Der Tag wird kommen (Le grand soir) – Benoît Delépine & Gustave Kervern – F 2011

Von Matthias Bosenick (12.05.2013)

Der Film kommt spät nach Deutschland, aber überhaupt, und das ist gut so, denn es wäre sonst ein immenses Versäumnis. So kompromisslose Filme im Stile der Indie-Filmer der 90er sind selten geworden, auch das einst innovativere, eigenständigere Kino aus Europa konzentriert sich seit langem leider auf massenkompatible Wiederholung derselben Themen. Mit ihrem dritten Film „Louise-Michel“ überraschten Benoît Delépine und Gustave Kervern 2007, Nachfolger „Mammuth“ (Hauptdarsteller Gérard Depardieu hat in „Der Tag wird kommen“ eine winzige witzige Nebenrolle) schielte hingegen auf den Markt, der neue „Der Tag wird kommen“ nun nimmt den Gestus von „Louise-Michel“ wieder auf. Der Film besticht mit einer ungewöhnlichen Handlung, noch viel mehr aber damit, wie er diese Handlung erzählt.

Altpunk „Not“ scheint zunächst die Hauptfigur zu sein, ein gescheiterter Übervierzigjähriger, dessen Bruder Jean-Pierre als Matratzenverkäufer ein mittelständisches Wohlstandsleben führt. Die ausgebremsten Eltern betreiben ein Kartoffelrestaurant, in dem sich die Brüder begegnen und ihre gegenseitige Abneigung austauschen. Der Standard: Als Altpunk ist man ein Versager, „Not“ wurde nie erwachsen. Tja. Aber dann macht der Film die Kehrtwende: „Spießer“ Jean-Pierre ist geschieden, mit der Babytochter überfordert und dann auch noch als versagender Verkäufer auf der Abschussliste seines Chefs. Das löst eine Art Amoklauf bei ihm aus, der auf der Verkehrsinsel endet, auf der „Not“ residiert, und jener tätowiert ihm den Namen „Dead“ auf die Stirn und rasiert ihm einen Iro. Zunächst versucht „Not“ noch vergeblich, dem desolaten „Dead“ einen neuen Job zu beschaffen, aber dann wollen sie lieber zusammen die Gesellschaft aufrütteln.

Grandioses Scheitern als Lebensweg. Schon die Eltern machen es vor. Zwar betreiben sie ein Restaurant, aber das in einem irrsinnig langsamen Tempo und nahezu frei von Gästen. Auch in der Erziehung sind sie offensichtlich gescheitert, schließlich bekommen beide Söhne ihr Leben nicht auf die Reihe. „Dead“ scheitert ebenso darin, ein Neu-Punk zu sein, wie darin, ein als normal betrachtetes Leben zu führen. Und „Not“ gelingt sein Aufruhr nicht. So ziellos wie die Figuren ist auch der Film, das Nicht-Ende mithin konsequent.

Man bekommt eine Gegenwart präsentiert, in der man sich als Europäer leider auch wiederfindet, zwischen Falschernährung und Finanzkrise, zwischen Sicherheitsdenken, Sinnsuche und Ausweglosigkeit. Die Grundstimmung ist deprimierend, der Humor indes befreiend. Einen Großteil dieses Humors erzeugen die Regisseure mit der Art und Weise, wie sie den Film darstellen. Bei Kaurismäki gelernte Einstellungen und namenlose Überwachungskameraobservierer bilden die Eckpfeiler der Kameraarbeit. Brutalrealistische Dialoge und aberwitzige Ideen füllen den Raum dazwischen. Etwa: Man sieht, wie der Vater im Restaurant am Fenster steht und dabei zusieht, wie sich die Söhne draußen streiten, und hört aus dem Off die Mutter fragen: „Hast du etwas von den Kindern gehört?“, und der Vater antwortet „Nein“ und lässt die Jalousie herunter. Von solchen Ideen und Dialogen quillt der Film nur so über. Außerdem zeigt er den vermutlich lustigsten Film-Suizid seit langem.

Natürlich ist das alles unrealistisch, aber das war „Louise-Michel“ auch, und trotzdem tief in der Gegenwart verankert und äußerst kritisch. Man kann aus jenen beiden Filmen viel über das System lernen und sieht sich auf zynische Weise in seiner eigenen Haltung bestätigt. Das tröstet darüber hinweg, dass man sich selbst nicht dazu in der Lage sieht, an diesem verhassten System etwas zu ändern, und lässt diebische Freude darüber aufkommen, dass jemand diese Haltung immerhin in böse und grandiose Kunst gießt.

„Le grand soir“ ist übrigens ein Begriff aus der Französischen Revolution, den Marxisten und Anarchisten gleichermaßen noch heute nutzen. Er beschreibt den Übergang zwischen dem Sturz eines Regimes und der Erschaffung einer neuen Gesellschaft. Im Gegensatz noch zu „Louise-Michel“ sowie den ersten beiden Filmen „Aaltra“ und „Avida“ scheint „Der Tag wird kommen“ übrigens nicht mehr im fiktiven Groland zu spielen.

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