Jörg Hiecke/René Seim (Hg) – Ich liebe Musik Vol. 2 – Windlustverlag 2020

Von Matthias Bosenick (30.03.2020)

Ein überwältigend bewegendes Buch. Die Vorgabe von Ideen- und Herausgeber Jörg Hiecke war, etwas zum Titelthema „Ich liebe Musik“ zu verfassen und dabei ein spezielles Lied hervorzuheben. 69 Beiträge sammelte er mit Verleger René Seim, die sie nun in diesem Kompendium bündeln. Da die beiden Dresdener sind und sich die Vielzahl der Beitragenden aus dem näheren Umfeld fanden, bekommt man berührende Geschichten über Musikfansein in der DDR, zur Wendezeit, nach dem Mauerfall – und sowieso von ganz vielen Momenten erzählt, in denen Musik eine wegweisende Wirkung auf die Verfasser hatte. Wehmut ist ein beherrschendes Gefühl, und Liebe, auch ungenannt, sowieso. Eine grandiose Idee, 21 Jahre nach dem ersten Mal immer noch, mit einem grandiosen Ergebnis.

Ich liebe Musik – so viele Bedeutungen kommen einem bei dieser Feststellung in den Sinn. So viele verschiedene finden sich auch in diesem Buch, und viele davon behandeln Erlebnisse und Ereignisse, die sich rund um die Thematik DDR drehen. Doch geht es hier nicht um Ostalgie mit Werbewirksamkeit, hier geht es um das persönliche Empfinden, um subjektive Wahrnehmung, um das Verhältnis seiner selbst zur Welt, und die bedeutete für viele der Autoren hier eben, sich als Musikfan den Bedingungen der DDR ausgesetzt gesehen zu haben. Dem im Westen Aufgewachsenen bietet sich hier ein Füllhorn an Lehrreichem und Informativem an, dem Ex-DDR-Bürger ein Bündel an Vergleichswerten für die eigene Biographie. Spannend sind sie alle, und das einzige Thema in diesem Buch stellen sie mitnichten dar: Auf Platz zwei stehen gescheiterte Beziehungen, auf Platz drei das Entdecken bestimmter Musikstücke an sich; nicht zuletzt allesamt Geschichten über sich selbst. Gerade diese Mischung macht die Lektüre gleichsam lehrreich wie vergnüglich.

Vielleicht liegt es am Alter der Beitragenden, aber das Erinnern spielt hier eine wesentliche Rolle bei der Identifikation mit Musik. Wie war das, unterwegs zu sein auf der Simson, nach der Trennung? Wie waren die Grenzübergänge nach Russland per Eisenbahn mit veränderter Spurweite? Wie schwierig waren Westplatten im Osten zu bekommen? Wie waren die ersten Nächte nach dem Wegfall des Eingesperrtseins auf DDR-Staatsboden? Was macht man mit 100 Mark Begrüßungsgeld? Für manche Lesende aus dem Westen sind dies bestimmt zum Teil unerzählte Geschichten, weil sie von den besser vermarktbaren Allgemeinplätzen abweichen, und somit weit informativer als jene. Insbesondere, da diese hier mit so viel Herzblut und Leidenschaft erzählt sind. Kann man sich alles nicht ausmalen, wenn man nicht dabei war. Und doch dringen hier weder Vergnatzung noch Verherrlichung aus den Zeilen; eine Emotionalität liegt mit anderer Ausrichtung verborgen, zumeist in Richtung der Musik, selbstredend, und mit dieser Leidenschaft für Musik dringen die anderen Aspekte in den Hintergrund, sie treten vielmehr als Begleiterscheinung auf, die bestimmte Rahmenbedingungen erläutern, mit denen man sich im Osten auseinanderzusetzen hatte. Wehmut liegt hier also im Erinnern an die Liebe zur Musik, nicht zum historischen Kontext.

