Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Die Beschriftung der Menschen

Von Onkel Rosebud / Jörg Mewes

Mit Essen spielt man nicht. Mit Feuer auch nicht, denn es bestünde die Möglichkeit, sich nicht nur die Finger zu verbrennen. Solcherlei Küchen- und Lebensratschläge dürften jeden Heranwachsenden in den frühen Jahren seines idealerweise unbeschwert bewerkstelligten Daseins begleitet haben. Kürzlich war es wieder so weit. Eine Band, deren Name nicht genannt werden darf, gastierte in unserer Stadt, um ungestraft der akustischen Umweltverschmutzung zu frönen. Wohnortsbedingt war es mir nicht vergönnt, um den Auftrittsort einen angemessen großen Bogen zu machen. Das zuströmende Publikum versprühte den Charme der sonst zweiwöchig zu ebendiesem Veranstaltungsort Pilgernden, denen ihre fragwürdige Auffassung von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit im Sinne von Vereinheitlichung erstrebenswert erscheint. Der urinfarbende Anteil der visuellen Peinigung entfiel jedoch – die Meute floss als schwarze Brühe daher.

Der große Veranstaltungsort war zu klein, das Ganze an einem Abend über die Bühne zu bringen. Die hohe Anzahl der Willigen verdeutlichte den Zustand der Gesellschaft. Was keine Überraschung war, kennt man doch die sich in Nuancen ändernden, aber sich stetig wiederholenden besorgniserregenden Wahlergebnisse im Bundesland. Auffällig beim resignierten Beobachten der Prozession war vor allem die völlige Missachtung des 1. Hauptsatzes aus dem „Handbuch zum Besuch einer Konzertveranstaltung“: Trage niemals ein Band-T-Shirt der auftretenden Künstler. Niemals! Aber so wenig ernst die Band ihr Publikum zu nehmen scheint, so wenig bereiteten sich die Gäste offensichtlich auf den Abend durch eine Achtung des Bekleidungscodexes vor.

Schlimmer als die Ignoranz von Benimmregeln war jedoch das zu Lesende. Die Lektüre der Kleidung gibt mitunter besorgniserregenden Aufschluss über das Wesen des in der Textilie Lebenden. „Manche führen, manche folgen“. Manche führen sich damit selbst vor, manche folgen dem Wahn, Führer sein zu wollen. Ebenso befremdlich ist die Haltung einer Musikformation, die mit solchen Slogans der Provokation willen spielt und sich vermutlich in die Hosen schifft vor lauter Spaß. Wat ham wa wieda jelacht.

Es dauerte auch nicht lange, bis nach dem „Führer-Wir folgen-Bild“ fast folgerichtig ein Shirt über einer schwergewichtigen Frau angewatschelt kam, welches der gleiche stilisierte Adler mit ausgebreiteten Schwingen zierte, der in den schweren Jahren zwischen 33 und 45 auf die Uniform von echten deutschen Männern gepinnt war, die dem Führer zu folgen hatten. Statt Kreuz mit Haken (oder in der Variante Totenkopf auf den schwarzen Uniformen der Spezialabteilung „besonders treue und ehrhafte Männer“) hatte der Reichsgreif das Bandlogo in seinen widerwärtigen Klauen. What? Häääh? Why? Lustig? Soll das Punk sein? Haben Sekt und Tequila den Ideengebern Verstand und Haltung ausgespült? Ist die zelebrierte Pyrotechnomanie der Band nur Ausdruck für das Spiel mit dem Feuer? Sind sie sicher, die gerufenen Geistlosen wieder loszuwerden? Wehe denen wächst der Wille zur Tat! Ist die billige Provokation nur ein besonders simples Mittel, die Gier nach dem schnellen Zaster zu befriedigen? Funktioniert ja immer. Da sind sie ja nicht alleine. Welcher Sinn steckt sonst in den musikbranchenspezifischen Varianten von Grenzüberschreitungen? Und erwählt die Kapelle nicht erst dadurch das ihr zuströmende Pack?
Kommt mir nicht mit: Die sind doch gar nicht so, können nichts für ihr Publikum. Wer den Geistesfüllstand seiner Zielgruppe beim Verkauf von Identifikationsartikeln nicht bedenkt, handelt grob fahrlässig. Ich unterstelle Vorsatz. Und wer durch Ton, Text und Bild die Schlichten so harmonisch mit sich in Einklang bringt, darf dann auch ganz genauso und ohne missverstanden werden.

Den nützlichen Idioten, die durch die öffentliche Zurschaustellung ihrer eigenen Hirnverwesung den Reichtum des deutschen Musikexportschlagers mehren, kann vermutlich nicht geholfen werden. Es ist zu bezweifeln, dass ihnen das Verständnis für die weiterführenden Regeln der Konzertbekleidungsvorschriften vermittelt werden kann.

