrecherisches Interludium. Mother Witch aus Odessa fahren das Tempo mit einem Akustikgitarrenintro wieder runter, das ein vom Frauengesang getragenes Neofolkstück einleitet – und dieses zur Hälfte in den handfesten Doom kippt.

Die Moskauer Punks Отдел Самоискоренения alias Selferadication Dept ziehen das Tempo wieder an mit ihrer eher in allem, was mit Post- beginnt, angesiedelten Gitarrenrockmusik. Melodiös, sperrig, monoton, energetisch – und episch: Seit wann machen Punks Lieder, die acht Minuten lang sind? Das geht natürlich nur mit experimentell-chilligem Mittelteil. The Flash Fever aus Sankt Petersburg schieben den Drall in Richtung No Wave, mit einer kleinen rotzigen Punknummer, die mit zwischenzeitlichem Gegniedel die eigentliche Nähe zum Stoner nicht verbergen kann.

Dann bringen Detieti das Saxophon ins Spiel und zitieren in ihrem avantgardistisch funkrockendem Livetrack urplötzlich „Ghostbusters“, so geht das. Dies ist der zweite Track, der als Coverversion nicht in allen Varianten dieser Compilation enthalten ist. Был замечен… alias Byl Zamechen, die zweite Band aus der Ukraine, aus Харьков, Charkiw, nämlich, experimentiert ohne Schlagzeug auf einer sehr freakigen Ebene, mit einem beinahe hypnotischen Mix aus angezerrter Gitarre, zirpenden Geräuschen und etwas Undefinierbarem, das sowohl Orgel als auch Blasinstrument sein könnte. Den Abschluss macht die Impro-Supergroup REBBBB mit einem groovend-spacigen Kopfnicker.

Wer nach diesen anderthalb Stunden auf den Geschmack gekommen ist, findet auf der Bandcamp-Seite von addicted noch mehr glänzende Perlen!

Detieti – Serious IV (2021)

Sind Detieti auf ihrem vierten Album erwachsen geworden? Was früher noch eine chaotische Aneinanderreihung von Musikideen war, deutlich inspiriert von Frank Zappa oder Mr. Bungle, findet jetzt eine geordnetere Ausdrucksform. Das Durchgeknallte bleibt natürlich erhalten, bekommt aber schlüssigere Bahnen. Die nur vier Stücke zwischen fünf und 13 Minuten scheinen dabei nur willkürlich Grenzen zu setzen. Die Band bringt nämlich trotzdem die absurdesten Ideen miteinander in Verbindung, reiht sie wie die in Farbe, Form und Größe unterschiedlichen Kleidungsstücke einer Großfamilie an einer grob den Takt vorgebenden Leine auf und fährt entspannt mit dem Mirko daran entlang.

Und was hier geht! Spacerock, Ambient, Metalriffs, Pop, Funk, Synth, Reggae, was das Herz begehrt – und noch viel mehr. Vor lauter Experiment vergessen die Moskauer aber den Fluss nicht, und das macht den Unterschied zu früher: Die Musik wirkt nicht mehr wie ein abgekippter Möbellaster, birst aber trotzdem vor Einfallsreichtum. Auch ohne Gesang liegt dem Album eine Geschichte zugrunde, irgendwas mit Aliens natürlich.

Interessanterweise besteht die Band aus nur drei Leuten, musikalisch an „Serious IV“ beteiligt waren aber sieben, mit Gitarre, Bass, Schlagzeug sowie Samples, Field Recordings, einem Kinderpiano, Synthies und Sequenzern, Melodica und Mandoline. Das Ergebnis basiert dennoch weitgehend auf Rockmusik, aber nur das, das wäre Detieti sicherlich zu langweilig. Und das ist „Serious IV“ mitnichten!

Был замечен… – Был замечен… (Bad Road 2013, addicted 2022)

Bereits 2013 erschien das selbstbetitelte Debüt von Был замечен… aus Charkiw in der Ukraine, seinerzeit auf Bad Road Records, jetzt frisch erneut bei addicted/noname. Ein deutlicheres Zeichen könnten die Moskauer damit kaum setzen. Ihre Kernkompetenz liegt im Stoner, den die Ukrainer gepflegt verschleppen und zersägen. Sie haben keine Angst vor Melodien, aber sie müssen schon auch im bekifften Zustand rekonstruierbar sein. Man hört, dass die Jungs den Blues im Blut haben, auch wenn sie ihn nicht durchgehend von der Leine lassen.

