Spezial: Addicted Label aus Moskau

     

Von Matthias Bosenick (09.07.2018)

Was für ein Oeuvre! Ein Label für Psychedelic Rock, Stoner, Prog, Doom, Sludge, Ambient, Electronic, Musique Concrète, Jazz Punk, Hard Rock und mehr rief Anton Kitaev aus Moskau 2011 ins Leben. Damit die Musik mehr Gewicht bekommt als sein Verlag, gab er diesem keinen Namen, bezeichnet ihn höchstens als „Addicted Label“, denn irgendwie muss er damit ja in Erscheinung treten. So unterschiedlich die Musikrichtungen seines Katalogs auch sein mögen, eines eint sie und ist quasi Grundvoraussetzung dafür, von ihm aufgenommen zu werden: Unkommerziell muss es sein. Eine Auswahl.

The Grand Astoria – Punkadelia Supreme

Dank Davide Pansolin aus Savona und seinem Label Vincebus Eruptum sind The Grand Astoria schon 2015 auf Krautnick in Erscheinung getreten: Der Inhaber drückte dem Autoren die Vinyl-Version des jüngsten Albums „The Mighty Few“ in die Hand – das Original erschien auf Addicted. Nicht nur dies, die St. Petersburger bringen es dort auf drei weitere Alben, eine EP und zwei Splits, allesamt absolut genießenswertes Zeug. „Punkadelia Supreme“ ist das Album von 2013, das eine leicht andere Ausrichtung hat als „The Mighty Few“: Es beginnt mit fröhlichem Folkloregeflöte und unterteilt die Ideen auf mehr als nur zwei Stücke, 13 nämlich. Es wirkt trotz des heavy und progressiv gespielten Psychedelic Rocks besser gelaunt als erwartet, was sicherlich auch am mehrstimmigen Gesang liegt, der ebenfalls aus dem Folkrock entliehen ist, wenn nicht direkt bei ELO. Doch anders als die gehen The Grand Astoria auch mal mit wuchtiger Heavyness zuwerke, sobald sie es dafür an der Zeit befinden. Mindestens so abwechslungsreich wie Motorpsycho und in allen Belangen auf enorm hohem Niveau!

Disen Gage – Nature

Es dronet auf „Nature“, einem Album mit nur drei langen Tracks, die auf Samples basieren und eher Soundscapes als Musik beinhalten. Rhythmisch wird es gelegentlich nach Art der frühen europäischen Industrial-Bands, wenn bestimmte Geräusche als Loop auftreten, musikalisch, sobald – und das geschieht nur selten – konkrete Instrumente zu hören sind. Der Albumtitel ist vermutlich irreführend: Einzig „Animals“ gehören zur Kategorie „Nature“, „Planets“ sind außerirdisch schwierig zu sampeln und „Trains“ nur für deren Spotter Natur. „Animals“ hat im Verlaufe das Zeug zum leicht kantigen Traumreisensoundtrack und endet ganz überraschend mit Hardrockgebolze.

Detieti – Frogressive Punk

Wortwitz! Auch in den Tracktiteln, siehe „Cocaintro“. Und Witz auch in der Musik: Detieti wildern in sämtlichen Musikstilen der Erde gleichzeitig, in der Darreichung leicht abgeschaut bei Frank Zappa oder Mr. Bungle. Die Grundlage ist zumeist irgendwie Rockmusik, leicht und bekömmlich, aber das führt in die Irre, weil Detieti gern Stoner drüberlegen oder gleich mal die Pferde mit Mike-Patton-Gerumpel wild machen, über dem ein cheesiges Keyboard tiriliert. Weiter geht‘s mit Funk, klassischem Funky Metal, Progrock inklusive Orgel, Jazzrock mit Saxophongequäke, südamerikanischer Folklore, Humppa-Keyboard, Spacerock, Latino, Balkanpop, Ambient. Hier ertönt mit- und nacheinander, was man niemals zusammengefügt hätte, und siehe, es passt, strengt aber selbstverständlich an. Halt, nein: Fordert heraus!

Soom – Джєбарс

Джєбарс, Dzhyebars, Djebars, Jebars: Mit Soom wird es atmosphärisch. Es dauert den ersten langen Track, bis der Doom losbricht, und dann vereint er so gegensätzliche Impulse wie schweben, mosten und malmen. Als Häubchen setzt das Trio dezidiert Keyboardeffekte und Lärmsamples auf sowie von Technobeats untermalte räudige Interludien zwischen ihre dreckigen Walzen und lässt Gäste sogar Geigen und Flöten beisteuern. Fröhlich geht anders, die Stimmung ist nicht eben sonnig, und das ist auch gut so. Erstaunlich, welcher Lärm, welche Wucht aus nur drei Leuten herausdröhnen kann. Schnauze voll und Spaß daran, und das auch noch so virtuos, dass Soom es sich leisten können, kunstvoll das Schräge zuzulassen. Befreit die Nasennebenhöhlen.

Dekonstruktor – Fuck Life We Go Further

Na, die haben aber auch so einiges satt, und das lassen sie die Welt mit Black und Doom Metal wissen, sehr oldschoolig unproduziert, aber amtlich gebremst aggressiv. Hier dominiert die handgespielte Wiederholung, die zwangsläufig zur Hypnose mutiert. Die B-Seite, bestehend aus dem zweigeteilten Titelstück „Fuck Life“ und „We Go Further“, bricht mit dem Sound: Es wird reduziert, minimal, sehr düster und bedrohlich.

