Von Matthias Bosenick (14.06.2023)
Schon wieder versteckt Phillip Boa ein neues Album hinter alter Musik, schon wieder veröffentlicht er „Boaphenia“ mit Bonus, schon wieder fühlt man sich als Allessammler abgezockt. Zehn neue Songs spielte Boa mit seinem gegenwärtigen Voodooclub ein, nennt das so entstandene Album „The Porcelain Files“ und verkauft es ausschließlich an die Leute, die die erweiterte Neuauflage seines 30 Jahre alten Indiepoprock-Hit-Albums „Boaphenia“ erwerben. Heißt: Man gibt zwischen 20 und fast 70 Euro dafür aus, je nach Format, Doppel-CD oder dicke Box mit noch mehr Bonus. Im Geiste von und auf Basis verworfener „Boaphenia“-Songs sei das neue Material entstanden, inklusive Pias gesampelter Stimme, und diesen Hinweis hätte es eigentlich nicht gebraucht, es ist Phillip-Boa-Musik, sie ist großartig – aber längst nicht mehr so räudig wie die seines halb so alten Alter Egos. Abermals reichen sich bei Boa frech und grandios die Hand. Man möchte einen anderen Ruhrpottmusiker zitieren: Was soll das?
„Boaphenia“ ist das Hit-Album, mit dem der Dortmunder Boa seinen Status als kompromissloser Indiemusiker mit Händchen für Melodien und Starrsinn auch international festigte. Es ist das Album mit „Love On Sale“, der Single, die den Indie-Clubhit „Container Love“ inhaltlich fortsetzt und die auf MTV rotierte. Auf dem Album trommelten zwei Leute den Voodoo, Moses Pellberg und David Vella, wie zu klassischen Zeiten mit Der Rabe und The Voodoo, die ab „Philister“ 1985 bis „Helios“ 1991 die Voodooclub-Songs vorantrieben und voluminös mit Details ausfüllten. Der auch bei Killing Joke erprobte und später mit zu Boas Metal-Projekt Voodoocult herübergerettete Dave „Taif“ Ball spielte abermals den Bass. Gitarristen waren zahlreiche weitere beteiligt, Michael Hager blies die charakteristische Oboe in „Love On Sale“. Zwei Produzentenlegenden kamen ebenfalls zum Einsatz, Tony Visconti zudem mit Gitarre, Bass und seiner Stimme sowie Eroc, hier E.Roc, außerdem mit Synthies im Sinne von Conny Plank. Und natürlich veredelte Pia Lund das Album mit ihrem Gesang. „Boaphenia“ ist eine lebendige, mit räudigen Gitarren versetzte, tanzbare und schwelgerische Indierockpopplatte, auf der Boa sein erprobtes Konzept fortsetzt und weiterentwickelt.
Da setzt „The Porcelain Files“ indes nicht an: Die zehn neuen Songs sind behutsamer, gar nicht räudig, dafür lieblich, munter, vergleichsweise brav. Das ist nicht schlimm, die Songs sind ja trotzdem toll, fügen sich angenehm in den jüngeren Voodooclub-Kosmos ein, tragen jedoch nicht die exakte DNA von „Boaphenia“, jedenfalls nicht mehr oder weniger als sarenwama „Bleach Hosue“ oder „Earthly Powers“, die beiden jüngsten Alben des Voodooclubs von 2014 und 2018. Somit hätte er „The Procelain Files“ auch einfach als eigenständiges neues Album herausbringen können und es wäre trotzdem nicht wie ein Retro-Ding erschienen, sondern einfach wie etwas Neues von Boa. Was es ja ist, trotz aufpolierter Dachbodenfunde dazwischen.
Mit seiner Kreativität und seinen Songs verfährt der Herr Figgen ja von Anbeginn seiner musikalischen Tätigkeiten wahlweise verschwenderisch oder gleichgültig: Die beiden letztgenannten Alben gab es limitiert mit je einer Bonus-CD oder – noch schlimmer – mit Bonus-Tracks, die auf den Bonus-CDs wiederum nicht enthalten waren, dazwischen erschien in der ebenfalls limitierten Variante der Best-Of-Compilation „Blank Expression“ das Album „Fresco“ exklusiv, quasi analog zu „The Porcelain Files“ als Bonus zu etwas Altem. Und auch „Boaphenia“ liegt in unzähligen Versionen vor, zum Erst-Release etwa gab es die auf – hust – lediglich läppische 15.000 Exemplare limitierte Variante mit zwei Liedern mehr, die man im Laden indes häufiger fand als die Version, die jetzt als „Boaphenia 30“ remastert vorliegt; eigentlich drei, denn der reguläre Song „Master Of Demona“ fehlt hier kurioserweise. 2011 gab es „Boaphenia“ bereits remastert mit acht Bonus-Tracks, darunter die zwei ursprünglichen sowie zwei komplett neuen. Noch früher, nämlich 1994, erschien „Boaphenia“ mit zwei nirgendwo sonst erhältlichen Neueinspielungen als Bonus, „Kill Your Ideals“ und „Fine Art In Silver“. Die neue Box mit der dritten CD mit lauter Raritäten beinhaltet zwar „Master Of Demona“ sowie die Ur-Boni „Mary Rose“ und „Scandal“, aber von der 2011er-Version fehlen „Encore Screamer“ und „Freedom“. Dafür ist da der „Aphex Twin Mix“ von „Deep In Velvet“ drauf, das aber erst auf dem übernächsten Album enthalten ist, „She“ aus dem Jahr 1995; dazwischen erschien 1994 noch „God“. Noch kurioser: Der Box liegt eine 10“ bei mit ausgewählten Songs der zweiten Bonus-CD – und dem exklusiven „Poppy Mix“ von „One Lonely Summer“, dem einzigen Stück mit alten Pia-Aufnahmen von „The Porcelain Files“. Gottogott!
„The Procelain Files“ tut nicht weh, was Boa-Songs ansonsten schon gern mal taten, geht angenehm ins Ohr, bleibt dort nach kurzer Zeit wohlig eingenistet hängen und erfreut mit netten Songs. Die mild poppige Single „Bay Rum“ steht exemplarisch dafür; das auf dem Album folgende „Mercer“ erfüllt als einziges die „Boaphenia“-Anforderungen mit sägender Gitarre, nervösem Schlagzeug und tanzbarem Beat. Haupt-Mitmusiker und Ideenverwirklicher auf diesem Album war David Vella, der auf „Boaphenia“ als Trommler beteiligt war. Außer den beiden ist kaum jemand beteiligt, anders als bei „Boaphenia“ ist die Liste kurz – und es ist niemand außer Vella von vor 30 Jahren dabei.
Als Komplettist ist man es bei Boa gewohnt, verkauft und verraten zu werden. Diese Veröffentlichung bestätigt den Eindruck auf unschöne Weise, auch wenn die neuen Songs ganz schön sind. Wird mal wieder Zeit für eine Best-Of, hm?