Die Ärzte – They’ve Given Me Schrott (Die Outtakes) – And More Bears/Vertigo/Capitol 2019

Von Matthias Bosenick (27.05.2019)

Es erfordert einiges an Zeit (und Kapital), die „Seitenhirsch“-Box der Ärzte durchzuhören: Darin enthalten sind auf 33 CDs annähernd sämtliche Songs, die das wechselnd besetzte Trio in den vergangenen 35 Jahren aufnahm. Inklusive einiger unveröffentlichter Stücke, die nun als geldbeutelschonende Dreifach-CD separat vorliegen. Auch die hätte man sicherlich noch eindampfen oder um andere Nuggets ergänzen können, aber dieses Werk mit all seinen Demos und Raritäten verdeutlicht den kreativen Zündstoff der Band sowie dessen Abfall seit dem Jahrtausendwechsel nur zu deutlich. Und enthält einige Preziosen, die es bislang nur als Bootleg gab. Lohnenswert für Fans, dabei aber partiell verzichtbar.

Die meisten Songs hat und kennt man bereits in den entsprechenden EP-, Single- oder Album-Versionen, von „Der lustige Astronaut“, hier als niedliche Akustikgitarrenversion von Farin Urlaub noch vor Bandgründung 1978 aufgenommen, bis zu „Yoko Ono“ vom Album „Runter mit den Spendierhosen, Unsichtbarer“. Viel ausformulierter als die vorliegenden Demos waren die frühen Songs nicht, die hat man gebündelt auf der „Die Ärzte früher!“-Compilation; auch da drang der fröhliche Schalk der Lausbubenpunks noch ungefiltert durch. Mit dem Erfolg verlagerten Die Ärzte aber den Schalk auf die radiotauglichere Produktion und vernachlässigten dabei den subtilen Witz zugunsten der besseren Vermarktbarkeit. Um es mit einem Ärzte-Songtitel zu fragen: „Ist das noch Punkrock?“

War es eigentlich nie, dafür können Die Ärzte musikalisch einfach viel zu viel, Psychobilly, Industrial, Goth, Synthiepop, Deutschrock, Schlager, was nicht alles. Nur in der Haltung, in der eine gepflegte Satire mit einer teilweise bewusst gesetzten Provokation sowie einer gehörigen Melange aus Selbstironie, Intellekt und Albernheit ein Alleinstellungsmerkmal bildeten. Das zeichnen die Demos und Raritäten der ersten beiden von drei CDs anschaulich nach, und als Fan kann man sie beinahe alle mitsingen. Dabei freut man sich, dass auch unveröffentlichte Songs wie beispielsweise „Eva Braun“ endlich aus dem Legendenstatus in die Realität übergehen. Ebenso erfreulich ist, dass man nun das wunderschöne Achtzigerpopstück „Bingo Lady 2.0“ ohne Krampf hören kann: Als „Lady“ stand es dem Album „13“ als Hidden-Track vor dem ersten Song voran; man konnte es nur hören, indem man die CD vor Track 1 rückwärts spulte, und dann maximal auf Kassette aufnehmen, um es ohne Fingerschmerzen genießen zu können. Auch gibt es die „Monsterparty“ erstmals als Studioversion zu hören, die seinerzeit bei dem „Unplugged“-Konzert die erste Aufführung erfuhr.

Perlencharakter tragen frühe Versionen bekannter Hits, darunter „Helgoland“, das später als „Westerland“ in die Charts und die Partysetlists aufstieg. Interessanterweise coverten Die Ärzte schon früh „Nur geträumt“, die erste Single von Nena. Eingestreute uralte Interviews und Hörspiele sind zwar lustig, unterbrechen aber den Hörfluss der Sammlung. Das im Giftschrank verborgene „Englische Album“ setzt dann den Bruch zu den Nullerjahren und den Schlagerhits sowie den unglaubwürdigen Teenieproblemsongs von Übervierzigjährigen. Die Bigbeat-Numetal-Skizze „Bang Bang“ stellt da musikalisch die größte Überraschung dar, auf ein Album schaffte es das fette Instrumental nie.

Interessanter als manche der Beiträge wäre eigentlich eine B-Seiten- und Samplerbeitrags-Compilation gewesen, aber vielleicht kommt die ja noch. Die Songs rund um Gabi und Uwe aus den „Moskito“-Soundtracks etwa wünschte man sich geballt, außerdem eine Fortsetzung der „Bäst Of“-Bonus-CD. Auch auf „Ist das alles?“ und „Das Beste von kurz nach früher bis jetzte“ fanden sich bereits diverse großartige Maxiversionen und Auszüge aus dem Raritätenkatalog. Auf dem „Seitenhirsch“ gibt es also noch ausreichend Material, das zwar bereits veröffentlicht ist, aber auf obskuren Samplern („Pesthauch des Dschungels“, „Sleep? Berlin 84“) oder eben B-Seiten, und die den Erwerb trotz der Kritikpunkte (teils in falscher Geschwindigkeit enthaltene Songs, nicht alle Varianten etwa von „Männer sind Schweine“ dabei) noch erforderlich machen. Letztlich bleiben diverse Ohrwürmer hängen – „Füße vom Tisch“ etwa, vom Seitenprojekt Die ulkigen Pulkigen, das es aber auch schon auf der Wiederveröffentlichung des Debüts „Debil“ als nicht mehr indiziertes „Devil“ gab, also alles andere als unveröffentlicht ist.

Hübsch ist überdies das Cover, das die Schlange des selbstbetitelten Albums von Metallica als Scheißehaufen nachstellt und dem ungeliebten Stilwechsel in deren Discografie ein Denkmal setzt. Schade nur, dass Die Ärzte selbst eine vergleichbare Entwicklung durchmachten. Aber der Humor ist immerhin geblieben.