Von Matthias Bosenick (12.04.2021)
Wenn man schon nicht auf Tour gehen kann, dann plündert man eben sein Archiv, und was die EBM-Erfinder Front 242 so an Livemitschnitten aus dem „Tyranny“-Jahr 1991 zutage fördern, ist klanglich bombastisch und als historisches Dokument ohnehin bemerkenswert. Das Label Alfa Matrix veröffentlicht einen Mitschnitt aus Europa als Doppel-LP und einen aus den USA als CD, dazu zwei noch ältere Gigs als Downloads. Und 242-Soundtüftler Daniel Bressanutti nimmt sich zum zweiten Mal alte Tracks vor und verpasst ihnen ein zeitgemäßes Outfit; bei „66.6“ hilft dem Brüsseler sein Antwerpener Kumpel Elko Blijweert.
Party, Party, fuckin‘ Party! Vom ersten Ton an zünden die weltberühmten Vertreter der elektronischen Körpermusik die schweißtreibende Tanzrakete. Äh. So in der Art. 1991 griffen die Belgier auf fünf Alben zurück, in denen sie aus einer tanzbaren, aber experimentellen Sample-Avantgarde ein eigenes Genre formten. Maßgeblich bedienen sich die vier natürlich beim zu diesem Zeitpunkt aktuellsten Album „Tyranny >For You<“ und bei den bis heute währenden Clubhits des Vorgängers „Front By Front“. Hört man sich die Alben der Achtziger heute nochmal in Ruhe zu Hause an, stellt man fest, dass die stampfenden Synthiehymnen mehr sind als nur das: Kaum zwei Takte bestehen aus identischen Drum- und Percussioneffekten. Anders als bei Computerproduktionen verlassen sich Daniel Bressanutti und Patrick Codenys also nicht allein auf wiederholbare Patterns, sondern bauen in die Stücke ein, was sie können, und sie können viel. Dazu kommt die kompositorische Finesse, mit der Front 242 zwar auf effektive Tanzbarkeit bauen, diese aber mit melodischen und harmonischen Passagen zugänglich machen.
Live kommt diese Detailversessenheit natürlich nicht vordergründig zum Tragen, hier steht die Party im Fokus. Da guckten sich Scooter und The Prodigy einiges ab, wenn die beiden Stimmzampanos Jean-Luc de Meyer und Richard „23“ Jonckheere ihre Schlagworte über die Elektrogewitter skandierten. So düster und martialisch die EBM für Radiohörer auch wirken mag, ist doch unbestritten, wie viel Humor Front 242 auch transportieren: „Im Rhythmus bleiben“ und „Welcome To Paradise“ sind nun mal witzig, mit ihren Samples und Punchlines. Pray, my friend, pray. Ach ja, „Headhunter“ ist natürlich auch dabei, der größte Clubhit der Band, quasi das Pendant zum Siebziger-Classic-Rock, stumpf stampfend im Midtempo ideal zum Mitklatschen; es fehlt nur die Kuhglocke. Der Rest ist besser!
Der aufmerksame Betrachter erkennt, dass mit „Slo-Mo“ und „Punish Your Machine“ zwei Songs auf beiden Alben enthalten sind, zu denen es keine Originale zu geben scheint. Letzterer verwirrte bereits auf fast allen älteren Livealben die Fans. Bei beiden Tracks handelt es sich um Remixe des Stücks „Tragedy >For You<“, der zu dem Zeitpunkt aktuellen Single entnommen und live zu eigenen Stücken aufgewertet. Beide Tracks sind auf beiden vorliegenden Veröffentlichungen enthalten; nicht die einzige Überschneidung. „91 (Live in EU)“ gibt es als schick aufgemachte transparente Doppel-LP im Schuber, „USA 91“ als Digipak-CD, beide in einem höchst edlen Material.
Und weil die Archive groß sind, bietet Alfa Matrix zwei weitere Konzerte als Download an: „Hamburg 87 – Official Version“ und „Ancienne Belgique 89 – Front By Front“, wie „USA 91“ und „91 (Live In EU)“ knackigst gemastert, als wären die Mitschnitte frisch von heute. Wobei die 1991er-Mitschnitte keine durchgehenden Konzerte darstellen, sondern Zusammenstellungen. Fürs Mastering war Bandgründer Daniel Bressanutti zuständig, und der ist ohnehin so kreativ wie kaum ein weiterer 242-Veteran, denn zeitgleich präsentiert er anlässlich seines 66. Geburtstags mit „66.6“ die Fortsetzung seines Remix-Projektes „Six+Six“ aus dem vergangenen Jahr, dieses Mal mit Unterstützung von Elko Blijweert, einem Sidekick von Ex-dEUS-Musiker Rudy Trouvé, mit dem Daniel B. und Codenys vor fast 20 Jahren bereits das Projekt Male Or Female? betrieben.
Bei allem, was Bressanutti nicht erst seit dem letzten offiziellen Studioalbum von Front 242, „P.U.L.S.E.“ aus dem Jahr 2003, veranstaltet, wird eigentlich klar, warum es keine neuen Front-Studioalben mehr gibt: Die Akzeptanz der EBM-Puristen wäre für das, was dabei herauskäme, gar nicht gegeben. Massentauglich sind Front 242 nur noch live, im Studio schweben sie in anderen Sphären. Gefälligkeit ist nicht Bressanuttis Ansinnen, Erwartungserfüllung ebensowenig. Von den vier enthaltenen Tracks ist einer zudem ein Neuer, „The End Of The End“ gibt es hier exklusiv, und als Front-242-Track hätte er wohl die Fans enttäuscht, die Bearbeitungen von „Welcome To Paradise“, „Funkahdafi“ und „Nomenklatura“ womöglich ebenfalls. Dabei sind die Stücke jetzt überwiegend weit weniger experimentell geraten als Bressanuttis sonstiges Werk: Wuchtige Drums, treibende und gniedelnde Gitarren, energetische Elektroeffekte und epische Tracklängen laden zum Tanzen ein, tragen aber nur noch Rudimente der Originale. Nur in „The End Of The End“ fiept und flirrt sich der Tüftler wieder wie gewohnt aus; so klängen Front 242 wohl heute.
An Live-Alben ist die Discographie von Front 242 nicht eben arm. Seit 1994 erschienen „Live Code“, „Re:Boot Live“, „Moments … 1“, „Transmission SE91“, „Live Cold Waves III“, „Catch The Men“, „Moments In Budapest“ sowie diverse VHS-Kassetten und eben jetzt die neuen vier. Auch Remix-Veröffentlichungen sind nicht selten, abgesehen von EPs wie „Mixed By Fear“ und „Angels Versus Animals“ sowie den unzähligen Maxis und Compilations mit Neuversionen von „Headhunter 2000“ ist die „Mut@ge.Mix@ge“ das Aushängeschild. Nun also unter anderem Projektnamen auch noch „Six+Six“ und „66.6“. Don’t tell the devil!