Julieta – Pedro Almodóvar – E 2016

Von Matthias Bosenick (10.08.2016)

Eine Wohltat, dieser Film: Er ist in mehr als nur einem oder zwei Aspekten gut. Er hat ein großartiges Ende, schöne Bilder, eine mitnehmende Geschichte, passende Musik, attraktive Figuren, eine überzeugende psychologische Basis und geschickt ausgelegte Selbstreferenzen. Jede Komponente für sich allein genommen hätte ohne die anderen keinen guten Film ergeben, aus allen zusammen kreiert Almodóvar, wie sich das frühere Entfant Terrible des europäischen Kinos inzwischen nur noch nennt, ein wahres Kunstwerk. Man verlässt das Kino mit einem „wow“ auf den Lippen.

Die Handlung allein (übrigens aus drei ineinander verschachtelten Kurzgeschichten der Autorin Alice Munro zusammengesetzt) wäre vermutlich eher öde gewesen: Titelfigur Julieta erhält am Vorabend ihrer geplanten Auswanderung von Madrid nach Portugal eine Information über ihre verschollene Tochter Antía. Von diesem Tiefschlag aus der verdrängten Vergangenheit niedergestreckt, trennt sie sich von ihrem langjährigen Partner und schreibt in einem an ihrer Tochter gerichteten Brief die wahre Geschichte nieder, die sich zwischen Antías Zeugung und ihrem Verschwinden ereignet. Es geht um den Tod des Vaters, Depressionen, Zusammenhalt, Schuldgefühle und Freundschaft – und den Neubeginn nach einem solchen Schicksalsschlag. Doch sobald sich der Neubeginn für Julieta zaghaft abzeichnete, löste sich Antía von ihrer Mutter. Julieta erfährt später im Film neue Details über Antías verstörende Charakterveränderungen und bekommt letztlich eine Chance, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Drama, Baby! Könnte auf diese Weise ein unerträglich schwermütiges Stück Film werden. Ist es aber nicht, weil Almodóvar eben mehr zu bieten hat. Sein Erzähltempo etwa ist beinahe brillant, oder, um es mit Classic-Rock-Rezensenten zu sagen: kongenial zur Geschichte passend. Almodóvar erwischt das korrekte Maß zwischen Eilen und Verweilen. Man bekommt ausreichend Zeit, sich auf Personen und Orte einzulassen, aber bis es zu einer bedrückenden Langeweile kommen könnte, setzt die Handlung längst in entspanntem Tempo fort. Indes verzichtet der dafür bekannt gewordene Almodóvar auf die Freakereien seiner frühen Filme, die hätten hier auch nicht gepasst.

Dann natürlich die Bilder. Die Farbgebung unterstreicht die emotionale Lage der Figuren, außerdem ergeben viele Einstellungen allein dank ihrer Komposition ein eigenes Kunstwerk. Da bleibt sich der Kinomagier treu. Ebenso schön wie die Bilder sind die Schauspieler, auch ihr Agieren ist schlüssig. Und das Meer, egal, welches, trägt das Seinige zu beeindruckenden Bildern bei. Außerdem setzt Almodóvar eine Musik ein, die man für sich gehört vermutlich furchtbar fände: eine Art orchestralen Jazz, der je nach gezeigter Situation mal mehr zu der einen, mal eher zu der anderen Richtung dieses Crossovers kippt. Bild und Ton erzeugen einen an Hitchcock gemahnenden Suspense; das ist wohl der genialste Kniff, mit dem Almodóvar die Handlung packend macht.

Außerdem versteckt er ständig kleine bis große Wiederholungen im Film, er kehrt unterschiedlich häufig zu gewissen Details zurück. In der Musik spräche man von Loops: Auf die eingangs den Zusammenbruch auslösende Bea trifft Julieta am Ende erneut; ein Buch mit dem Foto eines Kunstwerks liegt irgendwo herum, von dem man später sowohl den Autoren als auch die Künstlerin kennen lernt, und als man das Buch später erneut zu sehen bekommt, ist es mit Leben gefüllt.

Nicht zuletzt sind die Geschichte, die Dialoge, die Handlungsweisen und sogar die Selbstanalysen psychologisch nachvollziehbar. Es ist mächtig interessant, zu sehen, wie Julieta von ihrer Tochter nach dem Tod des Vaters am Zusammenbruch gehindert wird, und dann zu erfahren, dass Julieta eben aufgrund ihrer selbstbezogenen Depressivität (Tautologie, ja) das wahre Wesen Antiás offenbar gar nicht erfasst hat. Selbst die Wiederaufnahme des Kontaktes ist nachvollziehbar, und ganz besonders gut ist der Schluss: Der findet im eigenen Kopf statt, mit dem nun endenden Film als Basis. Mit „Julieta“ macht Almodóvar „Fliegende Liebende“ vergessen.