Von Onkel Rosebud
Meine Freundin übt sich sehr in Achtsamkeit und vergisst sich selten. Wenn sie mal aus der Haut fährt, dann im Straßenverkehr. Ihrer Meinung nach bleibt so ziemlich jeder Verkehrsteilnehmer unter seinen intellektuellen und motorischen Möglichkeiten. In der ein oder anderen Situationen führte das zum Einsatz der wilden Hupe und des gestreckten Mittelfingers. Einmal hat sie sogar einen Saft-Tetrapack nach einem anderen Autofahrer geschmissen (Hashtag „Ausparken“ und „Vorfahrt“). Das wird sie künftig nicht mehr machen, weil sie die sehr unterhaltsame, düstere und zugleich kluge Serie „Beef“ gesehen hat. Sie weiß jetzt, wohin selbst der kürzeste Moment des Kontrollverlustes im Fahrzeug führen kann: nämlich in die Katastrophe.
Der Serien-Knaller „Beef“ ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Der Cast ist fast ausnahmslos mit asiatischen Figuren besetzt. Die vor schwarzem Humor nahezu strotzende Serie schafft es, die Menschlichkeit ihrer Charaktere in den Vordergrund zu stellen. Man bekommt die rohe Darstellung echter menschlicher Emotionen bis zur letzten Nebenfigur. Die verzweifelte Angst, nicht zu genügen, gepaart mit eiserner Entschlossenheit, sein jeweiliges Ding durchzuziehen, ist beklemmend inszeniert. Und darum geht es eigentlich, um den ungeheuren Druck, unter dem wir alle in einer Gesellschaft stehen, die ständigen Erfolg verlangt, in der man sich andauernd mit den Errungenschaften anderer messen und die Beleidigungen und kleinlichen Ansprüche derselben ertragen muss.
Die zehn Folgen zu je 30 Minuten stammen von Showrunner Lee Sung Jin, wurden produziert vom Indie-Studio A24 (von den Machern von „Everything Everywhere All At Once“) und kamera-gedreht von Larkin Seiple. Wem diese Marken nichts sagen, bitte mal im Internet richtigrum abbiegen.
Dass diese temporeiche Erzählung so mühelos gelingt, ist vor allem Schauspielern zu verdanken. Als Steven Yeun als Charakter Glenn Rhee Anfang der siebten Staffel von „The Walking Dead“ im Jahr 2016 dem Serientod erlag, machte ich auch gleich Schluss mit dem Format, weil er mir so ans Herz gewachsen war. In „Beef“ spielt er Danny Cho, einen erfolglosen Bauunternehmer am unteren Ende der sozialen Leiter, der sich mit Amy Lau (Ali Wong) anlegt, einer Selfmade-Unternehmerin. Ihre Streitigkeiten laufen schnell aus dem Ruder, was nicht nur ihre eigenen Leben, sondern auch die ihrer Mitmenschen, gefährdet und total auf den Kopf stellt. Ali Wongs Amy ist mit George (Joseph Lee als blasierter Gutmensch), dem Sohn einer angesehenen Künstlerfamilie, verheiratet und verkehrt in den oberen kulturellen Sphären von Los Angeles. Sie bemüht sich verzweifelt, nicht nur die entspannte Nonchalance ihres Gatten zu spiegeln, sondern auch den unerfüllbaren Ansprüchen ihrer Schwiegermutter Fumi (Patti Yasutake) gerecht zu werden. Amy hat sich ein cooles Unternehmen aufgebaut, das sie an eine manipulative Milliardärin Jordan (Maria Bello) zu verkaufen hofft, um ihrer kleinen Tochter June (Remy Holt) eine bessere Mutter zu sein. Im Team Danny spielen verkorksten Protagonisten wie sein Bruder Paul (Young Mazino), der mit Kundinnen schäkert, anstatt zu arbeiten. Und das Geld, das sich Danny von seinem kriminellen Cousin Issac (David Choe als gefährlicher Berserker) leiht, versandet in einem Bitcoin-Crash.
Bemerkenswert ist auch, dass sich Folge 8 Zeit nimmt, die psychologischen Ursachen unserer beiden Haupt-Protagonisten in der Kindheit auszuarbeiten. Dass es am Ende noch ein komisches und poetisches Ende gibt, ist ein kleines Wunder – jedenfalls für Netflix-Verhältnisse.
Onkel Rosebud
P.S.: Warum sind die meisten Asiaten laktoseintolerant? In einem halluzinatorischen Moment ergibt das in der Serie aus Sicht von Danny keinen Sinn, weil das milchproduzierende „Beef“ ein Grundnahrungsmittel in Asien ist. Wir weltgewandten und aufmerksamen Lesefröschlein wissen natürlich, dass unseren liebenswerten, asiatischen Mitmenschen genetisch bedingt das Enzym Lactase fehlt, um den Milchzucker in seine verdaulichen Substanzen zu spalten. Oder habt ihr neue Erkenntnisse?