Fetter als die Produktion ist, was „Gesehen wurde …“, so die Übersetzung des Bandnamens, hier zwischenzeitig aus den Instrumenten herausholen. Sind die meisten Passagen eher behutsam instrumentiert, heben die Musiker bisweilen den Druck an und drehen die Verstärker und Verzerrer voll auf. Und wieder scheint es da irgendwo im Soundgeflecht etwas Unerwartetes zu geben; ist es nicht doch eine Orgel, die da den Black-Sabbath-Geist an Deep Purple erinnern lässt? Ertönt da nicht eine Flöte? Und die Synthie-Efekte, die sind doch von Hawkwind, oder? Wie auch immer, die Ukrainer schrecken nicht vor Epik zurück und lassen einzelne Songs auch mal die Zehn-Minuten-Grenze weit überschreiten, inklusive ausufernder Fuzz-Momente. Was für ein abwechslungsreiches Debüt mit was für einem chillig-spacigen Rauswerfer!

So richtig viel ist über die Band nicht herauszufinden. Sie sind assoziiert mit anderen Bands wie den Stoner-Rockern Bomg, den Black Metalern Заводь (Zavod) und dem Drone-Doom-Projekt Schperrung (Шперрунг). Mit „стало ещё только хуже“ („Es wurde nur noch schlimmer“, in der Tat) folgte 2016 ein weiteres Album, seitdem ist es ruhig geworden um die Band – sieht man davon ab, dass nun eben diese Wiederveröffentlichung vorliegt, die ein neuer Startschuss sein könnte.

Fistula – Ignorant Weapon (Bad Road 2015)

Dieses Quartett kommt aus Ohio, und wie es sich für Bands aus dem Spannungsfeld von allem, was auf -core endet, gehört, bringen auch Fistula in den vergangenen 22 Jahren Alben, EPs und 7“es auf Labels quer über die Welt verteilt heraus. So eben auch eines auf Bad Road in Moskau. „Ignorant Weapon“ hat vier Songs, davon zwei Cover, nämlich „Destroy The Handicapped“ von Fang sowie von „I Love Nothing“ GG Allin & Anti-Seen. Das gibt schon mal grob die Grundlagen als Orientierungshilfen vor.

Angenehm rumpelig, mörtelig, stressig, verzerrt, laut sind die vier Songs dieser Single. Heavy, ohne Metal zu sein. Crust und Sludge stehen auf den Selbstbezeichnungen, und was nicht draufsteht, aber drin ist, ist Groove. Wie die Jungs unter all dem Geröll noch so mit der Hüfte schwingen können!

Koffinsurfer – Koffinsurfer (Bad Road 2016)

Schade, dass es für Koffinsurfer bislang erst bei dieser einen 7“ blieb, denn das Konzept ist ziemlich bemerkenswert: Singer-Songwriter-Akustikgeklampfe mit Growls. Und wenn der erste Song auch „Barndomsminne frå Nordland“, also „Kindheitserinnerungen aus Nordland“, heißen mag, Gitarrist Nikita und Sänger Denis kommen offenbar aus Russland. Zu zweit kreieren die Koffinsurfer mal so richtig eigene Musik, denn sie ziehen das durch auf den drei Songs, echt nur Klampfe und Grunzen.

Und was für eine Atmosphäre sie damit generieren! Getriggert durch die eigenen Hörgewohnheiten, erwartet man permanent, dass das Gewitter über einem hereinbricht, doch Minute um Minute vergehen, Song um Song laufen ab, und es bleibt dabei: Gitarre und Gebrüll, zuletzt auch mal Geflüster. Filigran, zart angeschlagene Gitarre, kein Geschrammel, virtuos, neofolkig, beinahe sakral, und dann passt die Art des Stimmeinsatzes plötzlich, wie er auch bei Opeth passte, als sie noch gut waren. Unterfüttert sind die drei Songs mit atmosphärischen Samples. Das muss geil sein am Lagerfeuer.

Crawl – 30 Year Suicide (Bad Road 2017)

Diese 7“ läuft auf 33 1/3 Umdrehungen, sonst wären die Songs für eine Single viel zu lang. Crawl kommen aus Atlanta und machen ellenlangen schleppenden Doom-Sludge mit Gekeife. Der Titel „30 Year Suicide“ erinnert an Crawl-Musiker Eric Crowes Freund Gabe Doelger, der 2016 mit 30 Jahren starb und offenbar irgendwie im Horrorfilm involviert war. Das passt ja gut.

Den Horror transportieren Crawl schon ganz gut musikalisch. Es ist stockdunkel in den zwei Songs, schleppt sich mühsam herum, wird zusehends karger und kälter, läuft ins Nichts, und wenn man sich gerade daran gewöhnt, kehrt der Schockeffekt mit der Wucht der Walze zurück. Hier findet Tragik eine angemessene musikalische Entsprechung. Dieser Eric „E.“ Crowe hat auf seiner Liste so viele weitere Bandprojekte, dass das Internet dafür gar nicht ausreicht: Big Yellow Mama, Doubleplusungood, Fulci, Marax, Within Death‘s Kingdom, Fred Mertz‘s Pants, Hog Mountin, Molehill, Necroflesh, Puaka Balava, Social Infestation, Sons Of God und vermutlich noch viele mehr.

Bad Road records bei Bandcamp