Was meine Freundin gerne sieht – die Serienkolumne: Das Filmmusical „Annette“ von Leos Carax

Von Onkel Rosebud

Braucht die Welt ein depressives Musical über Liebe, Tod, Selbstzweifel und Wahnsinn, in dem eine Marionette aus Holz mit abstehenden Ohren die Titelrolle spielt und fast jedes Wort gesungen wird? Meine Freundin findet, ja, das braucht‘s. Zumal unser Bester, Adam Driver (wir lieben ihn wegen seiner Auftritte in der Lena-Dunham-Serie „Girls“ und den Filmen „Frances Ha“ sowie „Paterson“ und nicht, weil er Ben Solo/Kylo Ren in dem verkackten Teil des Star Wars Merchandise gespielt hat) neben Marion Cotillard (die authentischste Édith Piaf seit ihr selbst in „La vie en rose“) nebst Simon Helberg (Howard „Fruchtzwerg fliegt ins All“ Wolowitz aus „The Big Bang Theory“) die Hauptrollen spielen. Dass Musik und Text des Films von den Brüdern Ron und Russell Mael der – meiner bescheidenen Meinung nach – legendären, aber völlig unterschätzten Glamrock/Art-Pop/Avantgarde-Band „Sparks“ stammen, war ihr egal, aber der Name des Regisseurs und Drehbuchautors von „Annette“, Leos Carax, ließ sie aufhorchen. Da war doch was? Genau, „Die Liebenden von Pont-Neuf“, ein Film aus dem Jahr 1991 mit der Grande Dame de Schauspiél Juliette Binoche. Das Meisterwerk des damals einunddreißigjährigen Kontroverslings mit der Szene für die Ewigkeit, als Michèle und Alex minutenlang schnellfeuerlachend über die älteste Brücke von Paris tanztoben.

Die ersten zwanzig Minuten von „Annette“ (2021) sind Kino total. In der Eingangsszene wird der Zuschauer per Anweisung aus dem Off aufgefordert, bis zum Ende des Dramas weder zu furzen noch zu atmen. Dann sieht man Carax mit Tochter im Kontrollraum eines Studios. Die Band stöpselt ihre Instrumente ein. Elektrischer Krach, ein paar Testakkorde. „So may we start?“, lautet die erste Frage des Regisseurs, die über eine aufsteigende kleine Septime zum Tune wird. Musiker, Hauptdarsteller, Crew formieren sich und marschieren aus dem Studio auf die Straße, während sie im Chor das zu kleine Budget beklagen, aber dennoch eine Story ohne Tabus versprechen. Schließlich mündet der Start der Filmoper in Henry McHenrys (Adam Driver) erster Auftritt als Comedy-Star.

Annette ist die Tochter von Henry und Ann (Marion Cotillard). Er Comedian, sie Opernsängerin. Er tut, was er tut, um die Wahrheit sagen zu können, ohne dafür getötet zu werden. Sie stirbt jeden Abend vollendet artifiziell auf der Bühne, um ihr Publikum zu retten. Juliane Liebert (15.12.2021, Süddeutsche Zeitung) hat es sehr treffend auf den Punkt gebracht: „Es ist, als würde man zugleich von außen und innen in die Fiktion eintreten. In ein großes Spiel und bitteren Ernst, präsentiert als Happening.“ Es kommt, wie es kommen muss. Auf das Traumpaar fallen Schatten. Ann erlebt einen verstörenden, aber auch ziemlich komischen „Me Too“-Albtraum mit ihrem Mann auf der Anklagebank. Henry verliert derweil die Fähigkeit, lustig zu sein. Er vergrault sein Publikum mit geschmacklosen Fantasien. Schließlich brechen die beiden mit ihrem Pinocchio zu einer Reise auf, die in das Verderben führt. Annette wird in der zweiten Hälfte der Handlung, die nicht ganz frei von Längen ist, ein Mädchen aus Fleisch und Blut. Nun ist Schluss mit den Spoilern.

Die Karriere des verschrobenen Arthouse-Stars Leos Carax erinnert ein wenig an die von Stanley Kubrick – nur wenige Filme, oft mit jahrelanger Pause, aber dann kommt auch immer etwas Besonderes dabei heraus Er sucht das Lächerliche und Groteske, um dem eine Schönheit und Liebe zu entlocken. Wer will schon perfekte Filme? Wir brauchen bewohnbare Träume. Einmal pro Jahrzehnt baut Leos Carax in harter Arbeit einen neuen für uns auf.

Onkel Rosebud