Guido Dörheides Rest von 2023 oder „Alben, über die ich nicht geschrieben habe, aber gerne hätte“

Von Guido Dörheide (14.01.2024)

Trotz aller obwaltenden äußeren Umstände (Putin, Hamas, AfD usw. usf.) habe ich 2023 als eins der schönsten Jahre erlebt, die ich persönlich miterlebt habe. Danke dafür an alle (und ganz besonders an eine), die daran einen mächtig gewaltigen Anteil hatten. Darüber hinaus sind in diesem Jahr über 100 Alben erschienen, die mein Interesse geweckt haben, über um die 60 davon habe ich hier geschrieben (um die jungen Leute was zu lernen) und den Rest habe ich einfach nicht mehr geschafft. Deshalb handele ich sie jetzt hier in aller Kürze ab, wie bereits im letzten Jahr nicht nach den Regeln der Kirche des Musikjournalismusses, sondern teilweise etwas schnoddrig und immer aus dem Bauch heraus. Viel Spaß damit!

Caroline Polachek – Desire, I Want To Turn Into You – Perpetual Novice 2023

Schwer einzuordnen – ist das hier Indie/Alternative, oder ist es Pop? Einfach mal reinhören in „Welcome To My Island“, den Opener von „Desire, I Want To Turn Into You“, und selber entscheiden: Das Intro schreit nach Pop, auf einmal übernimmt die Elektronik, Caroline Polachek spricht mehr als dass sie singt, um dann einen Refrain rauszuhauen, der den meisten zeitgenössischen Chart-Hits zeigt, dass Barthel den Most dort holt, wo der Hammer hängt. Und der Rest des Albums enttäuscht nicht, es geht einfach so weiter.

Shame – Food For Worms – Dead Oceans 2023

Erinnern wir uns noch an „Drunk Tank Pink“, die 2021er Großtat von Shame? „Food For Worms“ ist nicht schlechter. Wunderbar britischer Post-Punk mit düster-aggressiv-melancholischer Stimmung und einem ganzen Haufen von Beispielen überzeugenden Songwritings.

Siena Root – Revelation – Atomic Fire 2023

Siena Root ist eine der Bands, die den Roots Rock/Blues Rock/Psychedelic Rock der 60er und 70er Paroli laufen lassen, und das tun sie schon seit knapp 25 Jahren. Dabei verwenden sie ausschließlich analoges Equipment, was man am warmen, stimmungsvollen Sound gleich erkennt, und man vermag es kaum zu glauben, dass hier keine Coverversionen von Songs alter Meister:innen, sondern eigens für diesen Tonträger angefertigte Kompositionen zu hören sind. Wer jetzt Angst hat, Siena Root könnten wie ein Abklatsch von Deep Purple oder Led Zeppelin klingen (mehr dazu später, Greta), wird beim Hören der Stimme von Sängerin und Organistin Zubaida Solid hörbar aufatmen: Solid singt alles an die Wand, was mir zu den vorgenannten Rock-Genres aus dem Stegreif so einfällt, und spielt dazu noch astrein auf der Orgel. Klingt alles mächtig nach den Südstaaten der US of A, kommt aber aus Stockholm, Schweden.

Haken – Fauna (Deluxe Edition) – Inside Out Music/Sony 2023

Was soll man dazu groß schreiben? Musikalisch über jeden sprichwörtlichen Zweifel erhaben, Cover-Idee von den Talking Heads geklaut (hihi, hamse gedacht, 35 Jahre nach „Naked“ merkt das keiner, aber als ich damals mit Klaus in England war, waren alle Plattenläden flächendeckend damit dekoriert), Scheiß-Gesang, aber alle Kritiker sind sich einig, dass „Fauna“ DAS Progmetal-Weltereignis des Jahres 2023 ist. Vielleicht wegen der hervorragenden 2. CD, die das Album als Instrumentalversion enthält. Das sollten Dream Theater, Periphery (mehr dazu später) und TesseracT (mehr dazu noch später) zukünftig vielleicht auch so machen…

Periphery – Periphery V – Djent Is Not A Genre – 3 Dots Recordings 2023

Nervender Gesang zum Zweiten. Dazu ein grenzdebiler Albumtitel, der den Jungs wahrscheinlich spätestens in zwei Jahren peinlich sein wird (obwohl sie ja Recht haben – Djent ist genauso wenig ein Genre wie Bumm-Bumm oder Zip-a-Dee-Doo-Dah – sorry, Mr. van Zandt), aber musikalisch toll: Harter Progmetal mit viel Palmöl, also Palm Muting, meine ich (Palmöl ist auch kein Genre), sehr schön abwechslungsreich und unter Zuhilfenahme hoher technischer Versiertheit eingespielt.

Unto Others – Strength II … Deep Cuts – Roadrunner Records 2023

Portland, Oregon mal wieder. Das erste Album „Mana“ erschien noch unter dem Bandnamen „Idle Hands“, den die Band aufgrund von Rechtsstreitigkeiten nicht behalten durfte. 2021 ging es mit „Strength“ als „Unto Others“ weiter. Und mit der EP „Strength II … Deep Cuts“ werden jetzt Songs verwurschtet, die auf dem Album keinen Platz gefunden haben oder Demos sind. Gabriel Franco klingt immer, als hätte er in seiner Jugend viel Danzig und Type 0 Negative gehört, und sowas ist nie verkehrt. Die Songs sind, wie bereits von den beiden Alben gewohnt, düsterrockig und melodisch, irgendwo zwischen Metal und 80er-Jahre-Gothic-Rock. Ich feiere das, und wer jetzt noch unschlüssig ist, höre sich mal den Bass auf „Over Western Shores“ an.

Abwärts – Superfucker – Off Ya Tree Records 2023

Abwärts sind glücklicherweise nicht totzukriegen. Bekannt und beliebt von 80er-Jahre-Großtaten wie „Computerstaat“ und „Alkohol“, in den Deutsch-Post-Punk-Olymp aufgestiegen mit „Ich seh die Schiffe den Fluss herunterfahren“ von 1990 (mit dem geilen C.D.-Friedrich-Covergemälde) hauen sie durchschnittlich alle drei Jahre mal ein Album raus, und niemals ein schlechtes. So auch „Superfucker“, trotz des seltsam anmutenden Titels. Musikalisch ansprechender Punk/Post-Punk mit angepissten Texten eines wie immer genervt klingenden Frank Z und immer noch mit Rod von den Ärzten am Bass.

Molina, Talbot, Lofgren and Young – All Roads Lead Home – NYA Records 2023

Allein schon des Band- bzw. Projektnamens wegen gehören Molina, Talbot, Lofgren and Young gefeiert. Das Album enthält soliden Folkrock, und zwar nicht von Ralph Molina, Billy Talbot, Nils Lofgren und Neil Young gemeinsam eingespielt, sondern immer im Wechsel von Molina, Talbot, Lofgren und Young alleine. Deshalb ist es auch nicht unter dem Namen „Neil Young and Crazy Horse“, sondern als „Molina, Talbot, Lofgren and Young“ erschienen. Also eigentlich sind Molina, Talbot, Lofgren and Young niemand anders als Neil Young and Crazy Horse. Das Album als solches ist langweiliger, als es vermutlich geworden wäre, wenn Molina, Talbot, Lofgren and Young es nicht unter dem Namen Molina, Talbot, Lofgren and Young, sondern als Neil Young and Crazy Horse gemeinsam eingespielt hätten. So bleiben uns jeweils drei Songs von Molina, drei Songs von Talbot, drei von Lofgren und einer von Young (klar, ohne diesen Song wäre es auch kein Album von Molina, Talbot, Lofgren und Young, sondern eins von Molina, Talbot und Lofgren geworden). Auch wenn das Album langweilt, allein die Tatsache, dass Molina, Talbot, Lofgren and Young dieses gemeinsame Album herausgebracht haben, lässt hoffen, dass es trotz aller Zerstreitungen in den 2000er Jahren nach zuletzt „Colorado“ (2019), „Barn“ (2021), Toast (2022) und „World Record“ (2022) noch viele weitere bemerkenswerte Alben von Neil Young und Crazy Horse geben wird. Bemerkenswerter als das dennoch solide „All Roads Lead Home“ von Molina, Talbot, Lofgren and Young.

