Spezial: addicted/noname Label aus Moskau, Teil 15

Von Matthias Bosenick (28.07.2023)

Neues aus Moskau! Das fabelhafte Label mit den vielen Namen, darunter addicted oder noname, hat neue Musik von folgenden Bands im Repertoire: Goddammit, Шаййм, Megalith Levitation, Фламандская Школа, Magnetic TarTrap, Dura und Резина. Die Genrepalette deckt alles ab zwischen Doom und Stoner, das man sich vorstellen kann, und auch das, was nicht: Southern Rock, Folklore, Death Metal, Noise Rock, Punk, Glam, Psychedelic, Jazz, Prog Rock, Sludge, Post Rock und gewiss noch viel mehr!

Goddammit – Silence Is Blind/Till The Wheels Fall Off (2023)

Zwei Vorboten zu einem angekündigten Album schicken Goddammit von Sankt Petersburg aus in die Welt: Das Quartett gniedelrockt sich aus tiefen US-amerikanischen Sumpflandschaften heraus, temporeich, kraftvoll, unterschwellig doomig oder wenigstens verstonert, treibend, melodisch, rauh. Die vier Musiker beherrschen eine durch Tempowechsel erzeugte Dramaturgie, streuen Riffs, Grooves und Soli. Jeder der beiden Songs ist aus dem Stand ein Ohrwurm – wenn sich das auf dem Album so fortsetzt, kann man da einen amtlichen Gute-Laune-Brocken erwarten. Und das mit nur einer Gitarre: Artyom Iskandirov erzeugt den Druck zusammen mit Bassist Sergey Kabakov und Schlagzeuger Max Znaevski, den Gesang dazu übernimmt Emile Corsenje.

Шаййм – Радостные дни (2023)

„Glückliche Tage“ läuten Shajjm aus Moskau mit ihrem zweiten Album ein, und wahrlich, sie lügen mit dem Titel nicht: Mit Flöten geht es los, eine akustische Gitarre legt falsche Fährten aus, denn schon der Opener strotzt trotzdem vor Kraft und Energie, das Tempo ist höher, als der Song den Anschein hat, und der Krawall steigert sich noch. Ja, Folklore, eine wilde, ausgelassene Party, die Melancholie der Endzeitstimmung, die man trotzdem wegtanzt, wegtrinkt, wegsingt, wegrockt, der Hedonismus aus der Vulkankante, begleitet von Aggressivität. Fairport Convention trifft Кино, und zwischendurch bricht die Band aus allen auch nur andeutungsweise vorgegaukelten Konventionen aus und brennt mit einem dem Punk entsprungenen Geist alles nieder, nur um hernach wieder in kontemplative oder psychedelische Lieblichkeit zu verfallen. Als wäre das nicht genug, zählen Noise Rock, Prog und Jazz hörbar zu weiteren Einflüssen des Quartetts. Chillen und Brüllen! Und überhaupt eine wundervoll abwechslungsreiche Platte.

Interessanterweise ist „Радостные дни“ tatsächlich in weiten Strecken akustisch eingespielt, macht aber in den wilden Passagen einen amtlichen Lärm. Sänger Nikita Chernat spielt Gitarre und bedient die Electronik, Roman Konlev spielt Kontrabass und Bass, Nikita Bobrov spielt Flöte und bedient Synthies, Ilya Borodin sitzt am Schlagzeug. Dieses ist das zweite Album nach „Сон да не сон“ aus dem Jahr 2020, zudem verfolgt es laut Info eine Art inhaltliches Konzept, nach dem der Held zunächst aus Einsamkeit, Schmerz und Wut heraus den Wert von Freundschaft und Liebe zum Leben erkennt. Das schlägt sich auch musikalisch nieder, indem die Musik zum Ende des Albums hin klarer und aufgeräumter wird, aber nicht weniger energetisch. Und zu Dämmerung setzt eine Orgel ein. Und ein Chor. So schön!