IWKC – Cargo Cult

Das progrockt im Weltraum! Stolpernde Stakkatorhythmen mit Egitarre und Keyboardteppichen leiten diese EP ein, danach überraschen Funk und Bläser über einem beinahe discotauglichen Beat, die abermals den Weg ins All weisen. Ein fröhlich schunkelnder Jazz Fusion Rock wartet dort schon. Zum Abschluss wird es watteweich und einlullend, der ellenlange Fade-Out entlässt den Hörer ins Reich der Träume, mit dem passenden Titel „Keine Angst“.

Kshettra – Yar

Ambitionierter Ambient inmitten avantgardistischen Artrocks, frickelige Beats und Melodien, Gegniedel and the damage done: Auch Kshettra kombinieren, was das Zeug hält. Sie können mit ihren Rockinstrumenten umgehen und stellen ihre Expertise auch ausufernd zur Schau. Zum Höhepunkt begleitet einer seinen auf der Gitarre introvertiert zaubernden Mitmusiker mit der scheinbar arhythmisch geklöppelten Kuhglocke. Klingt wilder, als es ist: Die EP besticht mit Könnerschaft, nicht mit Tempo.

Грунт – Грунт

Wer in Mathe gut aufgepasst hat, auf die Buchhalterkarriere aber trotzdem keinen Bock, spielt eben Mathcore. Alles mit „Core“ entstammt dem Punk, und so laden Грунт (Grunt) auf ihrem selbstbetitelten Album zur gitarrenrotzigen und melodieseligen Tanzparty, verwirren die Gäste dann aber mit in die Viervierteltakte geschobener Polyrhythmik. Eine Mordsgaudi, gesangsfrei und punkig kurz, trotz immerhin zehn (unbetitelter) Songs. Wer am Apparat was kann, muss nicht zwingend Progrock machen, um dies anderen zu verdeutlichen.

I Will Kill Chita – Risk

Nochmal IWKC, noch unter dem alten Namen: Das Cover dieser Single veranschaulicht das „Risk“ recht hübsch, es zeigt eine partiell defekte Hängebrücke. Die Musik ist dabei weniger riskant: Der symphonisch gehaltene Metal-Rock ist recht gefällig, punktet aber damit, dass ihn klassische Instrumente wie Cello, Geige und Horn begleiten. Wohlfühlrock, und das ist nicht mal abwertend gemeint. Gesang gibt es hier übrigens auch nicht, und das ist in diesem Genre wohl die beste Entscheidung.

Flower In My Lung – Flower In My Lung

Richtig schön dunkel-atmosphärischen Postrock machen Flower In My Lung auf ihrem selbstbetitelten Album. Das schließt in Richtung Pathos treibende Harmonien, flächendeckende Gniedelgitarren und getragene Rockpassagen mit ein. Hier überwiegt das latent Wavige über den vertrauten und selbstverständlich instrumentalen Postrock, die Ruhe über den Lärm. Sehr sanft, Eruptionen gibt es dezidiert, es lädt zum wohligen Fallenlassen ein.

Sound Of Ground – Sick

Sound Of Ground wissen, wie Stoner geht, und spielen ihn genau so: Die Gitarren sind tief gestimmt, die Melodien von gepresstem Gesang begleitet, hohe Töne finden kaum statt, es knarzt und bratzt an allen Reglern. Auch bekifft kann man schnell sein, man braucht schließlich einigen Anlauf, um sich in die Sterne zu schießen. Bei Kyuss haben Sound Of Ground einiges gelernt, auch den Groove. Klassisch für sein Genre, steht den Meistern in nichts nach.

Pressor – Weird Things

Da entlädt sich so einiges. Sludge, Doom, Stoner bilden das Grundgerüst, Synthesizer flirren darüber hinweg. Die vier Tracks dieses Albums sind passend lang und in sich verschachtelt, mit wechselnden Ausrichtungen, von schleppend bis galoppierend und allem dazwischen. Und immer dröhnen die heruntergestimmten Gitarren. Pressor gönnen sich und dem Hörer keine Pausen, es ist unglaublich, wie sie mit dieser Art, die Genres darzubieten, eine permanente Aufmerksamkeit einfordern.

Die Musik des Addicted Label gibt es bei Bandcamp als Download, gelegentlich auch als CD oder auf Vinyl. Kontakt auch via Facebook.

[Edit 10.07.2018] Ergänzungen von Anton: Er ist einer von drei Labelgründern, die anderen beiden sind Oleg Dynya und Ivan Bredolog.

Außerdem erläutert Anton den Namen des Labels: „No Name“ stand zu Beginn für die schlichte Wahrheit, selbst nach den ersten Veröffentlichungen fiel den dreien kein vernünftiger Name ein, und auch ein Logo fanden sie nicht. Auf den unterschiedlichen „sozialen“ Kanälen des Internets trat das Label je nachdem, wer etwas verbreitete, unter verschiedenen Bezeichnungen auf, so dass es nicht länger keinen, sondern viele Namen trug, darunter БНиЛ (BNiL), den sich die Moskauer Stoner-Band Kamni ausdachte.

Das Labelbetreibertrio macht sich zudem einen Spaß aus dem Pathos, den Indie-Akteure gern rund ums Thema Independend transportieren. Daraus resultierte ein Russisch-Englisches Wortspiel: независимый heißt independent, unabhängig. Auf Presseinfos verwenden sie die Bezeichnung зависимый лейбл (Label), ohne den Präfix не also. Dieses verkürzte Wort hat nun zwei Englische Synonyme als Übersetzungen: dependend und addicted, in beiden Fällen auf Deutsch abhängig, und da ein Großteil des Programms aus psychedelischer Musik besteht, empfinden die drei „Addicted“ als cooler. Anton: „Aber wir nutzen beide Varianten, abhängig von Kontext und … Wetter.“