Von Matthias
Bosenick (14.01.2020)
Kann man mal machen: mal eben sieben
Stunden neue Musik am Stück veröffentlichen. Wobei, so richtig
korrekt ist das nicht, sammeln Underworld doch auf „Drift Series 1“
diverse EPs, die sie das ganze Jahr über schon digital unter die
Leute warfen. Und wie das so ist bei einem solchen Output, klingen
nicht alle Tracks wie voll ausformuliert: Da hätten sie die Menge
der Ideen auf weniger Stücke verteilen sollen. Für den schmalen
Geldbeutel gibt es ein Konzentrat als Ein-CD-„Sampler Edition“,
die man in Kenntnis sämtlicher Tracks für sich vermutlich latent
anders zusammengestellt hätte. Es bleibt ein rekordverdächtiges
Mammutwerk (nur verdächtig, Autechre etwa veröffentlichten mit den
„NTS Sessions“ etwas mehr auf einen Schlag) mit
neunzigerbezogenen Technotracks und diversen, auch jazzigen
Spielereien abseits des Weges.
Treibender Techno, behutsam getupfte Bassdrums, Jazz, Billo-Bummbumm,
Saxophon, House, Experimentalelektro, Ambient: Die fünf „Drift
EPs“ und die Kollaborations-CD mit dem australischen Jazzprojekt
The Necks bündeln eine Bandbreite im Underworld-Sound, wie sie das
Duo in der Opulenz zuvor nie wagte. Ja, Carl Hyde und Rick Smith
können viel bis alles – nur bleiben dabei bisweilen die
durchgehend packenden Stücke auf der Strecke. Sie hätten sich
besser auf weniger Tracks bei gleichbleibender Ideenmenge
konzentrieren sollen, dann wären mehr spannende Ergebnisse dabei
herausgekommen. Aber wer weiß, was geschieht, wenn man die EPs nach
Art der Flaming Lips allesamt gleichzeitig abspielt, ob dabei nicht
genau die vielschichtigen Stücke herauskommen, die man von
Underworld ansonsten so kennt.
Diese dicke Box bietet nun
dennoch haufenweise interessantes Zeug. Wie seit dem Stilwechsel von
der Rockpopband zum Technoprojekt Anfang der Neunziger gewohnt,
trippen die verbliebenen Underworld-Mitglieder Hyde und Smith gern
auf epischen Plucker-und-Bass-Tracks dahin, zu denen die vertraute
Stimme säuselt, schwadroniert, sprechsingt. Sobald sie das Tempo
anziehen, wummern auch wieder die Brutal-House-Tracks, und sobald sie
das Tempo drosseln, wird es angenehm chillig. Alles drin in „Drift“
also. Nur eben nicht so fein ausformuliert, eher wie eine
Skizzensammlung anmutend, denn sind die verschiedenen Aus- und
Stilrichtungen nicht etwa nach EPs sortiert, sondern auch innerhalb
der Veröffentlichungen scheinbar willkürlich
aneinandergereiht.
Hilfe bekamen Underworld hier von neuen
und vertrauten Verbündeten: Hyde brachte einmal mehr seine Familie
mit ein, für Saxophon, Flöte und Cello verpflichtete das Duo
Musiker der beiden englischen Postrock-Projekte Nervous Conditions
und Black Country, New Road. Der Techno-DJ Ø [Phase] wirkt an
ausgewählten Tracks mit und mit dem seit über 30 Jahren aktiven
Freejazz-Trio The Necks spielten Underworld ein chilliges,
spannendes, experimentelles komplettes Album ein, das auf drei
überlangen Tracks Ideen aus der „Drift“-Serie umdeutet. Kein
Wunder, dass die Phrase „Silent Way“ bisweilen in der Tracklist
erscheint: Underworld entdecken Miles Davis.
Nun sammelt
die Box zwar die zwischen Ende 2018 und Ende 2019 veröffentlichten
Online-EPs des „Drift“-Projektes – aber trotz identischer
EP-Titel in anderen Versionen und Zusammenstellungen, wie frech, und
dazu noch einige neue Tracks, die es zuvor auf den EPs nicht gab, von
denen allerdings auch keiner auf dem Sampler zu finden ist. Zudem
sind wiederum nicht alle Tracks aus dieser Download-Zeit, die sich an
das „Riverrun“-Projekt von Underworld aus dem Jahre 2005 anlehnt,
auch wirklich enthalten; der „Manchester Street Poem Installation
Score“ etwa fehlt bis auf den Song „Doris“ komplett, dazu rund
20 einzelne Tracks, die Underworld immer mal wieder frei herausgaben.
Teil des „Drift“-Projektes sind außerdem visualisierte Versionen
der Tracks, erstellt natürlich wieder von Tomato, dem
Design-Kollektiv, dem auch Underworld angehören; eine BluRay mit den
Videos stellt die achte Disk in dieser Box dar.
Die
Verteilung der Disks in der Box mit den zwei Buchbeilagen:
CD 1:
EP1 Dust
CD 2: EP2 Atom
CD 3: EP3 Heart
CD 4: EP4
Space
CD 5: EP5 Game
CD 6: Underworld And The Necks
CD
7: Sampler Edition (auch separat erhältlich und als Teil der Box
redundant)
BluRay: Series 1 Films
Auf der „Sampler
Edition“ finden sich definitiv einige der catchyesten Stücke
dieser Serie, doch lässt die einstündige Zusammenstellungen auch
Lücken. Die Tracksliste und die Quellen:
01
Appleshine (von EP2 Atom)
02 This Must Be Drum Street (von EP3
Heart)
03 Listen To Their No (von EP4 Space)
04 Border
Country (von EP4 Space, mit Ø [Phase])
05 Mile Bush Pride (von
EP5 Game)
06 Schiphol Test (von EP4 Space)
07 Brilliant Yes
That Would Be (von EP1 Dust)
08 S T A R (Rebel Tech)
(Originalversion auf EP5 Game)
09 Imagine A Box (von EP5
Game)
10 Custard Speedtalk (von EP3 Heart)