Dem Interessierten seien als Hilfe zur Vermeidung von mitleidsvollen Blicken ergänzend zum 1. Hauptsatz aus erwähntem Handbuch folgende Ratschläge anempfohlen: Neben der vollkommen verrückten Möglichkeit, unbeschriftet dem Konzert beizuwohnen, empfiehlt es sich, Kleidungsstücke von Künstlern zu tragen, die dem ähnlichen musikalischen Umfeld zuzuordnen sind oder auf dem gleichen Label veröffentlichen. Gerne auch von ehemaligen Bands einzelner Mitglieder oder von Soloprojekten der Protagonisten. Nicht mehr existierende Projekte von Bandmitgliedern, die nur Eingeweihte kennen und aufwendig recherchiert werden können, sind ebenfalls denkbar. Man erkennt sich, ein leichtes Nicken bei der Begegnung sagt, dass wir eingeweiht sind, zugehörig sind, Bescheid wissen, uns auskennen. Wie die anderen, nur eben nicht so plump.

Neulich im Zug. Er: Meat Puppets. Ich: Hüsker Dü. Er mit Sitzplatzreservierung. Ich auf seinem Platz. Da steht man gerne auf.

Am supiesten empfiehlt man sich selbstverständlich mit Kleidung aus eigener Kaligrafierung. Das hat niemand. Wie auch. Mein erstes eigenhergestelltes Zeugnis der Zugehörigkeitsbezeigung war ein grünes Turnhemd mit dem aufwendigen Schriftzug U2. Das war so um 1986. Da der Textilmalstift aus Gründen noch nicht alle und die Klamotte im Doppelpack preisgünstiger war, reichte es sogar für eine Joy-Division-Version, die ich meines Erachtens noch viele Jahre später im Bärenzwinger trug. Ob die Erinnerungen an diesen Ort allerdings der Realität entsprechen, kann ich nicht mit Gewissheit beurteilen. Da die Wahrnehmung bisweilen durch bogenvermeidende Geradlinigkeit bei der Herbeiführung eines gesellschaftskompatiblen Sinneszustandes eingeschränkt war und Wahrheit häufig mit Wahrnehmung einhergeht, besteht begründeter Verdacht, dass die Erinnerungen zu einem guten Teil einfach herbeigerauscht kamen.

Auf den Geschmack der Hobbytextilgestaltung gekommen, folgte eine Periode kreativen Abmalens und Variierens, Auftragsarbeiten, Geschenkeproduktion. Der Stift wurde durch Textilmalfarbe ersetzt. Dann kamen der Alltag und die Periode des Mußeverlusts. Anfangs ergaben sich durch Lebensentwurfsmodifizierung neue Zielgruppen, der Farbverbrauch sank mit der Größe der zu bemalenden Kleidung.

Blätternd im Album der verflossenen Jahre denke ich an die Zeit, als man in der Schänke am östlichen Ende der Neustadt ohne Soundhound den virtuellen Hintergrundbeschallungserkennungsbuzzer drückte und neben Interpreten und Titel auch noch Jahr, Label und Schuhgröße der Künstler kannte. Die Zeit, als der Pinsel noch dauerfeucht war. Und wenn jemand meine abhanden gekommenen Lieblingshoodies von Alabama Kids und Lo(u)sercore aus diesen Jahren findet, würde ich sie gerne wieder tragen.

Warum man mit Essen nicht spielen soll, habe ich übrigens nie verstanden. Millionen Kinder haben durch Modellierung von Kartoffelbrei oder ähnlich plastisch verformbaren Gerichten den Grundstein zu ihrer erfolgreichen Karriere als bildende Künstler gelegt. Und wenn die situationistische Kunst anschließend verspeist wird, ist dem auch moralisch nichts entgegenzusetzen.

Dass man mit dem Feuer nicht spielt, ist hingegen spätestens seit 1933 hinlänglich bekannt. Zu Beginn meiner Lehre wurde mir diese Weisheit in der direkten Auslegung drastisch verdeutlicht. Im Zuge des sich gegenseitigen Vorstellens genügte meinem Mitlehrling Christian P. die Erwähnung seines Namens in Verbindung mit seiner Herkunft aus dem Dorf Z. bei W. Die sofortige Frage aller lautete nur „DER P. aus Z.?“ Außer mir zugezogenem Städter wussten alle aus dem Einzugsgebiet des Lehrbetriebes sofort Bescheid. Als Kind hatte er einst in einer Scheune mit dem zündenden Riesaer Gebrauchsartikel gespielt, dessen Logo auch für jenes der Band, deren Name nicht genannt werden darf, herhalten musste. Vom Dorf war weniger als die Hälfte übriggeblieben.

P.S.: Dieser Text erschien zuerst im Buch „Various Artists – Ich Liebe Musik Vol. 2“ (2020, Windlust Verlag) und wurde von Jörg Mewes über den Song „Es brennt“ von Hans-A-Plast geschrieben.