Element Of Crime – Morgens um vier – Vertigo/Universal 2023

1989 erschien auf dem Element-Of-Crime-Album „The Ballad Of Jimmy & Johnny“ der Song „Der Mann vom Gericht“. Niemand da? Niemand da? Da lach ich ja. Dieser Song bildet meines Erachtens den Grundstein der unglaublichen Karriere, die Element Of Crime seit 1991 („Damals hinterm Mond“) mit ausschließlich deutschen, poetischen und überaus melancholischen Texten hingelegt haben. „Morgens um vier“ hält das seit 32 Jahren vorgelegte Niveau mit Bravour.

Jana Horn – The Window Is The Dream – No Quarter 2023

Jana Horn landet mit traumwandlerischer Sicherheit immer in meinem „Rest of 20irgendwas“-Artikel, so auch hier. Und auch das aktuelle Album liebe ich aus denselben Gründen wie „Optimism“ aus 2022: Gefühlvoller und melancholischer Folk mit einer in Erinnerung bleibenden Stimme. Ein tolles Album.

Powerwolf – Interludium – Napalm Records 2023

Wie der Titel bereits andeutet, handelt es sich hier nicht um ein normales neues Album, sondern um eine als Überleitung zum nächsten Album zu begreifende Kompilation mit einigen neuen und einigen rewiederneuveröffentlichten alten EP-Tracks sowie neuen Versionen alter Lieder, zum einen begleitet von anderen Bands und zum anderen mit Orchester. So sind immerhin 3 CDs dabei herausgekommen, die in bewährter Powerwolf-Manier Laune machen ohne Ende. Wer die Band noch nicht kennt, googele bitte „Powerwolf Pumuckl“ und sehe sich das Lehrvideo des Youtubers Celsn an – dort wird Schritt für Schritt erklärt, wie die Faszination Powerwolf funktioniert.

Holy Moses – Invisible Queen – Fireflash Records 2023

Mit Holy Moses wollte ich nie was am Hut haben, wahrscheinlich, weil ich sie nicht kannte und ob des Namens für peinlichen 80er-Metal hielt. Und nun habe ich die Chance genutzt, der Kapelle um Sabina Classen mit dem Abschiedsalbum „Invisible Queen“ mal etwas Aufmerksamkeit zu zollen. Und es hat sich gelohnt: Technisch sehr gut gespielter Thrash, gesangstechnisch macht Frau Classen niemand etwas vor und ein löblicher Vorsatz, mit 60 aufzuhören. Die zweite CD enthält das komplette Album nochmal, mit zahlreichen Gästen wie Bobby „Blitz“ Ellsworth und Tom Angelripper.

Overkill – Scorched – Nuclear Blast Records 2023

Eben noch von Bobby Ellsworth gesprochen, und anschließend gleich die neue Overkill aufgelegt. Die älteren Herren klingen kein bisschen müde, das Album macht Laune ohne Ende. Auch hier eine überaus überzeugende Gesangsleistung und schönes Songwriting. Thrash Metal ist nicht totzukriegen und kommt nie aus der Mode.

The Mars Volta – Qué Dios Te Maldiga Mí Corazón – Clouds Hill 2023

Ein weiterer Stammgast in dieser recht jungen Rubrik. The Mars Volta haben einfach ihr 2022er Album „The Mars Volta“ noch einmal veröffentlicht, und zwar diesmal akustisch. Kamen die Alben der Band bislang als experimenteller Metal mit Latin-Einflüssen daher, haben wir es hier jetzt mit vorwiegend Latin zu tun, was bei den 14 Songs des selbstbetitelten Vorgängeralbums hervorragend funktioniert. Cedric Bixler-Zavalas für viele Hörende sicher nervende Stimme kommt dabei sehr gut zur Geltung. Mir gefällt es.

The National – The First Two Pages Of Frankenstein – 4AD 2023

Die wunderbaren The National von Sänger Matt Berninger und den beiden Brüderpaaren Bryce/Aaron Dessner und Bryan/Scott Devendorf haben sich in diesem Jahr gleich mit zwei neuen Alben mit beinahe identischem Cover-Artwork gemeldet, deren zweites ich am 17.10.2023 besprochen habe. „Frankenstein“ haut in dieselbe Kerbe wie später „Laugh Track“, melancholische, melodiöse Indie-Musik, die auch nach dem 20. Hören nicht langweilig wird. Neben The War On Drugs und Wilco eine meiner Konstanten auf dem Feld der alternativen US-amerikanischen Rockmusik. Könnte ich beinahe immer hören.

Ryuichi Sakamoto – Travesía – Milan Records 2023

Außer seinem bereits ausführlich besprochenen Abschiedsalbum „12“ hat Sakamoto im vergangenen Jahr noch diese Zusammenstellung bereits veröffentlichter Songs aus 4 Jahrzehnten herausgebracht. Kuratiert wurde das Album von Sakamotos Freund, dem mexikanischen Filmregisseur Alejandro González Iñárritu. Zu hören gibt es knapp anderthalb Stunden Abwechslung, mal mit abgedrehten Synth-Orgien wie von Yellow Magic Orchestra bekannt, mal mit fernöstlicher Atmosphäre, mal ruhig und meditativ, dann mit Unterstützung von Youssou N’Dour auch mal afrikanisch, zwischendurch ein wenig Easy Listening und am Ende das virtuos-durchgeknallte fünfeinhalbminütige Klaviergehämmer „Composition 0919“.

Cattle Decapitation – Terrasite – Metal Blade Records 2023

Die Deathgrind-Institution aus San Diego liefert regelmäßig überzeugende Alben ab, auf denen sie unter anderem den Fleischverzehr und die Zerstörung der Erde durch den Menschen anprangert. Dementsprechend lohnt es sich immer, in die Lyrics reinzuhören, deren Brutalität kein Selbstzweck ist, sondern eher eine Mission. Und der brachiale Death Metal/Grindcore (manchmal, z.B. auf „Scourge Of The Offspring“, auch mit Deathcore-Elementen versehen) passt ganz hervorragend, um die politischen Aussagen der Songs musikalisch umzusetzen.

The Ocean – Holocene – Pelagic Records 2023

Meine Mutter würde sagen: The Ocean sind ein Unikum. Post/Prog Metal mit einer Stimme, die niemals nervt (Loïc Rossetti wechselt zwischen Klargesang und Geschrei immer so, dass es passt), Melodie, Sanftheit und größtmöglicher Härte in einem perfekten Wechselspiel, die Band aus Berlin schafft es sogar, ein Jahrzehnte umspannendes Konzept (seit ca. 20 Jahren thematisieren sie auf ihren Alben die Zeitabschnitte der Menschheitsgeschichte und sind mit „Holocene“ endlich in der Gegenwart angekommen) zu verwirklichen, ohne dass es allzu akademisch daherkommt. Brachiale, aber schöne und immer warm klingende Härte (hierzu einmal „Subboreal“ ab der Hälfte des Stücks anspielen) gehen einher mit sanfter Melodik (dazu einmal „Unconformities“ anspielen, auf dem Karin Park (eine Hälfte von Årabrot, mehr dazu später) im ersten Teil singt und den Song damit zu etwas Unvergleichlichem macht, in der zweiten Hälfte zeigen Rossetti und der Rest der Band dann den Hörenden, wo im Prog Metal der Hammer hängen kann) und machen „Holocene“ tatsächlich zu einem DER Hörerlebnisse von 2023.

