Giraffe – Anna Sofie Hartmann – DE/DK 2019

Von Matthias Bosenick (23.11.2019)

So viel gewollt und am Ende doch nichts erreicht: Regisseurin Anna Sofie Hartmann will von ihrer Heimat erzählen, der dänischen Insel Lolland nämlich, und was es dort mit den Menschen macht, dass der Tunnel nach Fehmarn nun endgültig beschlossen ist. Sie lässt dabei zahlreiche Schicksale anklingen, führt aber nichts zu einem emotional berührenden oder auch nur narrativ überzeugenden Ausgang. Eine verschenkte Chance, die einem sogar leidtut, weil man die grandiosen Ideen erkennt. Schade!

Dabei geht es so vielversprechend los: Dara interviewt ein altes Landwirtpaar, das wegen der neu zu bauenden Autobahn seinen Generationenhof aufgeben muss. Da fließen Tränen, und man versteht die Trauer. Anschließend schweift die Kamera über herrliche süddänische Landschaften und fängt die Anlegeprozedur der Fähre in Rødbyhavn ein. Für Dänemarkreisende herrliche, wehmütige Bilder. Dann verfolgt man Dara bei ihrem Tun – und räkelt sich bald gelangweilt in seinem Kinositz.

Diese Dara ist offenbar – man muss sich viele Informationen zusammenreimen – eine Archäologin, die im Auftrag von irgendeiner Behörde die Gegend entlang der neuen Autobahntrasse daraufhin untersucht, ob Wissenschaftler dort tätig werden müssen oder ob die Abreißunternehmen einfach zuschlagen können. Sie begegnet polnischen Leiharbeitern, die Glasfaserkabel für die künftigen Arbeiterhäuser am Tunnel legen sollen, bildtelefoniert mit ihrer Mutter in Schweden und ihrem Freund in Berlin, kategorisiert ihre Funde, hört sich von ihrer Fährangestelltenfreundin Geschichten über Reisende an und entdeckt ein aufgegebenes Bauernhaus mit dem Tagebuch der einsamen Bibliothekarin Agnes, die dort über 40 Jahre lang lebte. Sie begibt sich auf die Suche nach Menschen, die diese Agnes gekannt haben mochten, und – hat Sex mit Lucek, dem polnischen Bauarbeiter.

Der Versuch, emotional nachvollziehbare Schicksale zu generieren, schlägt bei Hartmann leider komplett fehlt. Alles bleibt statisch, leer, reduziert, endet im Nichts. Es gibt Analogien zwischen ihrer Einsamkeit und Agnes, wenn man die entdecken will, und – so erläuterte Hartmann beim Braunschweiger Filmfest – zwischen der Giraffe, die tatsächlich in Lolland lebt, im Safaripark Knutheborg nämlich, und den entwurzelten Menschen, die sie zeigt. Aber so leer wie deren Leben bleibt auch der Film. Das Grillfest der Polen hat noch etwas Dynamik, aber sobald diese – kritisches Thema, übrigens – von ihrem Auftraggeber abgezockt werden und trotz entgegengesetzter Träume nach Polen zurückkehren müssen, entlädt sich nicht etwa Wut, sondern gehen die Arbeiter einfach nach Hause. Ende. So ziemlich jeder Handlungsstrang versandet, die sich als Dreiecksbeziehung herausstellende Sexgeschichte, die Artefaktsuche, die Gespräche mit der Freundin auf der Fehmarnbeltfähre: Nichts hat Substanz. Wenigstens das Meer ist schön.

Allein mit der Vielsprachigkeit sind ideale Grundlagen für einen spannenden Film gegeben. Man hört so viele Sprachen, Schwedisch, Dänisch, Polnisch, Deutsch, Englisch; dieser Tunnel ist ein europäisches Thema. Es hätte doch so viel zu erzählen gegeben. Von Menschen, die sich über den Tunnel schneller treffen können. Von der jetzt schon grassierenden Strukturschwäche rund um Rødby, das aufgrund einer Kommunalreform wie viele randgelegene Städtchen in Dänemark allmählich verrottet. Von denen, die dableiben müssen, und was sie für Erwartungen haben. Von Technikern, Planern, Politikern, Widerständlern, Händlern, Vergnügungsparkbetreibern, Fährangestellten, Reisenden – einiges erscheint gelegentlich irgendwo im Hintergrund angeschnitten, bekommt aber keine Plattform. Stattdessen: Sex und Herzbruch.

Der Film entstand überwiegend mit Laiendarstellern, doch anders als etwa bei Mike Leigh bringen die kein eigenes Temperament mit, sondern sprechen und bewegen sich statisch, wie auswendiggelernt. Und genau das sind die Dialoge auch, wie Hartmann verriet: ohne Improvisation. Da hätte sie ihren Darstellern mehr Vertrauen und Freiraum geben dürfen. Gelungen ist indes, dass dieser Film streckenweise wie eine Dokumentation wirkt, aber sämtliche gezeigten Funde wie Fotos und Tagebuch frei erfunden sind oder aus eigenem Haushalt der Regisseurin stammen.

Als Produzentin gewann Hartmann übrigens unter anderem Maren Ade, die seinerzeit mit ihrem Film „Toni Erdmann“ überraschende Erfolge feierte. Dieser Art werden die von „Giraffe“ leider nicht sein, dafür hat der Film zu wenig Substanz. Und doch ist er dazu in der Lage, im Nachhinein lange Diskussionen anzuregen. Nicht zwingend zu seinen Gunsten, aber überhaupt. Und wird man die Fähre nicht eines Tages vermissen, auch wenn der Trip nach Kopenhagen dann eine Stunde weniger dauert?