Raymond Macherot – Anatol gegen die schwarzen Ratten (Chlorophylle contre let rats verts/Chlorophylle et les conspirateurs) – Carlsen 2023

Von Matthias Bosenick (10.07.2023)

Nachdem die Comics von Raymond Macherot ohnehin erst verspätet und dann noch stiefmütterlich in Deutschland publiziert wurden, besinnt sich der Carlsen-Verlag jetzt des belgischen Comiczeichners mit der klaren Linie und bringt dessen Debütalbum inklusive Fortsetzung um den anthropomorphen Anti-Disney-Gartenschläfer (keine Brillenmaus!) Anatol (im Original Chlorophylle) neu getextet (der Hinweis darauf fehlt komplett, sieht man davon ab, dass mit Marcel Le Comte der gegenwärtige Carlsen-Standard-Übersetzer erwähnt ist und nicht Uta Benz-Lindenau), mit einigen Ergänzungen und als Hardcover abermals nach 1983 in den Handel, jetzt mit „gegen“ statt „und“ im Titel. Man spürt diesem Doppelband an, dass der Zweite Weltkrieg 1956 noch tief saß; nicht, dass es hier explizit gegen Nazis geht, aber der Überfall einer Rattenpopulation auf ein friedliches Tal voller lieblicher Kleintiere, die in den Widerstand gezwungen werden, legt gewisse Assoziationen nahe. Diese Neuauflage darf der Anlass sein, dieses Mal mehr als nur sieben Bände in fünf Büchern und auch nur mehr als diese Serie herauszubringen; „Sibylline“, „Mirliton“, „Isabelle“ und „Chaminou“ drängen sich noch auf, um „Percy Pickwick“ hingegen braucht man sich ja keine Sorgen zu machen.

Macherots unbekleidete Tierchen haben durchweg und durchaus etwas Niedliches, was auch an seiner großartigen Zeichenkunst liegt: Mit wenigen Strichen gestaltet er ausdrucksstarke, dynamische Charaktere und kreiert so ein animalisches Idyll, das einem auch als humanoider Lesender erstrebenswert erscheint. Doch gibt es, und da liegt der Hase im Pfeffer, in Macherots Welt immer den Counterpart, den Antagonisten, und der ist ein fieser Möpp, der, anders, als es die Niedlichkeit erwarten lässt, auch vor Mord und Gewalt nicht zurückschreckt. Kriegsmetaphern sind „Anatol“ nicht fremd, der Widerstand gegen uniforme Unterdrücker – hier eine Rattenpopulation – trägt deutlich unniedliche Züge. Im ersten „Anatol“-Band steigt Macherot auch gleich mit der verheerenden Ausgangslage ein, ohne langwierig das Setting vorzustellen: Eine Zeitungsmeldung gibt knapp bekannt, dass eine alte Mühle abgerissen wird, die zuletzt Behausung von unliebsamen Ratten war, und die fallen nun ab dem zweiten Bild in das Tal ein, in dem Anatol mit Freunden lebt.

Anatol, der Gartenschläfer, ist mit Raben, Ottern, Kaninchen, Mäusen und Igeln befreundet, von denen jeder Eigenschaften trägt, die dafür hilfreich sind, die Ratten zurückzuschlagen, beinahe wie in Superheldencomics. Menschen treten lediglich mit ihren verlassenen Gebäuden und anderen Relikten auf, erst gegen Ende des zweiten Bandes ist eine Frau zu sehen, die sich über die vermeintliche Brillenmaus in ihrem Wassereimer erschreckt. Zwischen dem Anführer der Ratten, hier plötzlich Blacky statt Anthrazit genannt, und Anatol entbrennt eine Fehde, die sofort ins Persönliche geht und die im Grunde eine Aneinanderreihung von retardierenden Momenten ist, denn immerfort fällt Anatol der Ratte in die Hände, kann sich befreien und setzt zum Gegenschlag an, um nur einmal mehr in Gefangenschaft zu geraten. Macherot scheint sich von der Geschichte selbst zu ihrem Fortgang inspirieren lassen zu haben, einen großen, alles überspannenden Bogen gibt es nicht, vielmehr ist die Handlung episodisch, elliptisch. Das kann ermüden, weil es nicht vorangeht, aber Macherot übertrumpft sich selbst in Ideen, wie Ratten und Talbewohner gegeneinander vorgehen, bis hin zu Flammenwerfern.

