Von Matthias Bosenick (22.11.2023)
Geil, geht gleich los mit einem Bass-E-Gitarre-Groove, wie man ihn sich mitreißender im psychedelischen Stoner-Rock-Bereich nicht ausmalen kann: Mit „Right Place, Wrong Time“ holen Anuseye aus Bari den Kiffermuckefan nicht nur da ab, wo er steht, sondern bringen ihn auch da hin, wo er hingehört: in erweiterte Zustände, aber mit Feuer nicht nur am Ende des Joints, sondern auch unterm Hintern. Es braucht vier Songs, um erstmals in zugedröhnt-taumelige Sphären abzudriften, und fünf, um sich mal vor dem Kühlschrank herumlungernd auszuruhen, ansonsten mostet das Quartett meistens mächtig vorwärts. Auch wenn Anuseye dem Genre treu dienlich sind, hört man sie immer heraus; liege es an Claudio Colaiannis zurückgelehntem Gesang, an den ungewöhnlichen Akkordfolgen oder an den immerhin noch dezent eingestreuten Experimenten. Das Vinyl ist türkis, die drei fehlenden Songs der Streaming-Variante dieser wechselvollen Reise um die Welt gibt’s im Download obendrauf.
„Odessa“ eröffnet diese Weltreise, innere wie äußere, so sieht es das Konzept vor: Die Band bricht los, es groovt sofort, zwischendurch gibt’s satte Drumbreaks, tieftönende Riffs, raumgreifende melodische Soli, rotierenden Bass, der Song hat ein Irrsinnstempo und bricht alle Nacken. Hat sich was mit chillig abhängen. Auch wenn „Sagres“ danach das Tempo herunterfährt, betrifft dies nicht das Energielevel, die Band bleibt obenauf und reitet auf diesem nervösen Galopp mit ausdrücklich nachdrücklichem Gesang voran. Die Menschheitskritik „Churchofchrist“ drischt mit der Snare auf jedem Beat voran, ein knappen Basssolo und eines mit der Gitarre durch den Wahwah inklusive. Erst „Bratislava“ bremst den Gaul und dudelt bekifft vor sich hin, frei von Schlagzeug, aber mit bedrohlichem Murmeln, und „Medellín“ beendet die A-Seite mit einem siebenminütigen heruntergedrosselten, aber kraftvollen spacigen Blues-Walzer.
Auf der B-Seite startet man in „Vancouver“ gewohnt fett groovend, Anuseye kombinieren hier melodiereich ihre eigene Riffgeschichte mit der von Black Sabbath, nur nicht so apokalyptisch. In „Koyto“ bleibt die Band zunächst zurückhaltend, melancholisch, in sich gekehrt und startet den Nachbrenner erst kurz vor der Abreise nach „Singapore“. Diese Stadt muss inzwischen im Weltall liegen, denn der Song ist der spacigste bisher, mit verzerrter Dudelgitarre und sphärischem Gesang. Auch dieser Song entwickelt sich im Verlauf zu einem energetischen Biest. Den Abschluss der Vinyl-Variante bildet die muntere Uptempo-Nummer „Stockholm“, die im Vergleich beinahe als poppig durchgehen könnte, wenngleich der unmelodische, hypnotische Gesang eher an den von Michael Gira erinnert und die Gitarren abermals erst nach einiger Spielzeit ihre Wucht entfalten, dem Popappeal aber keinen Abbruch tun.
Es folgen die digitalen Bonus-Etappen: „Addis Abeba“ ist ein bassbasiertes groovendes Instrumental mit behutsamen Drums, „Santiago“ ist ein zurückgenommener, enorm cooler Wüstenblues, der sich selbstvergessen um sich dreht, und „Berlin“ ein wunderschöner kontemplativer instrumentaler Rauswerfer im Dreivierteltakt.
„Right Place, Wrong Time“ ist eine Weltreise, die ihre Versprechen einhält: Man bekommt eine Menge geboten, und wenn sich Anuseye schon auf Stoner und Psychedelic Rock als Transportmittel berufen, dann aber in allen Ausprägungen, das Animationsprogramm dieser Reise kann sich hören lassen. Was fehlt im Vergleich zu den drei vorherigen Alben, sind die Extreme, die unerwarteten Experimente, mit denen sie ihre Hörerschaft gern mal auf die Probe stellten und die definitiv einen Kontrast zum Restprogramm darstellten. So einen wunderbar durchgeknallt besoffenen Jauler wie „S.S. Abyss“ auf dem zweiten Album „Essay On A Drunken Cloud“ wagen Anuseye hier nicht mehr, dafür aber den Schritt auf die größere Weltbühne. Und das auch noch mit dem ersten Teil eines zweiteiligen Konzeptes, das eine Reise in innere und äußere Welten abbildet; es geht um die Wahrnehmung von Raum und Zeit, um Erkundungen des Bewusstseins der vier Musiker, während derer Emotionen, Gedanken und Inspirationen geweckt werden. Daher wählten sie – bis auf „Churchofchrist“, das ist eine Art Sekte, es sei denn, Christchurch sei gemeint – Ortsnamen für die Songtitel, weil man als Hörender mit der Band auf eine Reise gehen kann – oder anglifiziert: auf einen Trip, selbstredend.
Die Band Anuseye ging um 2010 herum aus der mit Kultstatus behafteten Psychedelic-Rock-Band That’s All Folks! hervor, Sänger Claudio Colaianni und Gitarrist Luca Stero wagten diesen Neustart. Colaianni betrieb zwischenzeitig noch das Projekt Colt.38, Stero war schon beim zweiten Album von Anuseye nicht mehr dabei. Heute spielen neben Colaianni noch Schlagzeuger Cosimo Armenio (neu), Bassist Giovanni D’Elia (von Karma In Auge, auf „3:33 333“ bereits dabei) und Gitarrist und Keyboarder Stefano Pomponio (einst bei Natron, ebenfalls erst seit dem vorletzten Album involviert) mit. Der Band treu geblieben ist Davide Pansolin, der sie einst auf seinem inzwischen leider stillgelegten Label Vincebus Eruptum unter seine Fittiche nahm: Er besorgt hier das Design, die grafische Vorlage stammt wie bei „3:33 333“ von Boris Pratamarov aus Bulgarien.
Es erstaunt, wie treu sich Anuseye im Sound grundsätzlich bleiben, trotz wechselnder Mitspielender. Die Fortsetzung dieser Reise ist jedenfalls mit Spannung zu erwarten: Wohin geht es dieses Mal? Jupiter, Ribosom, Wolfsburg (einen Auftritt dort verhinderte Corona 2020, es wäre also an der Zeit) oder einfach zurück nach Hause, nach Bari? Oder ins Auge des Arsches? Also irgendwo an den Po?