Killing Joke – The Singles Collection 1979-2012 – Spinefarm Records 2013

Von Matthias Bosenick (05.05.2013)

So dicht liegen Übervollständigkeit und Unvollständigkeit beieinander. Killing Joke veröffentlichen eine Singles-Sammlung auf zwei CDs (oder wahlweise auch 33) mit einer Raritäten-CD als Bonus. Es überrascht, was im Bunde der 33 alles auftaucht, da bleiben tatsächlich so gut keine Lücken, und es überrascht auch, was das Quartett aus den Archiven kramt, worüber selbst Eingeweihte staunen, und doch, gerade dort fragt man sich dann: Wenn schon jener Remix drauf ist, warum nicht die anderen auch? Egal, eine lohnenswerte Anschaffung ist die Dreier-CD auch für den Sammler, und für Entdecker sowieso, die können gleich mal karriereüberspannend bei Killing Joke herausfinden, wo ihre neueren Lieblingsbands so geklaut haben.

Insbesondere in ihrer zweiten Lebenshälfte ist die Band bei der Auflistung ihrer Singles sehr akribisch. Die zweite CD beginnt gleich mit einem Track, den sich selbst Sammler kaum bei eBay leisten können: der „Flexi-Disc Version“ von „The Beautiful Dead“. Obskurer und rarer geht es kaum, und welche andere Band hätte überdies eine Flexi-Disc in ihre Singles-Discografie aufgenommen. In den 90ern dann begann die Band damit, zu den Album-Versionen alternative Single-Versionen abzumischen, und die sind hier vertreten. Mit „Hosannas From The Basements Of Hell“ begann die Zeit der raren Singles, die es lediglich über einen bestimmten Mailorder zu erwerben gab, und auch die sind alle enthalten; von „Ghosts Of Ladbroke Grove“ indes die B-Seite, der „Dub Edit“ nämlich. Dazu, fast genauso obskur wie die Flexi-Disc, eine Record-Store-Day-Single, nämlich „Fresh Fever From The Skies“, das sich von der Albumversion gar nicht unterscheidet und daher fast obsolet ist. Aber eben zur Vollständigkeit beiträgt.

Die erste Karrierehälfte beginnt erstaunlicherweise nicht mit dem Titeltrack der Debüt-EP „Turn To Red“, sondern mit dem darauf enthaltenen „Nervous System“, das parallel separat als Single und 10“ erschienen war. Es folgen die frühen Postpunk-Sachen, inklusive der Single-Only-Releases „Birds Of A Feather“, „Me Or You?“ und „A New Day“. Jener Song leitet zur Pop-Phase über, inklusive „Love Like Blood“, und endet mit den Singles zum ungerechtfertigterweise unbeliebtesten Album „Outside The Gate“. In dieser Liste erscheint dann die erste Lücke: Es fehlt „Change“, sowohl als 1980er-Single als auch als 1992er „The Spiral Tribe Mix“ und „Youth Mixes“. „Change“ taucht dann auf der 33er-Version als B-Seite zu „Requiem“ auf, das wird der Grund sein.