Blacky ist nicht der einzige Umbenannte, auch Anatols Otterfreund Turbo heißt plötzlich Torpeda und ist zudem weiblich; das scheint ein Zugeständnis an die Moderne zu sein, in der rein männliche Geschichten schlechter zu vermarkten und womöglich Shitstorms zu erwarten sind. Auch ist die Übersetzung an die Gegenwart angepasst, wenn auch vergleichsweise behutsam, und dennoch, „Null“ statt „nicht“ oder „eh“ statt „sowieso“ hätte 1983 noch niemand gesagt, 1956 noch weniger, das trübt etwas den Genuss, ebenso, dass das Lettering ein mechanisch imitiertes Handlettering zu sein scheint. Auch ist das Titelbild neu koloriert, das erkennt man an dem extrem künstlichen Farbverlauf an Anatols Nase und Schwanz; der direkte Vergleich zeigt, dass das Cover von 1983 farblich wesentlich besser ausgestaltet war. Dafür indes bekommt man eine in der 1983er-Ausgabe völlig fehlende Seite erstmals kredenzt sowie im Bonusteil Macherots seinerzeit bereits in einem kurzlebigen Jugendmagazin auf Deutsch erschienene und hier als Faksimile abgedruckte Kurzgeschichte „Mission ‚Chèvrefeuille‘“ aus dem Jahre 1954, die „Anatol“ und die Kriegssituation mit Luftangriffen und Abwehr vorwegnimmt, nur weit weniger attraktiv und detailliert gezeichnet.

Vier weitere für das Journal Tintin veröffentlichte Prä-„Anatol“-Kurzgeschichten Macherots sind auf Deutsch noch nie erschienen, nach sieben Bänden „Anatol“ in fünf Büchern und den erst als Band 10 erschienenen ersten drei „Percy Pickwick“-Geschichten war es in Deutschland um Macherot ohnehin still, zumindest beim Carlsen-Verlag, der etwa in Dänemark weit mehr Macherot-Bände und –Serien („Sibylline“!) herausgab. Nur der unsägliche Rolf Kauka verwurstete einiges von Macherot noch vor Carlsen, allerdings bei Zack und als „Piefke“, sowie diverse Bände, die Macherots Nachfolger von „Anatol“ gestalteten, zunächst als „Knips & Knaps“, erst später analog zu Carlsen als „Anatol“; unter den Macherot-Erben war De Groot, der auch dessen „Percy Pickwick“, im Original „Clifton“, über Belgien hinaus populär machte. Auch im Yps-Heft war Macherot vertreten; diese Magazinreihe war es auch, die „Clifton“ umbenannte, weil sie parallel die verwechselbare Reihe „Perry Clifton“ beinhaltete. Kauka gab „Clifton“ seinerseits einen neuen Namen, dort hieß er „Sir Harold“, warum auch immer. Der Titel „Knips & Knaps“, also „Anatol“ mit zwei Protagonisten, lässt sich indes herleiten: Im Verlauf der zweiten Episode „Chlorophylle et les conspirateurs“, die Teil von „Anatol gegen die schwarzen Ratten“ ist, führt Macherot die Theatermaus Minimum ein, die fortan Anatols Sidekick wird.

Anatol auf Deutsch bei Carlsen bislang:
01 Anatol und/gegen die schwarzen Ratten (Doppelband mit Chlorophylle contre let rats verts und Chlorophylle et les conspirateurs), 1983/2023
02 Keine Wurst für Lucie (Pas de Salami pour Célimène), 1983
03 Anatol auf Ferienfahrt (Chlorophyll et les Croquillards), 1984
04 Der Finsterling schlägt zu (Zizanion le terrible), 1984
05 Anatols Rückkehr (Doppelband mit Le retours de Chlorophyll und Le Furet gastronome), 1985

Bei Carlsen unveröffentlicht sind damit noch „Le bosquet hanté“ (gab‘s 1978 in Fix & Foxi), „La revanche d’Anthracite“ und „Chloro à la rescousse“, die Post-Macherot-Bände nicht mitgezählt. Interessant wäre überdies noch die Zeichentrickserie, die in den Fünfzigern entstand. Und die elf „Sibylline“-Bände. Und „Isabelle“, die Reihe, die Macherot mit Yvan Delporte, Will und sogar André Franquin gestaltete, nachdem er von Tintin zu Spirou gewechselt war. Vielleicht ist „Anatol gegen die Schwarzen Ratten“ ja wirklich der erfreuliche Auftakt einer Veröffentlichungsreihe, schließlich gibt es „Sibylline“ in Frankreich als fette Sammelreihe.