Einstürzende Neubauten – Alles in Allem – Potomak 2020

Von Matthias Bosenick (04.06.2020)

Vom Schrottplatz in die Elbphilharmonie, aber wenn man „Alles in Allem“ hört, stehen die Einstürzenden Neubauten zu ihrem 40. Geburtstag eher dazwischen: Zwar ist silence sexy, aber Lärm auch, und beides zusammen ergibt eine blueslose Schönheit mit Poesie und Humor. Den Aspekt des Berlin-Albums sollte man dabei nicht überbewerten, man darf auch ohne Hauptstadtbonus Gefallen daran finden. Das Ergebnis der vierten Supporter-Phase funktioniert in der überteuren Deluxe-Version mit Bonus-Album am besten – und da tritt leider auch einiges an Kommerzknirschen der Neubauten zutage.

Noch am ehesten das, was man sich unter den Neubauten klanglich vorstellt, erfüllt der Opener „Ten Grand Goldie“, der den perkussiven Schrottlärm der Anfangszeit aufgreift, inklusive dem vertrauten kehligen Schrei von Blixa Bargeld, und das Berlin-Feierstück latent tanzbar macht. Nicht ganz in der Form, wie es Gruftis von „Yü-Gung (Fütter mein Ego)“, „Feurio“ oder „Haus der Lüge“ aus den Clubs gewohnt sind (und vermutlich mehr von der Band auch gar nicht kennen), aber nah dran. Dabei war der Schrottplatz zunächst eine aus der Not geborene Option gewesen, mittellos als Band überhaupt etwas Schlagzeugartiges auf die Bühne schleppen zu können; daraus entstand schnell eine Identität, die den Sound auch nach 40 Jahren noch trägt.

Und das, obwohl die Neubauten im Grunde lediglich im ersten Viertel ihrer Existenz die Form von Lärm machten, die ihren Ruf begründete, und alsbald zusehends milder wurden, jedoch nicht kompromissbereiter, auch wenn Altfans ihnen das vorwerfen. Mild, oder: „Silence Is Sexy“, wie die Neubauten vor 20 Jahren ein Album nannten, wohl wissend, dass dieser Fakt bei ihnen schon längst galt, etwa 1993 mit „Wüste“ oder 1996 mit „Stella Maris“, das wiederum vielen als versuchte Antwort auf „Where The Wild Roses Grow“ galt, das Duett von Nick Cave und Kylie Minogue, an dem Bargeld als Gitarrist der Bad Seeds seinerzeit selbst beteiligt war. Und das auf „Alles in Allem“ in Gestalt von „Seven Screws“ mit seinen Streichern erneut anklingt.

Im Mittelteil von „Alles in Allem“ nun schwenkt die Band in diese Stille ein, wird introvertiert, poetisch, reflektiert, kreist trotz äußerer Bilder um ein schwer greifbares Inneres und nutzt die schwere Gerätschaft, um daraus schöne Musik zu erschaffen. Viele vertraute Samples treten dabei zutage, der alte Klingklang erklingt auch hier, selbst synthetisch wirkende Sounds sind generiert. Aus „Wedding“ wird dank dieser Sounds ein zwingendes Mantra, und die Neubauten wären nicht die Neubauten, durchbrächen sie ihre vermeintliche Stille nicht bisweilen, etwa in „Zivilisatorisches Missgeschick“, das mit einem dröhnenden Bohrer den Hörer malträtiert. Diebisches Gelächter von der Band muss man sich dazu selbst denken.

Dabei tritt der Anlass zum Lachen bei den Neubauten zuweilen recht offen zutage, Bargelds Texte tragen häufig einen unverhohlenen Humor inne, sich um Wortspiele drehend zumeist, wie etwa in der Zeile „um Himmels Willen keinen Gott“. Man denke exemplarisch auch an das „Geschoss“ im besagten „Haus der Lüge“ oder die Assoziationen rund um das Themenfeld „X“ auf dem ersten Supporter-Album. Da passt es nur gut, dass sich die Neubauten dieses Mal wie angeheiterte Ton Steine Scherben in den Zwanzigern im Walzertakt „Am Landwehrkanal“ verlustieren (der Einsatz von TSS-Gitarrist R.P.S. Lanrue fiel leider der Schere zum Opfer). „Wir hatten tausend Ideen, und alle waren gut“, behauptet der ohnehin schon immer nach Rio Reiser klingende Bargeld da, und man ist mehr als geneigt, ihm das zu glauben, dabei hat er, wie er später bemerkt, „die gebrauchten Metaphern“ sogar bereits „im Giftmüll entsorgt“.