Interessanterweise drehen sich die zwischenmenschlichen Liebesgeschichten in diesem Buch eher um verflossene solche. Im fortgeschrittenen Alter hat man seine Jugendliebe wohl längst vor dem Scheidungsrichter verloren und mit Folgebeziehungen nicht nur weniger dauerhaftes Glück, sondern womöglich auch weniger nachhaltige Emotionalität erlebt, sodass bestimmte Lieder melancholische Gefühle wecken, die mit frühen Liebschaften verknüpft sind. Eine andere Erklärung wäre, dass spätere Musik es bei Hörern mit angehäuften Lebensjahren einfach schwerer hat, nachhaltig hängenzubleiben. Aber Bezug zur Musik findet man ja nicht nur in Liebesbeziehungen, sondern auch in Freundschaften – und im Reisen, auch davon erzählen manche Autoren.

Das dritte große Themenfeld nun deckt den persönlichen Bezug zu bestimmten Musikstücken ab. Die Auswahl dieser und aller anderer Songs ist mindestens so lehrreich, wie es die Geschichten sind, und es finden sich sehr wohl Stücke auch aus jüngerer Zeit darunter, nicht zwingend von jüngeren Autoren ausgewählt. Die Tracklist reicht von David Bowie, Sting, Udo Lindenberg, Pink Floyd und John Lennon über Alex Harvey, The B-52’s, Haus Arafna, Madrugada, The Damned und Tom Waits bis hin zu Tschaikowski, The Holy Modal Runners, Fatoumata Diawara, Steve Kindwald und das Erich-Weinert-Ensemble, also von allgemein bekannte Songs über Indiehits bis hin zu Spezialwissen. Fast gar nicht vertreten sind hier übrigens DDR-Künstler – bedauerlicherweise.

Um den Horizont nun so weit wie möglich abzustecken, finden sich auch einige auf Englisch verfasste Texte darunter, mit Erfahrungen aus anderen Teilen der Welt. Was die Beiträge wiederum eint, ist, dass jeder einen anderen Stil hat: So vielfältig wie die Liebe zur Musik ist der Ausdruck dieser Emotion. Nach befragten Amateruen, die sich eigens für dieses Buch einfach mal an den PC klemmen, wirkt dieses Kompendium nicht, obgleich sich neben Musikern und Sängern (Marina Chekalina, Don Rogall, Florence Joelle), Künstlern (Peggy Berger, Anne Zückert), DJs (DJ Cramér alias Verleger René Seim), Schauspielern (Friederieke Tiefenbacher, Torsten Ranft), Dresdener Szenegrößen sowie Schriftstellern und Peoten (Matthias Hufnagl, Roman Israel) auch zahlreiche Beitragende darunter finden, die nicht regelmäßig Texte verfassen; man nimmt dies nicht wahr, denn etwas Zweites eint die Ergebnisse: Sie sprühen vor Leidenschaft. Die Textformen sind zudem so variantenreich wie die Inhalte, von Essays über Kurzgeschichten, Gedichte und Sottisen bis Aufsätze. Selbst wenn experimentelle Texte darunter sind, deren Sinn sich nicht sofort oder gar nicht erschließt, ist doch der Zündfunken dafür derselbe wie für alle anderen. Zu diesen Anderen zählen überdies auch Skizzen, Gemälde und Fotos, die einige als ihren Beitrag einreichten.

War der erste Teil noch entlang der Wörter „Ich“, „Liebe“ und „Musik“ dreigeteilt, vermisste der Herausgeber beim zweiten den Schwerpunkt „Liebe“ und strukturierte dieses Buch daher wie eine Mixkassette, nach A- und B-Seite mit einem schlüssig kuratierten Ablauf. Damit behandelt Hiecke sämtliche Autoren gleichberechtigt, niemand wird nach vermeintlichem Berühmtheitsfaktor vorrangig behandelt. Und übrigens: Von Beitragenden dieses Mal waren ganze 13 auch schon beim ersten Teil von der Partie – darunter auch der glückliche Schreiber dieser Zeilen, erneut mit Guido Dörheide. Von wegen, Jörg: Das ganze Buch ist Liebe!

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