Betontod – ZEIG DICH! – Betontod Records 2023

Nachdem Slime sich 2022 mit „Zwei“ neu erfunden haben, stellt sich die Frage, wer denn nun die Fahne des altmodischen, linken deutschen Punkrock hochhalten wird. Ohne Zweifel, es muss eine Band sein, die schon Jahrzehnte im Geschäft ist (wegen der Credibility), aber EA80 oder Pascow scheiden schon mal aus, weil sie zu sehr Kunst und nicht einfach mehr Haltung machen und daher von zu wenigen verstanden werden. Also nominiere ich Betontod aus Rheinberg in NRW, seit „Hals Maul Arsch Gesicht“ (danke Marleen, meine älteste Tochter, für diesen unfreiwilligen und umso besseren Tipp!) mein Favorit im deutschsprachigen Punkrock. Mit „Glück auf“ („Wir müssen aufhören, weniger zu trinken“) haben sich Betontod einen Platz im Olymp des Saufpunk gesichert, aber das ist nicht alles, was Betontod ausmacht. Das bereits erwähnte „Hals Maul Arsch Gesicht“ war ein Statement gegen Rechts und gegen Rechtspopulismus, das den „Schrei nach Liebe“ der Ärzte in die 2020er Jahre beförderte. Außerdem können Betontod richtig schöne Liebeslieder (Reinspieltipps „Diese Liebe“ und „Nie mehr St. Pauli ohne Dich“), die einem die Tränen in die Augen treiben und dennoch den Geist des Punkrocks hochhalten. Vollkommen hymnisch auch ohne platte Bilder wie beispielsweise „Bonnie & Clyde“. Mit „Zurück in Schwarz“ zeigen sie, dass sie sich auf historische Vorbilder (AC/DC?) beziehen und dabei dennoch etwas Neues – nämlich ein ganz wunderbares Deutschpunk-Liebeslied – zaubern können. Das zentrale Stück des Albums ist „Das Kapital“: „Zeig Dich – sei laut! Das Geld hat uns die Freiheit geraubt. Noch immer regiert das Kapital, es überlebte Kommunisten, Sozialisten und Faschisten.“ Schön und einfach auf den Punkt gebracht, und dann kommt noch ein Ton-Steine-Scherben-Zitat mit „Wer das Geld hat, hat die Macht. Wer die Macht hat, hat das Geld.“ Klasse. Zwei Songs später hören wir monotone Elektronik und dann „Tanz, tanz im Algorithmus, alle gegen alle und alle im Rhythmus.“ Parolen können sie, und die reißen einen mit. Beim letzten Stück „Mehr als Legende“ überraschen Betontod dann mit einer Akustikgitarre und es wird nachdenklich, wie die Toten Hosen es in den 80ern mit „Wort zum Sonntag“ vorgegeben haben, nur auf einem etwas elaborierterem Niveau. Groß.

Und das Ganze ist richtig schöön druckvoll produziert, dazu gibt es ein mehr als großartiges Coverartwork.

Pere Ubu – Trouble On Big Beat Street – Cherry Red 2023

Auf Pere Ubu aus Cleveland, Ohio ist Verlass. Auch im Jahr 48 nach ihrer Gründung hört die Truppe um den immer quietschend singenden David Thomas nicht auf, relevant zu sein. Tipp, um sich dem sperrigen Werk zu nähern (das hat bei mir schon 1995 bei „Folly Of Youth“ vom Album „Ray Gun Suitcase“ sehr gut funktioniert), ist das eröffnende Stück „Love Is Like Gravity“. Und wer schon immer mal wissen wollte, wie sich ein Theremin anhört, ist bei Pere Ubu goldrichtig aufgehoben.

Peter Fox – Love Songs – Warner Music 2023

Diese Frau, dieser Arsch, dieser Tag, dieses Leben. Diese unsterblichen Zeilen seiner Band Seeed! („Augenbling“ aus dem 2012er Album „Seeed“) und das komplette Album „Stadtaffe“ heben Peter Fox (nicht zu verwechseln mit Peter Hase) für mich in den Olymp der tanzbaren deutschsprachigen Popmusik. Mit „Love Songs“ kann Peter Fox an diese Großtaten nicht anknüpfen, obwohl die vorab veröffentlichte Single „Zukunft Pink“ das zunächst vermuten ließ. Aber wurscht, allein schon „Toscana Fanboys“, bei dem sich Fox von Adriano Celentano unterstützen ließ, rechtfertigt auch ohne eine neues größenwahnsinnig-melancholisches Haus am See den Kauf den Albums.

Baxter Dury – I Thought I Was Better Than You – Heavenly Recordings 2023

Baxter Dury, der Titan des zurückgelehnten Sabbelgesangs, erzählt aus seiner Kindheit. „Hey Mommy, hey Daddy, who am I? Who am I, Mommy?“, fragt Dury zu Beginn des ersten Stücks „So Much Money“. Dann trauriges Saxofon und Keyboard sowie ein schleppender Beat (die sich wie ein roter Faden durchs gesamte Album ziehen), dann wieder Gesabbel und die Antwort des Background-Gesangs „Never gonna be like us“. Ist das die Antwort von Mommy und Daddy? Man weiß es nicht, man weiß es nicht. Auch auf den weiteren Stücken erzählt Dury mit seiner bemerkenswerten Stimme und überlässt den Backgroundsängerinnen die Melodien, was zu tollen Dialogen führt. Mit siebenundwanzigeinhalb Minuten sehr kurz, aber das ist auch schon mein einziger Kritikpunkt.

De Staat – Red/Yellow/Blue – Virgin 2023

Danke, Matze (Herausgeber dieser Seiten), dass Du mir das aktuelle Album von De Staat (nachdem wir in Hannover einem ganz wunderbaren und denkwürdigen Konzert der Band beiwohnen durften) geschenkt hast. Zunächst gab es nämlich nur drei Singles mit jeweils zwei Stücken als Download, dann ein Album mit 12 Stücken und letzten Endes dieses Werk hier, mit 15 Songs. Und das ist toll. Mit den drei Farben kennzeichnen die durchgeknallten Niederländer um den charismatischen Frontmann Torre Florim die unterschiedlichen Stimmungen der Songs, wir haben es hier also mit einem abwechslungsreichen Album zu tun, das aber von Anfang bis Ende begeistert und mit „Who’s Gonna Be The GOAT?“ einen der größten und eingängigsten Hits der kuriosen Formation beinhaltet.

King Krule – Space Heavy – XL Recordings 2023

King Krule (eigentlich Archy Marshall) macht merkwürdige Musik, die sehr britisch klingt. Allein schon wegen des Gesangs, oft mehr gesprochen als gesungen. Das erste Stück „Flimsier“ beginnt mit einem Drone-Sound, der dann von einer schief anmutenden hallend-verzerrten Gitarre abgelöst wird, dann singt Marshall tatsächlich eine schöne Melodie und spielt dann gegen Ende noch ein langsames, sehr schön grungiges Gitarrensolo. „Pink Shell“ beginnt mit einem staksigen Basslauf, zu dem Marshall heiser krächzt. Weiter geht es dann mehr melodiös, später sind dann noch quietschende Saxofonsoli und immer wieder ein Zusammenspiel von Gitarre und Bass zu hören, das sehr schön an Darkwave aus den 80ern erinnert. Insgesamt ein sehr ruhiges, melancholisches Album, das sich lohnt, immer wieder gehört zu werden, weil es bei jedem Durchlauf neue Facetten zu entdecken gibt.

