Von Matthias Bosenick (26.03.2024)
Hier greift selbst die Kategorie Avantgarde viel zu kurz. Sicherlich machen Sleepytime Gorilla Museum aus Oakland in Kalifornien Rockmusik, irgendwo innendrin, aber drumherum passiert so viel experimentelles Zeug, dass es unbedarfte Hörende gar überfordern dürfte. Klassische Songstrukturen jedenfalls findet man selbst unter Riffs und Rock nicht, die Band bricht alles auf, verdreht es, fügt Absonderliches hinzu und bleibt dabei mehr als nur genießbar – das vierte Album „Of The Last Human Being“, das nun nach 17 Jahren Schein-Pause vorliegt, bietet eine eigenwillige Kunstmusik, die weit aus allen Schubladen herausragt und große Freude bereitet. Es gibt auch mal gute Comebacks.
Wie hat man allein diese Art Gesang vermisst! Nils Frykdahl singt eindringlich, mit Tremolo, fordernd, klagend, dominiert beinahe den Sound, und ab und zu beginnt er böse zu growlen, zu grollen, zu grunzen. Er teilt sich das Mikro mit Carla Kihlstedt, und beide zusammen generieren einen krassen Druck allein mit dem Gesang. Beide bedienen zudem haufenweise Instrumente, und mit ihnen auf diesem Album Matthias Bossi, Michael Iago Mellender und Dan Rathbun. Man kann gar nicht aufzählen, was die fünf hier alles anwenden, zum Teil auch noch selbstgebaut: neben Gitarre, Bass, Schlagzeug sind Piano, Saxophon, Cello, Orgel und Trompete noch relativ gewöhnlich, es reicht darüber hinaus bis hin eher zu rockfernen Gerätschaften wie die Nyckelharpa, den tibetischen Schellen Tingsha, der Laute, dem Blasinstrument Euphonium sowie Merkwürdigkeiten wie The Sledge Hammer Dulcimer und Mülltonnendeckel oder – Bauchspeicheldrüse, Titanic, Walhalla (dabei dürfte es sich um das Wikingerboot handeln), Rad, Vatikan oder einfach nur Ding. Und ja, das meiste davon hört man auch wirklich heraus, außer vielleicht die zuletzt aufgezählten … Dinge.
Heißt also erstmal: Rock’n’Roll, irgendwie. Doch die Rockmusik, die bisweilen sogar dem Metal nahekommt, bekommt hier eine ungewohnte Transparenz, eine Durchlässigkeit, als erhielte man die Möglichkeit, um die einzelnen Elemente eines Stücks Rockmusik herumgehen und sie von allen Seiten betrachten zu können, während der Song auf die Zwölf geht. Das zudem ja nie auf gewohnt strukturierte Weise, zudem bauen SGM immerfort komplett eigensinnige Passagen und ganze Stücke ein, mit Blasmusik, Streichern, beklemmenden Minimal-Spoken-Word-Räumen, entrückten Ambient-Flächen, am anderen Ende der Skala finden sich treibende Industrial-Trance-Tracks (wie „S.P.Q.R.“, das Cover von This Heat), fröhlich-beängstigende Kirmes-Stücke wie von Tom Waits (das Quasi-Titellied „We Must Know More“ etwa), unchilligen Offbeat und komplexe Kompositionen mit ordentlich Terror. Bei alledem wundert man sich, wie geil man das finden kann. Und wie wenig es so klingt, als lägen zwischen „Of The Last Human Being“ und dem Vorgänger „In Glorious Times“ wirklich 17 Jahre, es knüpft nahtlos an.
Im Jahre 2001 traten Sleepytime Gorilla Museum mit „Grand Opening And Closing“ drei Jahre nach Bandgründung auf den Plan und sprengten damit schon sämtliche Genregrenzen. Live müssen sie noch viel ausufernder und kompromissloser sein, ein schwer erhältliches Dokument mit dem unmissverständlichen Titel „Live“ dokumentierte dies 2003. Ein Jahr später erschien mit „Of Natural Histroy“ das zweite Studioalbum und 2007 eben mit „In Glorious Times“ das bis dato letzte, dazwischen 2005 die DVD „The Face“. Klingt nach schnell zusammengesammelt, ist es aber nicht: Die Bandmitglieder toben sich auf so vielen Nebenschauplätzen aus, dass man den Überblick gar nicht behalten kann. Wichtig sind: The Book Of Knots (mit Kihlstedt und Bossi), Free Salamander Exhibit (die Pausenform von SGM mit Frykdahl, Rathun und Mellender sowie Ex-SGM-Musiker David Shamrock), Faun Fables (mit Frykdahl), Skeleton Key (mit Bossi, seinerzeit Kumpels von Les Claypool), Idiot Flesh (mit Frykdahl und Rathbun), Charming Hostess (mit Kihlstedt, Frykdahl und Rathbun), Cosa Brava (mit Kihlstedt und Bossi sowie auch Fred Frith) sowie Species Being (mit Ex-SGM-Musiker Frank Grau), Rabbit Rabbit (Kihlstedt und Bossi), Ridiculon (Bossi), Japonize Elephants (Mellender), Thinking Plague (Shamrock) sowie die Projekte von Ex-SGM-Musiker Moe Staiano wie Rova: Orkestrova (mit Kihlstedt und auch Fred Frith), Moe!kestra!, Office Chairs, Mute Socialite, Vacuum Tree Head oder Surplus 1980 und ganz besonders die sonstigen Beteiligungen von Kihlstedt wie 2 Foot Yard, Ben Goldberg Quintet, Carnival Skin, Crater, Folie À Quatre, Insect And Western Party, Masaoka Orchestra (auch mit Trevor Dunn), Minamo, Redressers, Rova Channeling Coltrane (auch mit Fred Frith) und Tin Hat Trio, und wenn man in diesen ganzen Seitenarmen weiterguckt, braucht man einen neuen Raum allein für die Tonträger aus diesem Stammbaum.
So vielseitig Sleepytime Gorilla Museum sind, so kryptisch bleiben sie – textlich und in vielen Äußerungen, das ist dann Teil des Gesamtkonzeptes. Man muss sich erheblich einarbeiten, etwa in die John Kane Society, auf deren Schultern das Crowdfunding zu „Of The Last Human Being“ stattfand und das Marketing läuft. Man könnte viele Mythen auch gepflegt als durchgescheppert betrachten, etwa die über die Gründung des Museums 1916 oder dessen Namen und Zweck, und das soll auch so sein. Am Genuss der Musik ändert das nichts: „Of The Last Human Being“ widerlegt den Eindruck, Comebacks seien einfallslos und fänden lediglich des Geldes wegen statt.
Das Doppel-Vinyl gibt’s in diversen Farben, wie es heute üblich ist, und lediglich über den Shop in den USA.