Die dritte CD mit den Raritäten lässt den Fan sich freuen und wundern. Freude gibt’s über die drei Sampler-Beiträge aus den 90ern, die der Fan sicherlich ohnehin zusammengesammelt hat, „Drug“ vom zweiten „Mortal Kombat“-Soundtrack, „Our Last Goodbye“ vom „Free The West Memphis Three“-Sampler und „Hollywood Babylon“ vom „Showgirls“-Soundtrack, alle drei wundervolle Stücke, die nicht zu kennen ein Versäumnis ist, und die Freude des Sammlers wird größer, weil letzterer Song in einer bislang unbekannten längeren Version vorliegt. Es folgen drei Stücke aus den Sessions zu „Absolute Dissent“, mit „Four Stations Of The Sun“ ein lang gesuchter Track aus den „Democracy“-Sessions und das hochgradig brillante „Zennon“ von der „Loose Cannon“-DVD-Single. Zwei weitere Stücke werfen indes Fragen auf: Warum ein „Radio Edit“ von „Money Is Not Our God“? Warum der „Aotearoa Mix“ von „Pandemonium“, wo bleibt der von „Mathematics Of Chaos“, und wo bleibt das obskure „An Irrational Auld Court Jester Talks (A Spiralling Recession In Time Mix)“, das auf einer – natürlich – neuseeländischen CD-Rom namens „Aotearoa“ enthalten ist? Zwar gibt es diverse Raritäten bereits auf den Wiederveröffentlichungen der Killing-Joke-Alben als Bonus, aber es kamen ja neue hinzu. Und es gab weitere Sampler-Beiträge, Remixe etwa, die hier fehlen, etwa der „Hideous Mix“ von „Money Is Not Our God“, der „United Nations Mix“ von „Democracy“ sowie die „Hallocinogenic“-Mixe von „Four Stations Of The Sun“ und „Jana“. Dennoch, die dritte CD ist eine große Freude – obwohl es erstaunt, dass sie nur zehn Tracks enthält, kündigte die Band auf ihrer Webseite doch 16 Stücke an. Es fehlen: „Transient Place“ von „Freispiel: The Soundtrack“ (eigentlich kein Killing-Joke-Song, sondern ein Session-Stück unter Teilnahme von KJ-Musikern), der „Naval Mix“ von „Wardance“ (von der Kassetten-Single zu „Sanity“), der „Acapella Mix“ von „Requiem“, „iBuy“ mit Tim Burgess von den Charlatans, eine „Intellect“-Version mit dem Violinisten Aboud Abdel Al sowie zwei Belege für die bedauerliche Schwachköpfigkeit der musikalischen Genies, nämlich ein schamanisches Ritual in der Königskammer der Gizeh-Pyramide und ein philosophischer Dialog, jeweils mit Jaz Coleman und Youth. Weiß der Geier, wo all diese Stücke nun gelandet sind.

Wer viel Geld ausgeben wollte, konnte sich bei Pledge Music auch die Box mit den 33 CDs (plus Bonus-CD) zulegen. Die allerdings nun wirklich auch dem Fan mehr Wünsche offen lässt als erfüllt, abgesehen von der Flexi-Disc-Sache. Denn der Fan, der alle Singles zu Hause im Regal hat, weiß, dass diese auf Einzel-CDs gebannten Ur-Singles weitgehend unvollständig sind. „Almost Red“ hat als 12“ vier Stücke, die erste CD bringt aber nur die beiden der „Nervous System“-Single, nicht mal den dritten Track der gleichnamigen 10“-Version. Da war die „Chaos For Breakfast“-Compilation vor neun Jahren mit den ersten vier Singles kompromissloser, also vollständiger. Sehr viele Stücke der 80er haben als 12“ mindestens einen Track mehr, „Me Or You?“ als Doppel-7“ ebenfalls, in den 90ern kamen mit den Maxi-CDs diverse Bonus-Remixe dazu, die hier fehlen, sowie die Stücke, die die jüngsten Singles zu wahren EPs machten. Lediglich mit der allerletzten Single „Corporate Elect“ locken die Jungs den Fan: Darauf ist mit dem „Bloody Beetsroots Remix“ von „In Cythera“ ein tatsächlich sonst nirgendwo erhältliches Stück als Bonus drauf.

Ansonsten löblich: Die Band verzichtet auf eine ausschließlich für diese Compilation produzierte neue Single, anders als etwa die gleichalten Simple Minds auf der gleichzeitig erschienenen Best-Of „Celebrate: The Greatest Hits“, und liefert stattdessen Archivschätze. Dennoch, eine dergestalt umtriebige und produktive Band kann nur unvollständig bleiben. Spaß macht die Melange aus Punk, Post Punk, Dub, Metal, Pop, Techno und Klassik auf jeden Fall – denn so breitgefächert wie bei Killing Joke und doch so eigenständig und wiedererkennbar ist kaum ein Band-Sound auf diesem Planeten.

[Edit 12.02.2014] Der „Bloody Beetsroots Remix“ von „In Cythera“ ist natürlich sehr wohl auch anderswo enthalten: auf der „Corporate Elect“-Single nämlich. Und auf der ebenfalls via Pledge finanzierten „In Dub“-Compilation, die es bereits als Download gibt und die demnächst auch analog veröffentlicht wird.

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