Squid – O Monolith – Warp Records 2023

Squid aus Brighton haben mich 2021 mit „Bright Green Field“ sehr begeistert, daher war ich sehr gespannt auf den Nachfolger „O Monolith“. Dieser beginnt mit einem elektrischen Klavier und einer Gitarre, dann setzen Schlagzeug und Gesang ein (Schlagzeuger Ollie Judge ist gleichzeitig der Sänger), ich warte darauf, dass der Song richtig losbricht, aber das passiert nicht, stattdessen übernimmt gegen Ende das Saxofon, Judge beginnt zu schreien, und mit schrammeliger Gitarre und einem schönen Sax-Solo klingt das erste Stück dann aus. Das Album fängt also schon mal gut an. Und geht ebenso gut weiter. „Devil’s Den“ beginnt als ruhige Ballade und steigert sich am Schluss in ein Krachgewitter aus Saxofon und Gitarren, um dann abrupt abzubrechen. Diesen Wechsel zwischen Ruhe und Krach beherrschen Squid nahezu perfekt, und oft legen Schlagzeug und Bass einen tollen Groove unter den Krach, der den Songs Struktur gibt. Dazu passt Judges immer leicht deprimiert klingender Gesang ganz hervorragend.

Greta van Fleet – Starcatcher – Republic Records/Lava 2023

Sie sind jung, sie sehen auf abenteuerliche Art scheiße aus, sie klingen wie schon mal dagewesen, und ich mag sie. Dabei hätte ich eine beinahe 1:1 nach Led Zeppelin und Konsorten klingende Jugendlichenkapelle normalerweise niemals eines Blickes gewürdigt, geschweige denn in deren Musik mal reingehört, wäre da nicht der Bandname. Vor Jahrenden weilte ich mit den Töchtern und deren Mutter in einem vorwiegend verregneten Sommerurlaub am Plauer See, und allabendlich fuhr auf dem Kanal vor den Fenstern unseres Ferienhauses die „Greta van Holland“ vorbei, ein ziemlich großes dunkelblaues Hausboot mit einer Kabine, deren Dach man hydraulisch einfahren konnte, um unter den Brücken der mecklenburgischen Seenplatte drunterdurch zu passen. Das Schiff war schön, das Schiff war einzigartig, das Schiff hieß wie meine jüngere Tochter (mit Vornamen, meine ich natürlich), kurzum: Ich war hin & weg. Dann hörte ich das erste Mal von Greta van Fleet, war neugierig ob des Namens und seitdem habe ich einen Narren an diesen größenwahnsinnigen Ex-Teenagern gefressen, die unverhohlen kopieren, was früher einmal war, und damit inzwischen Stadien füllen. Led-Zeppelin-Abklatsch hin oder her, GvF haben bei mir einen Stein im Brett, bzw. einen Zeppelin.

Imperial Triumphant – A Night In Tunisia (Covers Collection) – Century Media Records 2023

Imperial Triumphant hören sich irgendwie immer nur nach Imperial Triumphant an. Ist das überhaupt noch Metal? Pop ist es zumindest nicht. Mit 30 Minuten hat die neue Imperial-Triumphant-EP auch schon wieder eine Länge, die im Death Metal ein normales Album hat. Und hier wird gecovert, was das Zeug hält. Von Radiohead, Dizzy Gillespie, Metallica, Rush und Wayne Shorter. Und alles klingt immer nach Imperial Triumphant: Mahlendes Gedonner als Musik, gepresstes Gekrächze als Gesang – wunderschön wie immer. Wenn man gelernt kriegen will, dass man sich dem Original NICHT annähern muss, und zwar in keinster Weise, um es zu covern, der höre mal in „Motorbreath“ rein. Besser wurden Metallica m.E. noch nie nachgespielt. Und das Rush-Cover „Jacob’s Ladder“ ist um einiges härter als das von „Motorbreath“, unglaublich.

Joni Mitchell – Joni Mitchell At Newport – Rhino Records 2023

Ich muss ja zugeben, dass ich nie so richtig verstanden habe, was an Joni Mitchell so toll ist, bzw. was an ihr mal so toll war. Aber „Joni Mitchell At Newport“ ist OK, lässt sich gut hören und „Big Yellow Taxi“ klingt in der hier enthaltenen zeitgenössischen Live-Version geringfügig weniger nervig als das Original.

The Budos Band – Frontier’s Edge – Diamond West 2023

The Budos Band aus Staten Island gibt es schon fast 20 Jahre, aber bislang sind sie an mir komplett vorübergegangen. Durch eine Rezension auf laut.de bin ich dann auf die aktuelle EP aufmerksam geworden und ich bin begeistert. The Budos Band spielt bläserdominierte Instrumentalmusik. Gitarre, Bass und Schlagzeug sorgen für Rhythmus und den Rest macht eine hektisch-hysterische Bläsersektion. Teilweise (z.B auf „The Devil Doesn’t Dance) ist das eher repetitiv, mal groovt es lässig vor sich hin und klingt wie eine Filmmusik aus den 70ern („KRITN“), dann wieder wird so etwas wie ein altmodischer Rocksong, nur eben mit Bläsern anstelle von Gesang, simuliert („Curled Steel“). Kaum zu glauben, was in einer Spielzeit von nur gut 15 Minuten so alles passieren kann.

Crypta – Shades Of Sorrow – Napalm Records 2023

Crypta aus Brasilien ist eine der Empfehlungen von Christian, dem Lehrer aus Hannover, die ich nahezu immer hören könnte. Sängerin und Bassistin Fernanda Lira beherrscht beide Arten von Gesang: Wenn sie nicht growlt, dann screamt sie. Und verhaut derweil die Bassgitarre, während ihre Kolleginnen Tainá Bergamaschi (Gitarre), Jessica Falchi (Gitarre) und Luana Dametto (Drums) ziemlich düsteren und technisch über alle Maßen versierten Death Metal, der dennoch melodiös ist, spielen. Apseluter Anspieltipp: „Lift The Blindfold.“

My Ugly Clementine – The Good Life – My Ugly Clementine 2023

My Ugly Clementine aus Wien machen altmodischen Indie-Rock mit klassischer Gitarre/Bass/Schlagzeug-Besetzung. Da es mir schwer fällt, zu beschreiben, was für mich die Faszination der Band ausmacht, spiele ich Ihnen, liebe Lesenden, einfach das Video zu dem aus meiner Sicht bemerkenswertesten Song des aktuellen Albums, „Feet Up“, vor: Es beginnt damit, wie Mira Lu Kovacz, Sophie Lindinger und Nastasja Ronck nackt durch die Stadt laufen und dann einen Termin bei der Plattenfirma haben, deren Mitarbeiterin die drei Musikerinnen von der Notwendigkeit eines Namenswechsels zu überzeugen versucht. „The PRETTY Clementines“ schlägt sie mit euphorisch-wahnsinniger Gesichtsgestik vor. Dazwischen sehen wir My Ugly Clementine in so etwas wie einem Nirvana-Video, Mira Lu Kovavcs mit einer Bommelmütze Gitarre spielend wie weiland John Frusciante im Video zu „Under The Bridge“, und im Hintergrund prangt ein großer „The Pretty Clementines“-Schriftzug. Und der Song ist richtig, richtig gut, da mal reinhören und dann das ganze Album kaufen ist genau die Strategie, die ich empfehle. Und jeder weiß, dass ich Verallgemeinerungen, Vergleiche und bildhafte Sprache stets meide wie der Teufel das sprichwörtliche Weihwasser: Aber ich muss noch kurz loswerden, dass My Ugly Clementine mich 2023 so begeistert haben wir die Breeders damals, als ich noch jünger war.