Das Schunkeln greifen die Neubauten später im „Grazer Damm“ wieder auf, stoßen den intuitiv auf Fröhlichkeit geeichten Hörer aber mit einem Text über Suizid vor den Kopf. Da bilden Musik und Inhalt einen erschreckenden Kontrast, noch mehr sogar in der Version des Stückes auf der Bonus-CD, da ist es mit Streichern angereichert.

Diese Box indes stellt ein diskutierwürdiges Element im Supporter-Konzept der Neubauten dar. Schon von Anfang an verlockte die Band ihre Unterstützer mit Exklusivitäten dazu, ihr Geld in die Entstehung neuer Musik zu investieren, und stellte dem Rest der Welt viele dieser Exklusivitäten später ohnehin zur käuflichen Verfügung. „Grundstueck“ und „The Jewels“ gehören dazu, und auf „Alles in Allem“ ist es ähnlich: Die Unterstützer erhielten vorab die vier Vinylsingles „Zivilisation“, „Schlaf“, „Verführung“ und „Gelände“, deren Tracks sich sowohl auf dem Hauptalbum als auch auf der Bonus-CD teilweise wiederfinden. Gut für die Nichtsupporter, die für diese Box indes dennoch ordentlich zur Kasse gebeten werden, wenngleich der Erlös sich sehen lässt: zwei Schallplatten, zwei CDs, eine DVD mit Clips aus der Entstehung diverser Stücke sowie ein erläuterndes Büchlein bilden den Inhalt. Die jeweils identische zweite LP und CD sind exklusiv nur in der Box zu haben, was bedauerlich ist, weil die das Album schlüssig abrunden.

Zudem waren dieses Mal die Supporter-Bedingungen so undurchsichtig, dass sich der Rezensent erstmals nicht daran beteiligte. Auch bei den ersten drei Phasen gab es schon Anlass zum Unmut, nicht nur wegen der genannten doch nicht so exklusiven Köder: Mitten im Lauf stellte die Band plötzlich Bonusitems in Aussicht, für die es aber noch mehr zu zahlen galt. Beispielhaft sei hier die achtteilige „Musterhaus“-Reihe genannt, die dem Supporter 200 Euro abverlangte. Und die es tatsächlich ausnahmsweise noch nicht auf dem freien Markt gibt. Da geht noch was!

Die Neubauten fassen „Alles in Allem“ überdies als erstes Studioalbum seit „Alles wieder offen“ aus dem Jahr 2007 auf und zählen ihr 2014er „Lament“ nicht mit, weil es sich dabei um ein Auftragsalbum handelte. Für „Alles in Allem“ ergab sich überdies während seiner Entstehung ein Konzept, und zwar Berlin als grobes Grundthema; das ist natürlich sehr 1977, David Bowie legte seinerzeit mit einer nachträglich gedeuteten Berlin-Trilogie vor. Auch die Pet Shop Boys befassen sich auf ihrem jüngsten Album „Hotspot“ mit der Bundeshauptstadt; mit denen teilen sich die Neubauten zudem den Wortwitz um die englischsprachige Deutung des Stadtteilnamens Wedding. Berlin nun hat jedoch grundsätzlich etwas Erzwungenes. In Deutschland scheint es die Idee zu geben, dass Kunst und Kultur nur dann von Relevanz sein können, wenn sie aus der Hauptstadt stammen oder sich wenigstens in Bezug dazu stellen (wie die Chemnitzer Kraftclub mit „Ich will nicht nach Berlin“). Selbst für Musikpostillen scheint Deutschland ausschließlich aus dem Berghain zu bestehen, da ist es umso schöner, dass die Neubauten ganz andere Aspekte hervorholen, unhedonistische, etwa den Mord an Rosa Luxemburg. „Tempelhof“, überdies, ist kein Cover vom Caspar Brötzmann Massaker.

Man darf sich also von Berlin weder blenden noch abschrecken lassen: Musik, Texte, Vorgehensweise, Gesamtbild passen auf „Alles in Allem“ schlüssig zusammen, und wenn man dann auch noch die etwas banalen Zweitonmelodien von Bargeld einfach wegsteckt, anstatt sich darüber zu beklagen, hat man ein fabelhaftes, erwachsenes, schalkiges, ernstes Stück Kultur, gleichsam Sub- wie Hoch-.