Megalith Levitation – Obscure Fire (2023)

1,2 Millionen Einwohner, aber wer außerhalb Russlands kennt die am Ural gelegene Stadt Челябинск (Tscheljabinsk), wer nicht schon lang Fan der Band Megalith Levitation ist? Jenes Trio erweitert sein Spektrum an tieftönenden Doomstrecken mit seinem neuen Album „Obscure Fire“, dem dritten seit 2019. In der Tat verfeinern die drei Akronyme ihre Kompositionen, verleihen dem tiefgestimmten, verschleppten, dunklen Doom viele filigrane, beinahe zarte Momente, in sich gekehrte, versonnene, versunkene Strecken, dann oft gar nicht so weit weg von frühem Gothic Rock à la Fields Of The Nephilim, der sich ja bei Pink Floyd bedient. Mit den überlangen – bis auf dem Zweieinhalbminüter in der Mitte – Tracks generieren Megalith Levitation einen hypnotischen Trancezustand, einen Sog, in den man sich gern fallen lässt, und von dem man nicht weiß, ob er einen ins All befördert oder in irgendwelche undefinierbaren Tiefen. Gelegentlich reißt einen das Trio selbst aus der Kontemplation heraus, indem es unerwarteterweise das Tempo variiert – es kann auch Galopp und Walzertakt, ohne an Wirkung einzubüßen.

Ob der Gesang tatsächlich Inhalte vermittelt, ist aufgrund der Art des Vortrags nicht so einfach zu erfassen, auch wenn die Songtitel auf Englisch gehalten sind. In der Info steht ohnehin nichts von Gesang und Instrumenten, sondern ist danach jemand namens SAA verantwortlich für „Sermons & Fuzzmagic“, vermutlich also das langgedehnte Singen und die elektrische Gitarre. KKV hat „Thunderbass & Eclectic Double Bass“ in den Händen und PAN die „Skullhammers“, ja, man hat schon anhand der Beschreibung eine vortreffliche und zutreffende Vorstellung von der Musik, die bei so etwas herauskommt. Dunkelheit mag da vorherrschen, Nihilismus durchschimmern, und doch birgt auch dieser Koloss an schweren Riffs und Verzweiflung eine gewisse Lebensfreude, die man mindestens daran festmachen kann, dass diese Musik überhaupt existiert – wer komplett nihilistisch und verzweifelt ist, macht keine so überzeugenden Alben mehr. Die CD-Version erscheint wie beim Vorgänger „Void Psalms“ vor zwei Jahren beim Label Asethetic Death.

Фламандская Школа – Голова Полна Гиен (2023)

Ein achtminütiger Vorbote auf das zweite Album „Sternkunst“ ist der Song „Der Kopf ist voller Hyänen“, und wer soll’s der „Flämischen Schule“ aus Moskau verdenken in Zeiten wie diesen. Vom Quintett zum Quartett geschrumpft, präsentiert die Band um Filmemacher Nikolai Lupanov einen schleppenden Noiserockbrocken, der sich laut Info an die Swans lehnt, aber deren Dichte nicht erreicht; was nicht schlimm ist: Die Intention wird ja trotzdem deutlich, im Dreivierteltakt generieren die vier Musiker noisige Rockmusik, die sich nicht an Konventionen hält, und mehr will man ja gar nicht, wenn man vernimmt, dass die Band ihre Wurzeln im Punk hat – so denkt man ihn gekonnt weiter.

Zur Band gehören neben Sänger und Gitarrist Nikolay Lupanov noch Bassist Aleksey Zverev, Schlagzeuger Ilya Kruchinin und Gitarrist Timur Khairulin. Die „Sternkunst“ aus der Flämischen Schule wird der Nachfolger von „Будущее“, „Zukunft“, der Debüt-EP aus dem Jahr 2021 – die ungefähr so lang ist wie allein dieser neue Song.

Magnetic TarTrap – Overstoned (2023)

Der Bandname hält, was er verspricht: Magnetic TarTrap, so schön schon mal vorgelegt, da steckt schon drin, dass man so manches nicht so ernst nimmt, aber das mit heiligem Ernst. Geht schon damit los, dass das Quartett aus Moskau zu seinem sludgigen Death’n’Roll growlt. Es bleibt wüst: Das Wahwah-Pedal verbiegt das viersekündige Solo, ein Glam-Rhythmus treibt inmitten von abgedunkeltem Sludge (Сладж!) die breitbeinige gute Laune voran, ein beinahe punkiges Death-Metal-Tempo keift dazwischen. Die vier bedienen alles, was die Genres so hergeben, bei denen sie sich bedienen, von Stoner über Sludge und Doom bis Punk, Death Metal, natürlich immer wieder Stoner; die Band dreht alles durch den Fleischwolf, lässt jedes Instrument granteln, dreht den Fuzz auf links, generiert mitreißende Rhythmen und, Riffs und Melodien und spuckt auf die Welt. Wenn die vier Leute Lust haben, verbreiten sie sogar mal auf Rock’n’Roll basierende gute Laune, ansonsten muss man sich vor ihrem Ingrimm in Acht nehmen – Spaß macht der natürlich trotzdem. In der Kombination und Darreichungsform hat es gar etwas Glamouröses.

Zeitlos muss man „Overstoned“ nennen, schließlich hat es bereits zehn Jahre auf dem Buckel – 2013 fanden die Aufnahmen statt, und man hört es nicht, es hätte gestern gewesen sein können oder vor 20 Jahren, die Urgewalt kennt keine Vergänglichkeit. Die Band besteht aus Откровения-Дождя-Sänger Aleksey Nasonov, der vielmehr growlt und keift, Gitarrist ist Andrei Vorobev, Bassist Vadim Filin und Schlagzeuger Kirill Drokhanov. Seit dem 2009er-Demo und den vorliegenden Aufnahmen scheint das Quartett vornehmlich live unterwegs gewesen zu sein, immerfort sein Oeuvre zum Besten gebend, da war wohl keine Zeit, sich an ein zweites Album zu wagen. Hat ja auch keine Eile!

Dura – Крутой (2023)

„Крутой“ ist der vorausgeworfene Schatten auf das selbstbetitelte Debüt des Trios Duma, das davon überschattet ist, dass Sänger und Gitarrist Egor Mihajlov nach den Aufnahmen starb. Für eine Weile standen Bassist Mihail Chernyj und Schlagzeuger Mark Znak ratlos da, ob Duma überhaupt eine Zukunft beschieden sein würde, und fanden in Evgenij Kakotkin einen neuen dritten Mann. Mit ihm setzt die Band fort, was die Welt noch gar nicht kennt, weil mehr als dieser eine Song nicht veröffentlicht ist: Sludge, Sludge und nochmal Sludge aus Sibirien, aus Krasnojarsk nämlich.

Die Band übersetzt „Крутой“ mit „Badass“, und so klingt es auch. Fast sechs Minuten gebremster Lärm, laut, aber langsam, intensiv explosiv, stinksauer, brüllend, mit einem retardierenden Laut-Leise-Durchhänger in der Mitte, während dem die Gitarrenfeedbacks flirren und die Band bis auf den Schlagzeuger etwas Luft holt, um nochmal loszutönen, so heftig, dass man gar nicht so recht bemerkt, dass der Song gar nicht schnell ist. Die drei Musiker bringen dafür ja auch einige Erfahrung mit, die Info listet vorherige Engagements auf bei Bands wie Below The Sun, Ultar, Truth oder War Emu. Als Bonus dieser Single gibt’s den 2021-Mix des Tracks obendrauf, der die Power etwas herausnimmt.

„Alles ist vergänglich, nur die Musik ist ewig“ – möge Egor in Frieden lärmen!

Резина – Минус один (2023)

Schon wieder nur eine Single von Resina, und immer noch fand sich niemand, der das grandiose Album „1619“ physisch herausbringt. „Minus eins“ ist der Titel dieser EP, Ausgangspunkt für eine Reihe an „Minus“ betitelten Instrumental-EPs, die das vormalige Quartett nurmehr als Trio einspielt, also minus eins und außerdem ohne Gesang, also anders als auf „1619“, auf dem Helden des russischen Untergrunds dem grandiosen Postrock der Moskauer ihre Stimme liehen.

Entsprechend zurückhaltend sind die beiden Tracks, intensiv, aber mit einem Anflug von Erschöpfung, doch wie es mit versierten Musikern ist, zaubern Gitarrist Ilya Zinin, Bassist Oleg Lisitsin und Schlagzeuger Dmitry Drozdov auch daraus etwas Mitreißendes. Sie müssen sich offenbar sammeln, wiederfinden, Anlauf nehmen, kurze Sprints einlegen, ein „Сигнал“, „Signal“, setzen, dass sie noch und wieder da sind, mit psychedelischem Postrock, mit dem Willen, in die Zukunft zu blicken und sich von der „Тревоги“, „Angst“, nicht einschüchtern zu lassen. Track zwei groovt mehr als der erste, birgt mehr Melodien als Atmosphären, prescht los, lässt dem Lärm mehr Leine, gibt dem unerwartet funky Bass ordentlich Raum. Und wie schön die drei das alles spielen!

addicted/noname auf Bandcamp