Alice Cooper – Road – Ear Music 2023

Gut abgehangener Hardrock, der süffig-satt aus den Boxen perlt. Ein Muss von einem Silberling, den jede:r, die/der anspruchsvolle Stromgitarrenmusik zu schätzen weiß, in ihrem/seinem Regal zu stehen haben sollte. Macht man nichts falsch mit. Und es ist eine gruselige Spinne auf dem Cover.

U.D.O – Touchdown – Atomic Fire 2023

Udo Dirkschneider erreicht im besten Alter (mittlerweile ist er genau einen Tag und 21 Jahre älter als ich) den Zenit seiner Produktivität: Nach „We Are One“ (2020 – U.D.O. zusammen mit dem Musikkorps der Bundeswehr), „Game Over“ (2021) und dem Coveralbum „My Way“ (2022, nicht als U.D.O. sondern unter seinem bürgerlichen, dem „most metal name of all time“ veröffentlicht) legte er im vergangenen Jahr mit „Touchdown“ gehörig nach: Udo überrascht nicht, Udo enttäuscht nicht, Udo singt wie weiland in den späten 70ern und frühen 80ern auf den Klassikern seiner damaligen Band Accept, die entscheidend dazu beitrugen, Deutschland zu einer wichtigen Heavy-Metal-Nation zu machen. Auf „Touchdown“ kriegen wir genau den energiegeladenen Metal alter Schule, für den wir den gebürtigen Wuppertaler so lieben. Anspieltipp: „Fight For The Right“, und hier unbedingt Andrey Smirnovs langes Gitarrensolo anhören: Da baut er unter anderem den Türkischen Marsch von Mozart ein und erreicht damit meines Erachtens die Klasse von Wolf Hoffmanns 1985er Solo auf dem Titelsong des Accept-Albums „Metal Heart“.

Courtney Barnett – End Of The Day – Milk! Records/Mom + Pop 2023

Courtney Barnett ist sooo toll: Mit Albumtiteln wie „Sometimes I Sit And Think, And Sometimes I Just Sit“ (2015) oder „These Things Take Time, Take Time“ (2021) bringt sie mich immer zum Lachen, darüber hinaus hat sie zusammen mit Kurt Vile das ganz wunderbare „Lotta Sea Lice“ (2017) aufgenommen. Und zum Song „Rae Street“ von „These Things Take Time, Take Time“ hat sie eines der schönsten Musikvideos aller Zeiten herausgebracht, in dem sie alle Hauptrollen selber spielt und sich dabei andauernd auch selber über den Weg rennt und das Alltagsszenen in einer Wohnstraße während der Corona-Pandemie zeigt. Auf „End Of The Day“ zeigt sich Barnett von einer ganz anderen Seite: Gesang fehlt hier völlig, das Album besteht aus psychedelisch hallenden Gitarreninstrumentals. Es handelt sich um den Soundtrack zum Film „Anonymous Club“, einem Biopic über Courtney Barnett. Und wer anders als die Künstlerin selbst hätte da für den Soundtrack sorgen sollen?

Cryptopsy – As Gomorrah Burns – Nuclear Blast Records 2023

So – und nach diesem Moment der Ruhe mit Courtney Barnett aus Australien kommen wir nun zu etwas Krach aus Kanada:

Cryptopsy sind seit rund 30 Jahren eine feste Größe im Death Metal, außerdem gehören sie zu den Pionieren des Technical Death Metal. Und für den stehen sie auch 2023 noch: Hohes Tempo, hohe technische Kompetenz und brutales Gegröhle („gutturaler Gesang“, wie die deutsche Wikipedia immer schreibt; warum bei vielen anderen Bands nicht „Klargesang“ steht, erschließt sich mir nur bedingt und widerwillig) gehen Hand in Hand und sorgen auch auf „As Gomorrah Burns“ für anerkennendes Kopfnicken der Zuhörenden.

Dying Fetus – Make Them Beg For Death – Relapse Records 2023

Ebenfalls schon seit über 30 Jahren sind Dying Fetus im Brutalen Technischen Death Metal zuhause. Abstoßendes Albumcover, verstörender Bandname und auch hier viel schnelles, hartes, technisch versiertes Geknüppel – „Make Them Beg For Death“ macht viel Freude, nicht nur an dunklen Tagen.

Fleetwood Mac – Rumours Live – Warner Records 2023

Fleetwood Mac müssen in den 70ern eine der besten Livebands überhaupt gewesen sein. Eine der besten Studiobands aller Zeiten sind sie ja ohnehin. Auf „Rumours Live“ gibt es nun ein bisher unveröffentlichtes Konzert aus 1977 zu hören, in sehr passabler Tonqualität und mit einer hoffnungslos zerstrittenen Band in Hochform. Das Album enthält das „Rumours“-Album fast komplett und weitere Großartigkeiten wie eine achtminütige Version von Stevie Nicks’ unglaublichem Hexen-Song „Rhiannon“ vom 1975er Album „Fleetwood Mac“. Wenn der Platz auf der einsamen Insel knapp wird: Das hier und die Extended Version von „Tango In The Night“ einpacken, und Fleetwood Mac sind gut vertreten.

Kvelertak – Endling – Rise Records 2023

Bei Kvelertak weiß ich nicht, wieso ich die mag, aber ich mag sie. Kein Song bleibt so richtig im Ohr, aber der Gesamteindruck ist stimmig. Irgendwie Schweinerock für Leute, die auch Black Metal mögen, mit guter Produktion.

Mayhem – Daemonic Rites – Century Media 2023

Mayhem, ja Mayhem, oh Mann. Urgesteine des norwegischen Black Metal, ein toter Sänger, der nur auf dem Bootleg „Live in Leipzig“ auf Tonträger veröffentlicht ist, ein toter Gitarrist, der irgendwie auch ein ziemlich egomanisches Arschloch gewesen sein muss, und ein mordender Ex-Bassist, der a) ein noch egomanischeres Arschloch ist als besagter Gitarrist und b) inzwischen rechtsextremen Gedankengut verfallen ist und c) auf Betreiben der Mutter des besagten Gitarristen von den Tonspuren des Mayhem-Debütalbums getilgt wurde. Und sowas hält sich schon seit über 30 Jahren? Bevor wir jetzt alle nach Hahnenklee fahren und Stabkirchen (nicht „Stabskirchen“) brandschatzen, halten wir mal inne und hören uns „Demonic Rites“ an: Das Album beginnt mit neueren Songs und mit „Freezing Moon“ wird dann eine Rückschau auf das Frühwerk eingeleitet, die bis zu „Pure Fucking Armageddon“ von 1986 zurückreicht. Die Band um Necrobutcher (Bass) und Hellhammer (Schlagzeug) – geil diese Namen, und irgendwie auch trve – gibt alles und Attila Csihar liefert wie immer einen überzeugenden Gesang ab, wenn man denn bei seinem Krächzen und Kreischen überhaupt von Gesang sprechen kann.

TesseracT – War Of Being – Kscope 2023

Nervender Gesang zum Dritten. Das Werk von TesseracT aus Milton Keynes (ja, der Herkunftsort trägt zufällig denselben Namen wie der Mann, der hinter „Jazz Sabbath“ steckt) verfolge ich schon seit nahezu von Anbeginn und ich muss sagen, es taugt mir. Obwohl der Gesang trotz des inzwischen gefühlt 25. Sängerwechsels nicht besser wird (inzwischen singt aber wieder der Typ vom ersten Album, Daniel Tompkins, das ist wenigstens konsequent. Und bei Dream Theater wäre sowas beispielsweise nicht mehr möglich.). Musikalisch finde ich TesseracT – bis auf die weichere Phase einige Alben zuvor – über jeden Zweifel erhaben, und wenn Tompkis growlt oder screamt, gibt es auch an seinem Gesang nichts auszusetzen. Aber zurück zur Musik: Bass und Schlagzeug sorgen zusammen mit der palmgemuteten Gitarre für einen schönen Groove, gleich das Eröffnungsstück „Natural Disaster“ bildet da ein gutes Beispiel für. Und so setzt es sich fort, kurz gesagt: Groove gut, Djent gut und über den Klargesang kann man auch prima drüberweghören.

Willie Nelson – Bluegrass – Legacy/Sony Music 2023

Willie Nelson ist im vergangenen Jahr 90 Jahre alt geworden und somit einer der dienstältesten Künstler. Ist er noch relevant, oder eher so ein Johannes Heesters des Outlaw-Country, der sich von einer Baumarkteröffnung zum nächsten Altstadtfest covert? Ich kann Sie beruhigen, liebe Lesende, ein neues Nelson-Album ist immer noch ein Garant für gehobene Unterhaltung und gute Laune beim Hören. Seine näselnde Stimme ist unverkennbar wie immer, und auf „Bluegrass“ nimmt er sich zwölf seiner eigenen Stücke vor (wobei „A Good Hearted Woman“ von Waylon Jennings mitgeschrieben wurde) und trägt sie in wundervollen Bluegrass-Versionen vor. Es gibt also viel Banjo und Fiedel und dazu ganz viel von Nelsons Gesang. Die 90 hört man ihm dabei in keiner Sekunde an.

Doja Cat – Scarlet – Kemosabe Records/RCA 2023

Doja Cat traut sich was und lässt ihre Fans in den sozialen Medien wissen, dass sie ihr eigentlich herzlich egal sind, weil sie sie ja ohnehin nicht kennt. In „Fuck The Girls“ verdeutlicht sie diese Haltung auf selbstbewusste und latent aggressive Weise. Kann man jetzt drüber denken, was man will, zumindest leben Künstler:innen mit vielen Fans in deutlich mehr Wohlstand als solche ohne Fans. Musikalisch ist „Scarlet“ nach dem Pop-Vorgänger „Planet Her“ wieder ein reines HipHop-Album, was mir deutlich besser gefällt, zumal die Beats schön 90er-Jahre-mäßig klingen, womit ich als eigentlich Nicht-HipHop-Hörer mehr anfangen kann als mit so manchem moderneren Kram. Da ich nicht ihr Fan bin, aber ihre Musik mag, gehöre ich also zur Zielgruppe von „Scarlet“.

Thy Art Is Murder – Godlike – Human Warfare 2023

Ha, ich mag nicht nur keinen HipHop, sondern auch keinen Metal- oder Deathcore. Und wie beim HipHop gibt es auch hier Ausnahmen, so zum Beispiel Thy Art Is Murder. Auch von dieser Band bin ich kein Fan, höre sie aber ganz gerne und ich erspare Ihnen jetzt auch die abgegrabbelte Geschichte, dass die Band die Veröffentlichung des Albums um eine Woche verschieben musste, um die Gesangsspuren durch Tyler Miller neu aufnehmen zu lassen, weil sie mitgekriegt hatte, dass der bisherige Sänger CJ McMahon eine transphobe Einstellung hat. Ich begrüße diesen Schritt ausdrücklich und gesanglich passt die Arbeit von Tyler Miller prima zur Musik. Diese ist wieder düster, frustriert und melodisch geraten, mein Highlight ist „Lesson In Pain“, bei dem sich eine apokalyptisch-klirrende Gitarrenmelodie über einen monolithischen, palmgemuteten Brecher von einem Riff legt, zwischendurch immer mal wieder ein einzelner verzweifelter Gitarrenton dazwischenkreischt und Miller böse dazu growlt. Dabei hält sich die Band – wie überhaupt allgemein auf dem Album – mit Deathcore-typischen Breakdowns eher zurück und lässt die Songs fließen und alles mit sich reißen.

The Hirsch Effekt – Urian – Long Branch Records/SPV

Ein neues Album vom Hirsch Effekt ist immer ein Ereignis, und immer beginnt es mit dem Coverartwork. The Hirsch Effekt wissen, Ekeleffekte zu erzeugen, ohne eigentlich etwas wirklich Ekliges abzubilden. „Urian“ ziert eine gehörnte Schaufensterpuppe unter einer Plaste-Schicht. Also eine absolute Normalität, dennoch sehe ich mir das Bild nicht so gerne an.

Wie einige der anderen hier besprochenen Bands sind auch die Post-Prog-Math-Metaller aus Hannover so ein Kandidat, bei denen ich nicht sicher bin, ob ich den Gesang mag oder ihn einfach ertrage, weil mir die Musik gefällt. Nils Wittrock singt genreuntypisch auf Deutsch, viel verstehen kann man nicht, aber wenn, dann gibt es Sachen zu hören wie „Du hast gar nichts, nichts zu tun mit meinem Plan. Und genauso unausdenkbar, hab’ ich mir dich nicht vorgestellt. Und genau deshalb bist du ganz wunderbar.“ („Stegodon“). Hört sich zugegebenermaßen großartig an. Musikalisch ist „Urian“ ein ruhiges Album mit streckenweise spärlich eingesetzter nur leicht verzerrter Gitarre, dann wieder donnert es los, auch hier wird viel Gebrauch von der Handfläche der Anschlagshand zum Abdämpfen der Saiten gemacht und Wittrocks klarer Gesang – ob man ihn mag oder nicht – passt da prima rein. Was mir bei The Hirsch Effekt immer auffällt, ist, dass selbst die krachigsten Passagen, in denen Wittrock dann auch mal schreit, aufgeräumt und übersichtlich und nie nach wirklichem Krach klingen – eventuell ist da ja dieser Hirsch-Effekt, nach dem sich die Band benannt hat.

Wilco – Cousin – dBpm Records 2023

Nach dem sehr countrylastigen und ganz wunderbaren Album „Cruel Country“ wenden sich Wilco auf „Cousin“ wieder ihrem typischen Indie-Folk zu. Mit Cate Le Bon hat zum ersten Mal seit 2009 eine band-externe Person die Produktion übernommen und ich finde, sie hat einen guten Job gemacht. Mit „Infinite Surprise“ beginnt das Album ruhig, auffallen tut, dass Jeff Tweedy heiser und irgendwie gehetzt-hingehaucht singt, was gut zu dem Song passt. Am Ende ist dann das Kratzen einer nicht bestimmungsgerecht eingesetzten Plattenspielernadel zu hören, das tut echt weh. „Ten Dead“ zeigt dann einen ganz anderen Jeff Tweedy, der zu schönen Gitarren- und Klavierakkorden entspannt vor sich hin singt. Mit „Levee“ folgt dann ein wunderschöner Indie-Pop-Song für die Ewigkeit. Tweedy singt irgendwie verloren über Liebe und Gerettetwerden und stellt gleichzeitig immer wieder alles in Frage. Ähnlich ratlos geht es auf „Evicted“ weiter, ein vielleicht noch poppigerer und auch sehr schöner Song. Typisch Tweedy, lieblich anmutende Musik mit innerer Zerrissenheit zu kombinieren. Es folgen einige ruhige Balladen und gegen Ende nimmt das Album auf den beiden letzten Stücken nochmal ein wenig Fahrt auf und entlässt die Hörenden gut gelaunt und wie immer leicht verwirrt in die Nacht.

Wolves In The Throne Room – Crypt Of Ancestral Knowledge EP – Relapse Records 2023

Die Post-Black-Metal-Landkommune Wolves In The Throne Room veröffentlicht mit „Crypt Of Ancestral Knowledge“ zwei neue und zwei neu betitelte und neu eingespielte alte Stücke. Mit ihrer Mischung aus getragenen Melodien, langsam aufspielenden Saiteninstrumenten, düsteren Keyboardteppichen und einem beschwörenden, raunend krächzenden Gesang (das Schlagzeug ist dabei blackmetaltypisch ganz weit nach hinten gemischt) erzeugen sie wie immer eine ganz besondere, irgendwie heimelige, aber dennoch beängstigende Stimmung. Diese EP kann man wie auch ihre Alben als Untermalung im Hintergrund laufen lassen oder sich mit voller Aufmerksamkeit hineinfallen lassen, es ist immer wunderschön.

Sufjan Stevens – Javelin – Asthmatic Kitty Records 2023

Bei jedem neuen Album von Sufjan Stevens brauche ich immer einige Wochen oder auch Monate, um damit warm zu werden, dafür schließe ich es dann meist so richtig ins Herz. Somit ist „Javelin“ prädestiniert für diese Rubrik, immerhin ist es inzwischen mehr als drei Monate alt und ich habe es hinreichend oft gehört, um mir ein Urteil anzumaßen.

„Goodbye Evergreen“ beginnt ruhig, wird aber nach einer guten Minute industrial-krachig. Man darf sich nicht von Stevens’ sanfter Stimme irreführen lassen – er kann auch hart. Auf „A Running Start“ ertönt dann wieder Stevens’ Signature-Instrument, das Banjo, und Höhepunkt des Albums ist das achteinhalbminütige „Shit Talk“, auf dem Bryce Dessner von The National an der Gitarre mitwirkt. Eine sehr schöne sanfte Folk-Ballade mit tonnenschwerem Background-Gesang im Hintergrund.

Das Neil-Young-Cover „There’s A World“ beschließt dann das Album. „Javelin“ ist Stevens’ verstorbenem Lebenspartner Evans Richardson gewidmet und zeigt nach „Carrie & Lowell“ (2015, das Album thematisiert den Tod von Stevens’ Mutter und ihre Beziehung zu seinem Stiefvater) wieder einmal mehr, wie Stevens in der Lage ist, Trauer und Verzweiflung in wunderschöne Musik umzusetzen. Beim Hören habe ich mich immer wieder gefragt, ob ich dem Künstler eigentlich überhaupt so nahe treten darf, mir das anzuhören, aber genau dafür ist das Album ja schließlich gedacht.

Årabrot – Of Darkness And Light – Pelagic Records 2023

Aus Norwegen kommt nicht nur Black Metal, Post Black Metal oder Black’n’Roll oder gar nicht einzuordnendes, gutes Zeug wie beispielsweise Ulver. Wobei – auch bei Årabrot fällt mir eine Einordnung schwer. Ich bin nicht sicher, ob das überhaupt Heavy Metal ist, auch wenn es immer in Metal-Magazinen rezensiert wird. Auf jeden Fall steckt auch viel Post Punk und Noise Rock drin, dazu noch viel Wucht und Melodie und schöne Keyboards (gespielt von Årabrots zweiter Hälfte Karin Park, oben schon im Abschnitt zu The Ocean erwähnt). Man vergleiche nur mal „You Cast Long Shadows“, das am ehesten an 80er-Jahre-Wave- oder -Indierock erinnert, und „Cathedral Light“, das gleich zu Anfang holpernd lospoltert und dann ein schweres, doomiges Riff auf 80er-Jahre-Keyboards treffen lässt. Dazu kommt dann noch der wütende Gesang von Kjetil Nernes (im Übrigen Karin Parks Lebensgefährte) und man bekommt so ungefähr einen Eindruck von Årabrots stilistischer Bandbreite. Das Album braucht etwas Zeit und entwickelt sich dann zum Ohrwurm.

Rick Astley – Are We There Yet – BMG 2023

Neben Shakin’ Stevens (besprochen in Krautnick am 05.05.2023) ist das hier meine persönliche Überraschung des Jahres. Als zugegebenermaßen echter Spätmerker habe ich erst, nachdem ich bei meinem Lieblingsversandhaus in der Warteschleife „Never Gonna Give You Up“ gehört hatte, gemerkt, dass darum längst ein weltweiter Hype entbrannt war. Matze hat mich dann noch auf Astley großartigen Glastonbury-Auftritt, auf dem er auch einige Songs der Smiths sang, aufmerksam gemacht, dann kam das aktuelle Album mit dem ganz hervorragenden Titel, bekannt und beliebt aus Urlaubsreisen per Auto mit Kindern auf dem Rücksitz. Es enthält 12 wundervolle Popsongs voll herrlicher Melodien und Astleys Stimme wird mit fortschreitendem Alter immer besser. Danke, Get Digital, danke, Rick Astley!

The Streets – The Darker The Shadow The Brighter The Light – Warner Music 2023

Seit Mike Skinner sein Projekt The Streets 2011 eigentlich auf Eis gelegt hatte, hat er bereits wieder zwei herovrragende Alben unter diesem Namen aufgenommen, das zweite davon ist das vorliegende. Am Vortrag des Londoner Rappers mag ich seine lakonische Art zu rappen und seinen leichten Londoner Dialekt. Bereits auf dem ersten Song „Too Much Yayo“ spricht er Zeilen wie „Living in the present is like trying to sit on the very, very head of a pin which is why we try to lose our heads whatever the thing. But you can’t run away from this, there’s no place that far.“ Klingt nach wenig Hoffnung und so geht es auch in den nächsten Songs weiter. Die Musik reicht von trockenen Beats (das bereits angesprochene Stück), Anflügen von house-ähnlichem Eletronikgeplucker („Money Isn’t Everything“) bis hin zu Reggae („Something To Hide“). In dieser Abwechslungsreiche geht es weiter, ein weiteres sehr gutes Album von The Streets.

Cirith Ungol – Dark Parade – Metal Blade Records 2023

Bereits seit 1980 veröffentlichen Cirith Ungol Alben, mit einer Unterbrechung von 1991 bis 2020, da die Band zwischen 1991 und 2016 aufgelöst war. „Dark Parade“ ist das zweite Post-Reunion-Album, und wie auf jedem Werk der nach irgendeinem Dings aus Herr der Ringe benannten Band ist dort ein blasser dünner Herr mit langem weißen Haar abgebildet. Es handelt sich dabei nicht um Johnny Winter, sondern um Elric of Melniboné, der für Cirith Ungol quasi das darstellt wie Eddie für Iron Maiden oder der Voivod für Voivod. Musikalisch bekommen wir anspruchsvollen leicht düsteren, Mid-Tempo-Powermetal mit langsamen, schön doomigen Gitarrensoli und dem Trademark-Gesang von Tim Baker, der immer so klingt, als würde er gleich mal so richtig loskeifen, wenn er sich nicht mit aller Macht zusammenrisse.

Suffocation – Hymns From The Apocrypha – Nuclear Blast Records 2023

Davon kann bei Suffocations Ricky Myers nicht die Rede sein: Hier wird sich nicht zusammengerissen, sondern munter drauflos gegröhlt, wie sich das im brutalen technischen Death Metal gehört. Midtempo bis Thrash-Tempo, schnelle Soli, dröhnende und quietschende Riffs, dazu neun Songtitel, die Tod und Verderben im Titel tragen („Embrace The Suffering“, „Delusions Of Mortality“), – „Hymns From The Apocrypha“ ist zusammen mit den aktuellen Werken von Dying Fetus und Cryptopsy eines der 2023 in meiner Küche am meisten gehörten Death-Metal-Alben, noch vor „Chaos Horrific“ von Cannibal Corpse.

Cat Power – Cat Power Sings Dylan – The 1966 Royal Albert Hall Concert – Domino 2023

Cat Power geht bei und spielt Dylans 1966er Judas-Auftritt nach, und das macht sie hervorragend. Einzig den elektrisch verstärkten Stücken hätte ich mehr Power (no pun intended) gewünscht, aber ansonsten passt alles. Ach ja, Frau Power singt besser als Dylan, aber tun wir das nicht letzten Endes alle?

Sodom – 1982 EP – Steamhammer/SPV 2023

Sodom erinnern 2023 mit „1982“ an das Jahr ihrer Bandgründung und packen noch vier Coverversionen älterer Sodom-Stücke auf die EP mit bei. Heißt das „Cover“, wenn man sich selber covert? Egal, Sodom haben sowas schon öfter gemacht, war immer gut gewesen, so auch hier.

Helga – Wrapped In Mist – Season Of Mist 2023

Witze mit Namen (wie z.B. „Zum Glück heißt das Label nicht ‚Season Of Slime‘ oder ‚Season Of Total Peinliches Einhorn-Geschenkpapier‘“) spare ich mir jetzt mal – auch wenn mir das seeeehr schwer fällt, meine Damen und Herren. Und dass „Helga“ auf Metal-Festivals quasi das Pendant zu Hildegard darstellt, musste ich mich erstmal vom Herausgeber dieser Seiten lernen lassen.

Nu aber mal im Ernst: Helga ist in erster Linie die schwedische Sängerin Helga Gabriel, die inzwischen im Vereinigten Königreich (former member of the EU) lebt und dortselbst die selbstbetitelte Band gegründet hat. Sie machen Musik an derselben Grenze zum Metal, wie es auch sagen wir mal Myrkur, Chelsea Wolfe oder Hildegard von Hausswolff tun. Anna, sorry. Und das machen sie ebenso gut, das Album ist großartig geworden.

Orphaned Land – A Heaven You May Create – Century Media 2023

Zum 30. Bandjubiläum legen Orphaned Land ein Live-Album vor, das vor 2.500 Zuschauern zusammen mit einem 60köpfigen Orchester in Tel Aviv aufgenommen wurde. Die israelische Band setzt sich schon immer für das friedliche Zusammenleben jeglicher Religionen ein, zeitlich passender hätte dieses Album also nicht veröffentlicht werden können. Und das Album ist gut, sehr gut, enthält vorwiegend Stücke aus ihrem zentralen Werk „Mabool – The Story Of The Three Sons Of Seven“ und auch einiges von ihrem letzten Studio-Album „Unsung Prophets & Dead Messiahs“ (2018). Orphaned Land lohnt es sich nicht nur wegen ihrer aufrechten Haltung inmitten des Nahostkonflikts zu hören, sondern auch wegen ihrer Musik, einer progressiven Mischung aus Power Metal, Death Metal und orientalischer Musik.

Peter Gabriel – i/o – Real World Records 2023

Und nun bekommen wir es mit dem „Smile“ oder dem „Chinese Democracy“ von Peter Gabriel zu tun: Über 20 Jahre hat Gabriel an „i/o“ gearbeitet und dann innert zwölf Monaten – immer zum Neumond – alle Stücke nacheinander veröffentlicht. Jetzt gibt es alle zwölf Songs in je zwei Versionen (Bright Side Mix und Dark Side Mix) auf einer Doppel-CD, und siehe da – das Warten hat sich gelohnt. Der inzwischen knapp 74jährige Künstler sollte zwar seine Bartmode mal überdenken, aber ansonsten finde ich nichts auszusetzen: Gabriel verfügt immer noch über diese einzigartige Stimme, die schon bei „Solsbury Hill“, „Sledge Hammer“ oder „Don’t Give Up“ begeistert hat (warum ich jetzt keine im Foxtrot auf dem Broadway liegenden Lämmer erwähne, liegt daran, dass mir Gabriels Stimme tatsächlich auf den Solo-Alben, also mit zunehmendem Alter, mehr taugt als auf den großartigen Veröffentlichungen mit Genesis), er denkt sich Melodien und Rhythmen aus, die sich auch beim 100. Hören nicht abnutzen, und musikalisch gibt es an seinem wirklich zeitlosen Progressive Pop auch 2023 nichts zu meckern.

Lord Of The Lost – Weapons Of Mass Seduction – Napalm Records 2023

Völlig zu Unrecht den ESC verkackt – drauf geschissen, die fünf Hamburger um Sänger Chris Harms scheißen sich nix und hauen erstmal ein Coverersionen-Doppelalbum raus. CD 2 enthält bereits bekannte Stücke, die auf der Bonus-CD zu einer übersichtlichen Sammlung zusammengefasst wurden, wie z.B. das tolle „The Look“ von Roxette, zusammen mit Blümchen, das wir vom letztjährigen Album kennen.

Ich finde ja eigentlich diesen ganzen Gotik-Metall nicht so prickelnd, also entweder Gothic oder Metal, aber wie überall anders auch (Deathcore, HipHop) kenne ich auch hier Ausnahmen, und LotL haben bei mir warum auch immer einen Stein im Brett. Auf dem vorliegenden Album auf jeden Fall schon deshalb, weil sie mühelos in der Lage sind, jedem gecoverten Stück ihren unverwechselbaren Stempel aufzudrücken und dennoch den Geist des Originals nicht plattzumachen.

Von Billy Idol („Shock To The System“) bis Michael Jackson („Give In To Me“) reicht die Palette der Originalartisten; besonders hervorheben möchte ich hier die LotL-Versionen von Ultravox’ „Hymn“, Bronski Beats „Smalltown Boy“ und Cutting Crews „(I Just) Died In Your Arms“. Letzteres finde ich im Original so schlecht gealtert, dass ich es nicht mehr hören mag, bei Lord Of The Lost klingt es wirklich schön, und die im ESC-Vorentscheid unterlegene Anica Russo für dieses Lied mit ins Boot zu holen, ist eine schöne Geste und macht sich auch musikalisch gut. Und „Turbo Lover“ von Priest passt stilistisch so gut zu Lord Of The Lost, dass man meinen könnte, Halford & Co. hätten es Mitte der 1980er eigens für die Hamburger geschrieben, die damals immerhin schon geboren waren.

Auf der Bonus-CD geben sich zahlreiche Songs von Titanen der Musikgeschichte die Klinke in die Hand (Iron Maiden, Lady Gaga gleich 2x, Pet Shop Boys, Duran Duran) – und dazu noch „Ordinary Town“ von Celebrate The Nun. Ja genau, der ehemaligen Band des unsterblichen H.P. Baxxter.

Guidos 2023 unrezensierte Rezensionen als Podcast, gelesen von ihm selbst: